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März 2002
Künstliche Nähe
von Andreas Schröter



Ich liebe die Kälte.
Die Zeiten, in denen die Menschen sich mindestens zwei Hirschfelle überwerfen müssen, ihnen aber dennoch ein leichtes Frösteln über Arme und Rücken kriecht, sind mir tausendmal lieber als jeder Sonnentag. Erst wenn der erste Schnee unser wunderbares Thun bedeckt, weiß ich, dass letztlich alles gut geworden ist. Dann zünde ich stets eine Kerze an, falle auf die Knie und danke unserem Gott Ukur.
Vielleicht werden Sie das nicht verstehen, sofern sie der jüngeren Generation angehören. Ich jedoch bin einer der wenigen, die alt genug sind, sich noch an die fünf grauenhaften Jahre des Schreckens zu erinnern. Nur wenn ich friere, ist jene Erinnerung nicht so allgegenwärtig wie sonst und ich kann endlich einmal ruhig schlafen...

...alles begann an dem Tag, an dem sich der Himmel verdunkelte – hervorgerufen durch ein schwarzes Etwas, das aus den Wolken fiel und bei seiner Landung den Boden von Thun erzittern ließ.
Wir konnten uns keinen Reim darauf machen. Es sprengte alles, was wir jemals gesehen hatten. Woher kam dieses Ding? Was war es? Und wie konnte es aus den Wolken fallen, da es doch dort nichts anderes gab als die reine Luft?
Während wir noch ehrfürchtig staunten, kam Bewegung in den schwarzen Koloss. Ein Stück seiner Außenhaut klappte einfach weg, und heraus traten die hässlichsten Biester, die ich je gesehen hatte. Das konnte ich sogar erkennen, obwohl sie mit einer Art künstlichem Hirschfell fast am ganzen Körper dick vermummt waren. Und das im Sommer. Sie hatten untertellergroße Schuppen im Gesicht, und ihr Mund war eine lang hervorstehende Schnauze. Die fast schwarzen, kleinen und tiefliegenden Augen blickten böse und gewaltbereit. Jeder von ihnen – und es waren mindestens 500 – trug schweres Kampfgerät mit sich herum: Messer, Peitschen, Lanzen, Schwerter, Morgensterne und vieles mehr.
Das größte und hässlichste dieser Biester kam direkt auf mich zu und blieb nur eine Handbreit vor meinem Gesicht stehen. Ein fauliger Gestank schlug mir derart penetrant entgegen, dass ich mich fast übergeben hätte. Niemand vom Volke der Thuner sagte etwas, und auch die Neuankömmlinge gaben keinen Laut von sich. Aber eine intensive Aura der Feindseligkeit ging von ihnen aus.
Nachdem wir einige Minuten schweigend voreinander gestanden hatten, nahm ich erneut etwas an der zurückgeklappten Außenhaut des schwarzen Kollosses wahr. Eines jener Biester zerrte einen großen Käfig heraus und stellte ihn neben das Monster, das sich vor mich gestellt hatte. Ich erschrak zutiefst, als ich sah, was sich in dem Käfig befand. Ein Mensch vom Volke der Thaner, der bis auf die Knochen abgemagert war. Zutiefst verängstigt hockte er zusammengekauert in dem viel zu engen Käfig. Die Thaner waren unser Brudervolk, das in einem anderen Teil des Reiches lebte. Lieber Gott Ukur, dachte ich, was sind das für Bestien, die Menschen so etwas antun können? Und was werden sie mit uns machen? Ich spürte, wie mir beim Gedanken daran die Knie zu zittern begannen.
Dieses Etwas, das der Anführer dieser Horde zu sein schien, gab nun ein tiefes und bedrohlich klingendes Grollen in Richtung Käfig von sich. Sofort zuckte das armselige Menschlein darin zusammen und versuchte sich noch kleiner zu machen als es ohnehin schon war. Der Schuppenmann zog eines seiner vielen Schwerter und stach damit anscheinend völlig willkürlich in den Käfig. Nur wenige Millimeter vor dem Hals des Gefangenen hielt er inne. „Ja, ja“, schrie dieser voller Panik mit brüchiger Stimme, „ich übersetze.“
Das schuppige Biest steckte das Schwert zurück in die Scheide, zog von irgendwo aus seinem künstlichen Fell ein Pergament und rollte es auseinander. Danach ließ er wieder dieses Grollen vernehmen, das offenbar die Sprache dieser Bestien war. Jedenfalls sagte das Häufchen Elend im Käfig währenddessen folgendes:
„Wir sind vom Volk der Okonder vom Geschlecht der Echsen. Auf unserer Suche nach besiedlungsfähigen Gebieten sind wir auf diese Welt gestoßen. Ihr seid fortan unsere Sklaven. Wer dies ablehnt, wird getötet. Da es uns hier jedoch erheblich zu kalt ist, werden wir Vorkehrungen treffen, eine Atmosphäre zu schaffen, die uns besser gefällt.“

