Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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März 2002
Wenn die Götter weinen
von Judith Gröger



„Meinst du, er wird es tun?“
„Ich hoffe es innigst.“
„Gibt es sie denn noch für uns, die Hoffnung?“

Jarjon betrat den Tempel mit einem Gefühl von Abscheu. Ja, er hatte auch Angst, aber die Abscheu überwog. Die Priester führten hier ihre Rituale durch - roh, gewalttätig, blutig. Hätten ihn nicht die fünf Männer umringt, die ihn vor zwei Stunden abgeholt hatten, wäre er schon längst geflohen. Sie trugen ihre gezackten Messer offen in den Gürteln, die die roten Anzüge in der Taille zusammenhielten. Ab und zu grinste ihn einer der Priester an, legte die Hand an den beinernen Griff seiner Waffe und zeigte seine rot gefärbten Zähne.

Drinnen war es voll von Menschen. Bauern, Arbeiter, Mütter, Kinder, Alte. Sie traten zur Seite, bildeten ein Gasse. Sie war gerade breit genug, daß seine Garde hindurchgehen konnte, ohne mit den Menschen in Berührung zu kommen. Ein Raunen ging durch die Menge, Füße scharrten, irgendwo schrie ein Kind. Rußende Fackeln hingen an den Säulen. Sie erleuchteten die große Halle nur schwach. Silberne und goldene Gefäße hingen von der Decke, aus denen dicker Weihrauch quoll. Er konnte nur schwer den Gestank nach Blut, Schweiß und Exkrementen überlagern.

Aus dem Halbdunkel hinter den Säulen blickten die Götter hervor. Es waren mächtige Statuen, schöne Gestalten, aus schwarzem Stein gehauen. Lächelnd, erhaben, gütig schauten sie auf das Treiben herab, täuschten Anteilnahme, Wärme und Zuneigung vor. Doch im Innern waren sie kalt und grausam. Unnahbare Kreaturen, die ihre Macht allein dazu nutzten, mit den Menschen ihr widerwärtiges Spiel zu treiben.

Jarjon haßte sie. Er haßte sie so sehr, daß es ihm Schmerzen bereitete. Es drückte ihm die Kehle zu, und er hatte das Gefühl, in der stinkenden Luft ersticken zu müssen. Er legte seine Hand auf sein Herz und betastete die Kette, die er unter dem Hemd trug. Sofort spürte er Erleichterung und stieß gleich darauf ein höhnisches Lachen hervor: Die Tränen der Götter, so hatte seine Großmutter die durchsichtigen, goldgelben Steine um seinen Hals immer genannt. Und dennoch liebte er die Kette über alles. In ihm stieg das Bild des Tages auf, an dem ihm seine Großmutter den Familienschmuck geschenkt hatte. Er war damals gerade erst sechs Jahre alt gewesen, vielleicht sieben.

Sie hatte ihn gebeten, sie an der alten Eibe zu treffen. Dort erwartete sie ihn, saß auf dem runden Fels in der Sonne. Sie nahm die Kette von ihrem Hals und hielt sie in das Licht. Die Steine funkelten golden in ihrer Hand. Sie waren symmetrisch aufgereiht. Hinten waren die kleinsten, nach vorne zu wurden sie größer und lenkten den Blick auf die glänzende, silberne Fassung, die einmal einen besonders schönen Stein getragen haben mußte. Jetzt war sie leer. Jarjon legte seinen kleinen Finger an die Stelle, wie er es schon oft getan hatte. Großmutter begann zu sprechen: „Hier war dereinst die Träne der Göttin Erda, der Mutter aller Götter.“ Ihre Stimme klang weich und liebevoll. Der Junge verstand das nicht: „Aber ist sie nicht eine grausame Göttin? Die schrecklichste von allen? Sie hat ihre Priester geschickt, um meine Brüder zu holen. Und Mama hat Angst, daß sie mich auch holen wird!“ „Mein Schatz. Die Götter waren nicht immer so böse wie heute. Früher haben die Frauen in unserer Familie im Namen der Erda gelebt. Sie hat ihnen große Heilkraft und Weisheit geschenkt. Und die Tränen der Götter waren das Herzstück unserer innigen Verbindung, denn sie symbolisieren das Mitgefühl der Götter mit den Menschen.“ „Die Götter kennen kein Mitgefühl. Sie verlangen das Blut von Kindern!“ Seine Großmutter fuhr unbeirrt fort: „Die Kette wurde stets von der Mutter an die älteste Tochter weitergegeben. – Jetzt gibt es keine Töchter mehr.“ Sie schaute ihm tief in die Augen. „Um die Zeit meiner Geburt hat sich alles geändert. Erdas Träne ging verloren, und seitdem werden keine Töchter mehr in unserer Familie geboren. Dennoch ist es Zeit, die Kette weiterzugeben.“ Sie legte die Steine um seinen Hals und küßte ihn auf die Stirn: „Hüte sie gut, Jarjon.“ – Im Winter darauf war sie gestorben.

