Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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März 2002
Gleich kracht es
von Ingeborg Restat



Übermüdet, automatisch bremsend, schaltend, lenkend, Gas gebend, fuhr sie einer schmalen, kurvenreichen Straße durch den Wald folgend heimwärts. Sie kam von einer anstrengenden Verhandlung mit einem schwierigen Kunden ihrer kleinen Lederwarenfabrik. Hier im Wald, zwischen den links und rechts der Straße dicht beieinander stehenden hohen Bäumen, war es schon viel dunkler als vorher zwischen Wiesen und Feldern. Sie machte die Scheinwerfer an. Das Licht tastete sich vor dem Auto auf dem Asphalt voran. Hier und da leuchtete es dabei am Straßenrand auf, als sähen Tieraugen aus den niedrigen Büschen heraus. Vielleicht waren es aber auch nur funkelnde Steine oder Scherben.
Sie fuhr diese bergige, sich endlos dahinziehende Straße nicht gerne allein. Früher, als Harald, ihr Mann, noch lebte und am Lenkrad saß, da war sie sogar gerne mit ihm hier in der Dämmerung entlanggefahren. Wenn sie sich doch noch an ihn lehnen könnte. Warum nur war das alles schon vorbei? Selten hatte sie sich so verlassen gefühlt wie an diesem Tag. Eine unbändige Sehnsucht überfiel sie und trieb ihr Tränen in die Augen. Hatte sie nicht schon längst genug um ihn geweint? Ach, könnte er sie noch ein einziges Mal wie früher in die Arme nehmen und sagen: „Komm, sorg’ dich nicht, du hast doch mich.“
Sehnsuchtsvoll dachte sie an ihn. Am liebsten hätte sie dabei ihren Kopf auf das Lenkrad gelegt. Aber sie musste aufpassen, so müde sie auch war. Sie wischte sich die Augen klar, neigte sich leicht vor und starrte konzentriert auf die Straße. Links herum, rechts herum, bremsen, kuppeln, Gas geben. Bald war sie zu Hause, gleich hinter dem Wald.
Was war das? – Ein donnerndes Geräusch, ein Krachen, es schallte von den Bergeshöhen wider. Ein Gewitter? Sie sah zwischen den Bäumen zum Himmel hoch. Nein, keine Wolke war zu sehen. Vielleicht hinter ihr oder vor ihr? Sie war kurz vor einer Kurve. Wer weiß, was das war? Es wurde Zeit, dass sie nach Hause kam. Die Kinder warteten bestimmt schon. Sie bremste nicht mehr, als sie musste, und bog in die Kurve ein. – O Gott! Was war das? Baumstämme lagen kreuz und quer und versperrten die schmale Fahrbahn. Blitzartig erinnerte sie sich, ein Warnschild gesehen zu haben, das vor Baumfällerarbeiten warnte. Sie sah noch einen Mann mit einer roten Fahne in der Hand den Hang heruntergerannt kommen. Hatten sich da am Hang schon zum Abtransport aufgestapelte Baumstämme selbstständig gemacht und waren heruntergedonnert? Dann stand sie auf der Bremse - Sekunden wurden zur Ewigkeit – Sie hörte das Kreischen des abgebremsten Wagens – er drohte zu schleudern – Sie klammerte sich am Lenkrad fest – sie starrte gebannt auf die Baumstämme – sie kamen näher und näher – Steh, Auto, steh! – der Bremsweg reichte nicht! – Entsetzen packte sie. „Nein!“ schrie sie. ‚Harald, hilf! Die Kinder! Es kann doch nicht sein!’ Das waren noch ihre letzten Gedanken, dann nur noch: ‚Gleich kracht es; gleich ist es vorbei.’ Sie nahm die Hände vom Lenkrad, die Arme vors Gesicht, den Fuß von der Bremse und krümmte sich zusammen. Sie dachte nichts mehr, gelähmt, zu keiner Bewegung mehr fähig wartete sie auf den Zusammenprall.
Aber den gab es nicht. Sie fühlte sich sanft in die Luft gehoben. ‚War’s das, bin ich nun tot? Ist sterben so einfach, ohne jeden Schmerz?’, fragte sie sich und nahm die Arme vom Gesicht. Aber sie saß noch im Auto. Panik empfand sie nicht, im Gegenteil, sonderbar ruhig war ihr zumute. Sanft glitt sie mit dem Auto dahin, wie auf Wolken.
Sie neigte sich zur Seite, sah aus dem Fenster, sah den Mann, der am Hang stehen geblieben war und mit offenem Mund zu ihr hochschaute. Ja, sie war hoch über den Baumstämmen. Sie beugte sich vor und sah hinunter. Tatsächlich, eine breite graue Wolke lag unter ihrem Auto und trug es ganz langsam, als wäre Zeit kein Begriff mehr, sicher über die Baumstämme hinweg. Darunter lagen die dicken Baumstämme wie große Streichhölzer über die Straße verstreut und versperrten jedem Fahrzeug den Weg. Sie wusste, das war unheimlich, aber sie fürchtete sich nicht.