Was das bedeutete, wussten wir erst Monate später. Die Echsen hatten mitten auf dem Marktplatz unserer Hauptstadt eine Vorrichtung im Boden verankert, die offenbar lediglich dazu diente, das Ende eines gigantischen Seils zu halten. Das andere Ende sahen wir nicht. Das Seil – noch schlaff und locker hängend - führte steil nach oben in den Himmel in Richtung Sonne und wurde schließlich so klein, dass man es mit bloßem Auge nicht mehr erkennen konnte. Dann setzten die Okondor-Echsen eine Winde in Bewegung, die ein fürchterliches Knirschen von sich gab. Noch heute schrecke ich oft im Schlaf hoch, weil ich glaube, wieder dieses Knirschen zu vernehmen. Die Winde zog das Seil, das sich langsam straffte, ein und rollte es auf. Ihr Geräusch sollte uns fast fünf Jahre begleiten.
In dieser Zeit änderte sich für uns vieles. Erstens nahmen die Echsen uns unsere Häuser und unser gesamtes Hab und Gut. Wir mussten nicht nur in irgendwelchen Höhlen nächtigen, sondern den neuen Machthabern während der restlichen Zeit zu Diensten sein. Wer auch nur einen Hauch von Unwillen darüber erkennen ließ, wurde geköpft. Neben dem Knirschen der Winde habe ich auch das hässliche Geräusch von fallenden Köpfen im Ohr. Ich werde es ebenfalls nie vergessen.
Zweitens wurde es wärmer...
... und wärmer
... und wärmer auf Thun. Es wurde nach und nach so heiß, dass sich die Menschen kaum noch bewegen konnten. Jeder unternahm nur noch das Nötigste. Jede Anstrengung wurde uns zu viel. Und immer hatten wir das Knirschen der Winde im Ohr. Fast hatte ich den Eindruck, dass die Temperaturen mit jeder Drehung höher wurden. Aber das konnte schließlich nicht sein.
Am meisten wunderte mich, dass es keine Nacht mehr gab. Die Sonne stand immer am Zenit in einer genauen Verlängerung des Seils. 24 Stunden lang. Wie konnte das sein?

Die Echsen hielten uns wie Tiere. 16 Stunden am Tag mussten wir für sie schuften. Die meisten von uns arbeiteten im sogenannten „Wasserwerk“, das dazu diente, künstliche Schauer, Nieselregen und Nebel zu erzeugen. Denn die Eindringlinge wollten es nicht nur heiß, sondern auch feucht.