Ein schmerzerfülltes Brüllen riß ihn aus seinen Gedanken. Sie hatten inzwischen den hell erleuchteten Altarraum erreicht. Der innere Zirkel der Priester und Priesterinnen öffnete sich und ließ sie ein. Hinten an den Säulen stand ein mächtiger Käfig. Der Anblick des Tieres, das sich dort in Ketten wand, fauchte und keifte, ließ Jarjons Atem stocken. Es sah aus wie eine riesige, schwarze Löwin mit gewaltigen Flügeln, die jetzt in blutigen Fetzen herabhingen. Eine Pantrir, das Reittier der Götter! Seit vielen Jahrzehnten wurde keine mehr gesehen, und niemals, niemals wurde eine gefangen! Das war unmöglich!

„Es ist ein schweres Opfer, das wir bringen müssen!“
„Er ist es wert. Er trägt die Kraft der gesamten Menschheit in sich.“
„Aber wohnt auch die Kraft der Menschlichkeit in ihm?“
„Wenn nicht, sind wir für immer verloren.“

Die rotgewandeten Diener der Götter schlossen nun einen weiten Kreis um ihn und versperrten ihm damit den Blick auf den Käfig. Ihm gegenüber wurde eine junge Frau in den runden Freiraum gestoßen. Sie war sehr schön. Ihr Blick hatte etwas Wildes, Unheimliches. Sie sah ihm direkt in die Augen, und er hatte das Gefühl, sie schaue bis auf den Grund seiner Seele. Er verliebte sich auf der Stelle in sie.

Eine Priesterin trat vor. Ihr Gewand war schwarz, und auch ihre Lippen und Zähne waren schwarz gefärbt. Sie war die Höchste, die Heiligste. Sie war das Ohr direkt am Mund der Götter. Sie trug einen Krug in der Hand und trat vor die junge Frau, die mit einem fast ironischen Lächeln die Augen senkte. Die Heiligste tauchte den Finger ein und malte das rote Symbol Erdas auf die Stirn ihres Gegenübers. Dabei rief sie laut: „Siege oder stirb!“ Dann wandte sie sich Jarjon zu. Er wich zurück, als er begriff, worum es ging. Das hatte er nicht erwartet! Er fühlte sich von kräftigen Armen gepackt und in die Knie gezwungen. Die Kälte der Farbe brannte sich in seine Stirn, und er keuchte, als er die Worte noch einmal hörte: „Siege oder stirb!“

Ein Priester legte ihm ein langes Messer in die Hand. „Wenn du nicht kämpfst, stirbst du auf alle Fälle“, zischte er. Das Licht der Fackeln und Kerzen brach sich in den unzähligen scharfkantigen Zacken der Klinge. Ein Gong dröhnte. Die Pantrir brüllte. Jarjon erhob sich und blickte auf. Er wollte nicht kämpfen. Nicht gegen diese schöne, fremde Frau. Sie beobachtete ihn mit ihren merkwürdigen, grünen Augen. Mit leicht gespreizten Beinen stand sie da, wog die Waffe in ihrer Hand, schwang sie einmal hin und her. Ruhe lag in ihren Bewegungen. Geschmeidigkeit, Stolz und Kraft. Wollte sie ihn etwa töten? Er musterte sie scharf, suchte ihren Blick. Sie lächelte ihn an, liebevoll, traurig. Er glaubte, Sehnsucht zu erkenne – und Hoffnung. Was ging hier vor? Er war verwirrt und aufgeregt. Wie sollte er sich verhalten?

Sie hatte ihn inzwischen halb umkreist. Völlig unerwartet sprang sie vor und machte eine blitzschnelle Bewegung auf ihn zu. Im letzten Moment konnte er zurückweichen und spürte einen scharfen Schmerz an seinem linken Arm. Blut tränkte seinen Ärmel. Sie wollte ihn wirklich töten! Wieder stieß sie vor. Jetzt wich er geschickter aus, machte einen halbherzigen Ausfall und zog sich sofort wieder zurück. Er war sich nicht sicher, ob er kämpfen wollte. Vielleicht war es besser, sich töten zu lassen, damit diese Frau lebte? Aber er kannte sie doch gar nicht. Ein erneuter Angriff. Ihr Messer ritzte leicht seine Brust. Todesangst durchfuhr ihn. Er wollte nicht sterben. Er wollte leben. Er mußte kämpfen!

Als die Entscheidung gefallen war, konzentrierte er sich ganz auf den Kampf. Sie war schnell, gewandt, überlegt. Er war zäh, aber er merkte bald, daß sie ihm überlegen war. Seine einzige Chance lag in seiner Ausdauer. Sie war eine Frau, und er hoffte, daß sie mit der Zeit ermüden würde. So parierte er ihre Schläge, so gut er es vermochte, legte all seine Aufmerksamkeit in die Verteidigung. Und tatsächlich schien sie langsam zu ermatten. Immer öfter zeigten sich Lücken in ihren Bewegungen, und schließlich trat er in einem geeigneten Moment fest gegen ihre Hand. Ihr Messer schleuderte durch die Luft und landete am Rand der Kampffläche. Er packte sie an ihrem Haar, zog sie zu sich heran und drückte die Spitze seiner Klinge an ihren Bauch.