Als sie die Baumstämme hinter sich hatte, glitt sie mit dem Auto wieder genauso sanft hinunter und setzte auf der Straße auf. Und nun? Der Motor lief noch, der Gang war noch eingekuppelt, der Wagen rollte von allein vorwärts. Nun saß sie doch zunächst wie erstarrt, traute sich nicht, nach dem Lenkrad zu greifen und Gas zu geben. Plötzlich erfasste sie Panik. Sie griff schon nach der Tür, wollte sie öffnen, sich herausfallen lassen, da glitt die graue Wolke hoch, zum geschlossenen Fenster herein und breitete sich um sie und über den Beifahrersitz. Sie wollte schreien, aber je mehr die graue Wolke sie einhüllte, umso ruhiger wurde sie wieder. So wohl hatte sie sich lange nicht mehr gefühlt. Sie genoss dieses Gefühl der Geborgenheit, das sie überkam. Sie sah, wie das Lenkrad bewegt wurde; sie spürte, wie Gas gegeben, gebremst und geschaltet wurde. Das Auto fuhr ohne ihr Zutun weiter die Straße entlang durch den Wald. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen, am liebsten würde sie immer in diesem wohligen Gefühl verharren, nie mehr in die Wirklichkeit zurückkehren. Doch als würde sie aus einem Traum erwachen, schreckte sie hoch: Wenn das hier keine Wirklichkeit war, was war es dann?
Am Ende des Waldes, von wo aus die Straße weiter durch Wiesen und Feldern führte, wurde das Auto auf einen Parkplatz gelenkt. Schon konnte sie in der Ferne den Ort sehen, wo sie zu Hause war. ‚Mit dem Leben davongekommen’, dachte sie. Aber warum? Eigentlich hatte es doch keinen Ausweg mehr gegeben. Die graue Wolke um sie herum wurde kleiner und zog sich zurück auf den Beifahrersitz. Wieder frei, fröstelte Ellen. ‚Ich müsste tot sein, aber ich bin es nicht. Ich sehe alles um mich herum; was ich anfasse, spüre ich auch.’ Bei diesem Gedanken blickte sie scheu zur Seite. Sie sah die graue Wolke neben sich; es war kein Traum. Sollte sie hinübergreifen und versuchen, sie zu berühren? Aber noch während sie das dachte, nahm die Wolke menschliche Konturen an.
Ungläubig sah Ellen zu. „Harald? Harald, bist du das?“
Die Wolkengestalt nickte.
„Aber, du bist doch ..., wieso ...?“
Sie sah, dass er zu ihr sprach, sie hörte keinen Laut, und doch verstand sie jedes Wort, das er in ihre Gedanken hinein sagte: „Du hast mich gerufen, weißt du es nicht mehr?“
„Ja, als ich glaubte, ich müsste sterben“, antwortete sie ihm mit ihren Gedanken.
„Fast wärst du zu mir gekommen. Aber du hast Recht, die Kinder sollen nicht allein bleiben.“
„Hast du mich über die Baumstämme hinweggleiten lassen?“
„Ich habe dich hinübergetragen.“
„Wie konntest du so schnell kommen? Es ging doch um Sekunden.“
„Ich bin immer bei dir, auch wenn du mich nicht sehen kannst.“
„Auch bei der Verhandlung mit dem Kunden?“
„Auch da habe ich dir geholfen. Eigentlich solltest du es manchmal spüren, dass ich bei dir bin.“
„Wenn du es jetzt sagst, ich glaube, ja, aber es erschien mir immer so unwahrscheinlich.“
„Es sind viel mehr Dinge wahrscheinlich, als sich ein Mensch denken kann.“ Das waren die letzten Worte von ihm in ihre Gedanken hinein.
Sie wollte noch rufen: „Bleib doch!“, da verloren sich die Konturen von Harald wieder zu einer grauen Wolke, die dann schnell in nichts verschwand.
Ellen griff mit der Hand zum Beifahrersitz, strich darüber, aber da war nichts mehr. Sie weinte, jetzt weinte sie. Der ganze erlittene Schock über das, was mit ihr beinahe geschehen wäre, erfasste sie nun, aber zugleich ein wohltuendes Gefühl, behütet zu sein.
Sie startete das Auto, nahm wieder das Lenkrad in die Hand, gab Gas und fuhr heim zu ihren Kindern, denen sie irgendwann im Leben einmal erzählen wird, was ihr heute widerfahren war.

ENDE
© Ingeborg Restat

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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