Aber am schlimmsten waren die wöchentlichen Appelle auf dem Markplatz in unserer Hauptstadt, bei dem wir Rechenschaft über unsere Arbeit geben mussten. Wir lagen in dem beinahe kochenden Schlamm und robbten uns immer näher an die grausamen Echsen heran, die irgendwo an einer Art Stand auf uns warteten. Das konnte Stunden dauern.
So auch am 1480. Tag der Belagerung. Doch diesmal war etwas anders. Ich hörte neben dem Knirschen der Winde noch ein anderes Geräusch:
„Psst“
Ich zuckte zusammen. Kaum wagte ich den Kopf zu meinem Nachbarn zu drehen. War er wahnsinnig? Ein Gespräch beim Appell konnte uns beiden den Kopf kosten.
„Sei ruhig“, zischelte ich. Es war Wakaui, dieser Verrückte.
„Ich habe etwas herausgefunden.“
Ich schwieg – in der Hoffnung, er würde verstummen. Wie konnte er es wagen, während des Appels zu reden.
„Über das Seil. Es ...“ Er verstummte, weil eine der Echsen am Stand in unsere Richtung blickte. Erst nach etwa fünf Minuten fuhr er fort. „Es verbindet die Sonne mit dem gesamten Planeten und zieht beide näher zueinander. Deswegen wird es immer heißer. Und deswegen gibt es keine Nacht mehr. Der Planet kann sich nicht mehr drehen. Du musst...“ In diesem Moment trennte ein Schwerthieb aus Echsenhand den Kopf Wakauis von seinem Körper. Während mir sein Blut ins Gesicht spritzte, grollte der Mörder: „Hier wird nicht geredet.“ Für einen Moment hatte ich panische Angst, er würde auch mich angreifen. Aber ein weiterer Zwischenfall einige Meter vor mir lenkte ihn ab.
Es dauerte mehrere Stunden, bis ich mich gefasst hatte. Konnte es wirklich sein, dass das Seil...? Aus welchem Material musste es bestehen, wenn es solchen Belastungen und auch der Hitze auf der Sonne standhalten konnte? Was hatte Wakaui außerdem sagen wollen? „Du musst...“ hatte er seinen Satz begonnen. Wakaui war ein Spinner. Das wusste jeder. Er hatte immer vom verbotenen Wald phantasiert, wo seiner Ansicht nach der letzte überlebende Drache hausen sollte und wo es auch das Schwert Exmacabur geben sollte, das in der Lage war, durch weiße Magie jedes Material zu zerteilen. Ammenmärchen. Jeder wusste doch, dass der Wald nur deshalb verboten war, weil es dort Tiger und gefährliche Bären gab. Und dennoch: Wakaui hatte Zweifel in mir gesät.

Die Grenze des verbotenen Waldes war ein Bachlauf, den meines Wissens noch niemals jemand unseres Volkes überquert hatte. Als ich mit einem Satz auf die andere Seite sprang, spürte ich nicht nur eine wohl allzu verständliche Angst. Ich spürte auch so etwas wie Freiheit. Sollten mich die Tiger und Bären doch töten. Was konnte schlimmer sein, als noch Jahrzehnte bis zu meinem Tod in Sklaverei zu leben.
Die Echsen selbst schienen ebenfalls eine Art Ehrfurcht vor dem Wald zu haben. Wie anders war es zu erklären, dass sie mir die Erlaubnis gaben, das Gebiet ohne jegliches Geleit zu erkunden? Schon bald war ich von dicht stehenden Bäumen umfangen. Von wilden Tieren jedoch gab es keinerlei Spuren. Es war schwierig vorwärts zu kommen. Ich spürte schon allzu bald, wie sich die Müdigkeit meines Körpers bemächtigte. Die Hitze war – wie immer – mörderisch, und durch das Unterholz des Waldes gab es keinerlei Wege. Wenn es hier Tiere gab, dann hätten sie schon fliegen müssen. Von einem magischen Schwert oder gar dem letzten überlebenden Drachen war schon gar nichts zu sehen.
Ich wollte bereits enttäuscht den Rückweg antreten, als ich einen helleren Fleck zwischen den Bäumen ausmachte. Konnte das eine Lichtung sein? Es dauerte noch fast eine Stunde, bis ich die Stelle erreicht hatte - so unwegsam war hier das Gelände.
Doch was ich dann sah, entschädigte mich für alle Anstrengungen. Mitten auf der Lichtung - es war tatsächlich eine – befand sich ein etwa zwei Meter hoher, grauer Stein. Das allein hätte mich noch nicht besonders überrascht. Doch dass darauf ein Wesen kauerte, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte, ließ mich für einen Moment das Atmen vergessen. Es hatte grünliche Haut, war mindestens vier Meter groß und schien auf seinem Rücken etwas zusammengefaltet zu haben. Flügel? Der Drache – und nur das konnte es sein – blickte ruhig in meine Richtung. Aus seinen Nasenlöchern quoll Rauch und zwischen seinen Lefzen waren lange Zahnreihen zu sehen. Hätte nicht der mächtige Schwanz langsam und schlangenförmig über den Boden gestrichen, hätte das Wesen dort auf dem Stein auch versteinert sein können.
Ich bibberte vor Angst. Der Drache hatte mich gesehen. Ich bezweifelte stark, dass ich schnell genug sein würde, um ihm zu entkommen. Wie um dies zu bestätigen, stieß er ein bedrohliches Fauchen aus. Der anschließende Feuerstoß aus seinem Maul verbrannte eine Krüppelkiefer, die nur drei Meter von mir gestanden hatte. Als ich den linken Fuß im Zeitlupentempo zurück setzte, kam Bewegung in die riesenhafte Gestalt. Der Drache spreizte seine gewaltigen Flügel und sprang mit einem Satz vom Stein auf die Erde. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Nun war es vorbei mit mir.
Doch dann passierte Seltsames. Der Drache kam nicht auf mich zu, sondern bewegte sich rückwärts auf den Waldrand zu. Bevor er gänzlich verschwand, hatte ich für einen Moment lang das Gefühl, er nicke mir zu. Wenig später war ich allein auf der Lichtung. Ich konnte es nicht glauben und meine immer noch zitternden Knie offenbar ebenfalls nicht.
Ein Glitzern auf dem Stein, auf dem eben noch der Drache gesessen hatte, lenkte mich ab. Nur zögernd traute ich mich, einige Schritte näher zu treten. Was konnte das sein?
Die Antwort erhielt ich, als ich vor dem Stein stand. Es war der Knauf eines Schwertes, das offenbar tief in dem Felsen steckte.
Exmacabur.
Wakaui hatte nicht gelogen. Es gab diesen Drachen und es gab dieses Schwert. Der vermeintliche Dorftrottel war für dieses Wissen immer und immer wieder verlacht worden – auch von mir und auch in der Zeit, als die Echsen noch nicht da waren. Am liebsten hätte ich geweint.
Aber für ein paar Tränen hätte Wakaui nicht sterben müssen. Wenn sein Tod auch nur den Hauch von Sinn hatte, so musste ich nun handeln, statt mich aufzuführen wie eine Memme. Ich griff nach dem Schwert und zog es aus dem Stein, als bestünde er aus Butter. Die scharf geschliffene Klinge reflektierte die Sonnenstrahlen, was dem Metall einen fast überirdischen Glanz verlieh. Ein Gefühl der Stärke durchflutete mich.
Bevor ich mich auf dem Heimweg machte, grüßte ich mit der Klinge Richtung Waldrand – der letzte überlebende Drache hatte mir das Schwert Exmacabur überlassen. Mir war, als höre ich zur Antwort ein Fauchen, das in meinen Ohren gar nicht mehr bedrohlich klang.
Ich verstaute das Schwert so unter meinen Kleidern, dass es niemand bemerken konnte und verließ die Lichtung.