Sie keuchte und starrte ihn an. Schweigen legte sich über sie. Erst jetzt fiel ihm auf, daß die Menge die ganze Zeit geschrien und sie angefeuert hatte. Doch jetzt hörte er nur ihren und seinen heftigen Atem. Er wußte, er mußte sie töten, sonst würden sie beide sterben. Sie zeigte keine Furcht, vielmehr eine unendlich tiefe Traurigkeit. Sie war so schön, so zart und doch so stark. Und was wäre, wenn er seinen eigenen Bauch aufschlitzen würde? Dann würde sie leben. Er beugte seine Stirn der ihren zu. In ihrem Gesicht lag ein fragender Ausdruck, als ob sie etwas Bestimmtes von ihm erhoffte. Fast meinte er, ihre Stimme zu hören, obwohl sie nicht sprach: „Wenn du mich jetzt tötest, tötest du die Götter.“

„Kann er sie verstehen? Wird er sich opfern?“
„Er muß es tun. Sonst sind wir verloren.“
„Er wird sie nicht töten! Er bringt es nicht über sein Herz!“

„Was meinst du damit?“, stieß Jarjon hervor. Eben noch war er bereit gewesen, das Messer zwischen ihnen umzudrehen und sich selbst hineinzustürzen. Doch jetzt spürte er, wie Kälte in ihm aufstieg. Er schüttelte sie und drückte die Klinge stärker gegen ihren Bauch. Wahrscheinlich verletzte er sie: „Was meinst du damit?“ Ihre Augen füllten sich mit Wasser. Eine Träne perlte ihre Wange hinab. Sie leuchtete golden im Flammenschein. Schwer fiel sie von ihrem Kinn und landete mit einem zarten Klirren auf dem Steinboden – die Träne einer Göttin. Jarjon schrie auf: „Du bist eine Göttin! Du hast meine Brüder getötet! Und die anderen Kinder! Du bist eine verdammte Göttin!“ Und voll Haß stieß er zu, rammte das Messer mit aller Kraft in ihren Bauch und zog es hin und her.

Sie schrie nicht. Sie weinte nicht. Stumm blickte sie ihn an, voll Verzweiflung, voll Liebe. Er starrte zurück, voll Verzweiflung, voll Haß. Sie ließ ihren Kopf ihm entgegensinken. Ihre Lippen legten sich auf seine, und sie küßte ihn – lang und innig. Er spürte, wie ihr Atem in ihn hineinfloß, ihn anfüllte mit zärtlicher Wärme. Seine Kälte schmolz dahin. Er liebte sie, er liebte sie von ganzem Herzen, mit all der Macht und Stärke, mit der er sie eben noch gehaßt hatte. Er hörte ihre Stimme in ihrem Kuß: „Schenke mir eine Tochter!“ Dann sank sie in seinen Armen zusammen. Er wußte, sie war tot.

„Er hat sie ermordet! Er hat Erda ermordet!“
„Wir sind verloren! Der Quell unseres Lebens ist dahin!“
„Es gibt keine Menschlichkeit unter den Menschen mehr.“
„ Ihr Haß hat uns alle getötet! Bald.“

Die Menge jubelte, die Priester jubelten. Die Heilige, die Schwarze beugte sich zu ihm hinab und wischte das Symbol von seiner Stirn. Er hielt den Körper der jungen Frau in seinen Armen und wiegte ihn hin und her. Mit tränenblinden Augen blickte er zu der Priesterin auf: „Ich habe eine Göttin getötet!“ „Nicht nur irgendeine Göttin. Du hast Erda getötet, die Mutter der Götter.“ „Aber wie ...? Was werdet ihr jetzt mit mir tun?“ Die Höchste lächelte kalt: „Wir werden dich als unseren Helden feiern.“ „Aber dient ihr nicht den Göttern?“ Sie lachte auf. Ihr Mund wirkte wie ein schwarzes, großes Loch: „Jetzt sind wir frei! Es gibt keine Götter mehr! Komm, Held, laß uns feiern. Die Götter sind endlich tot!“ Die anderen Priester drängten auf ihn ein, entrissen ihm Erdas geliebten Leib und zogen ihn hoch. Gerade noch konnte er nach dem goldenen Stein greifen, der neben ihm auf dem Boden lag. Während die Männer und Frauen ihn auf ihren Schultern durch die große Halle trugen, küßte er ihn zart. Noch einmal hörte er ihre Stimme: „Schenke mir eine Tochter!“ Was hatte sie damit gemeint? Er legte ihn in die silberne Fassung seiner Kette. Der Stein paßte genau und schien mit ihr zu verschmelzen. Jarjon würde sie hüten, die Träne der Göttin Erda.


© Judith Gröger, März 2002

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