Ich wartete den nächsten Appell ab, weil ich nur dabei unbemerkt und möglichst nah an die Winde mit dem Seil kam. Ich kam an die Reihe und die diensthabende Echse sagte – mittels Übersetzer: „Und, du Elender, was hast du im abgelaufenen Monat getan, das dein Überleben rechtfertigen könnte?“
Ich stand auf – was unüblich war – und sagte laut und deutlich: „Ich habe im abgelaufenen Monat nicht nur für mein persönliches Überleben gesorgt, sondern auch für das Überleben meines ganzen Volkes. Leider ist dies auf Dauer nur möglich, wenn ihr elenden Mistviecher von hier verschwindet.“
Die Echsen saßen starr vor Schreck. Ich nutzte den Augenblick, zog mein Schwert und durchtrennte das Seil zur Sonne mit einem einzigen wuchtigen Hieb.
Was darauf geschah, lässt sich nur schwer beschreiben. Ein fürchterlicher Ruck ging durch das ganze Land, der Echsen und Menschen kopfüber durcheinander purzeln ließ. Der Planet wurde nicht mehr in seiner erzwungenen Nähe zur Sonne gehalten und machte sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit auf den Weg in seine alte Umlaufbahn.
Es wurde kälter...
.. und kälter
...kälter.
Die Echsen waren auf diesen Temperaturschock nicht vorbereitet und sie fanden auch keinerlei Zeit, sich ihre künstlichen Hirschfelle zu holen. Mit jeder Minute, die der Planet weiter von der Sonne wegdriftete, wurden sie träger. Die meisten von ihnen starben noch in derselben Stunde. Mit denjenigen, die eine Art Gegenwehr versuchten, hatten wir leichtes Spiel. Bereits nach drei Tagen herrschte in Thun wieder die alte Temperatur und alle Echsen waren tot.

Ich liebe die Kälte.

© Andreas Schröter 2002

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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