Der kleine Elbenkönig Ciaran hockte auf einem breiten Eichenblatt und sah hinaus auf den See. Die Sonnenstrahlen ließen Tausende bunter Farbpailletten auf der Wasseroberfläche glitzern. Aus dem dicht bewachsenen Ufersaum schälte sich die Gestalt eines Mädchens. ‚Caedlis!’ Ciarans Herz machte einen so großen Sprung, dass es ihn fast vom Blatt gerissen hätte.
Caedlis war ein keltisches Mädchen. Aber das störte Ciaran nicht. Elben sind fast wie Kelten, nur etwas kleiner. Eigentlich winzig, im Vergleich zu Menschen. Er war auf ein Blatt geklettert, um über sein Volk, die Welt im Großen und Kleinen und natürlich über sich nachzudenken. Ihm machte es Spaß, hoch oben in den Bäumen zwischen den Blättern im Wind zu schaukeln. Inzwischen hatte Caedlis ihre Kleider am Ufer abgelegt. Ciaran bewunderte ihre vollkommene Gestalt. Fast elfenbeinfarben. Nichts störte diese makellose Schönheit, außer einem kleinen Muttermal an ihrer rechten Hüfte. Aber das war Ciaran egal. Wenn sie ein Hüfttuch darüber trug, war es nicht mehr auffällig. Und es war etwas, was sie unverwechselbar, einmalig machte. Sie streckte erst einen Fuß vorsichtig ins Wasser, glitt dann mit ihrem Körper geschmeidig hinein und verschmolz mit dem See. ‚Sie schwimmt wie eine Forelle im Fluss’, stellte Ciarans fest, als er sie in so gleichmäßigen und wundervoll kräftigen Zügen durchs Wasser gleiten sah. Ihr Körper teilte die Oberfläche in anmutigen Bewegungen, wobei die kleinen Wellen ihren Körper umschmeichelten. ‚Wäre ich doch auch nur ein Fisch’, dachte er. ‚Ich würde mit ihr im See schwimmen, unter ihrem Körper hindurchtauchen, vor ihrem Gesicht fröhlich jauchzend aus dem Wasser springen, mich in ihrem Kielwasser treiben lassen.’ Aber er war ja nur ein Elb. Ciaran seufzte. Ein tagträumender Winzling auf einem Eichenblatt, der ein nacktes Mädchen beim Baden im See beobachtete. ‚Könnte ich doch ein Mensch sein’, dachte Ciaran traurig. Wie er so in seinen Gedanken versunken war, bestrich ihn plötzlich ein goldener Sonnenstrahl und nahm ihm die Besinnung.
Ein Rascheln weckte ihn. Er versuchte instinktiv, sich am Blattrand festzuhalten – aber das ging nicht. Seine Hand griff ins Leere und Ciaran stürzte vornüber. Sein Gesicht kam auf etwas Weichem zu liegen. Er schnupperte - würziger Waldboden. ‚Wie komme ich hierher?’, dachte er. ‚Bin ich vom Baum gefallen?’ Verwirrt strich er sich eine blonde Haarlocke aus dem Gesicht. Er war Ciaran, der Elbenkönig. Eben noch auf einem Eichenblatt schaukelnd, jetzt auf dem Waldboden sitzend und ins Schilf starrend. Bevor er sich Gewissheit über seinen Zustand verschaffen konnte, teilte sich das Schilfrohr. Zuerst erschien ein nacktes Bein, dann der ganze Körper. ‚Caedlis.’ Ciaran erstarrte. Er war unfähig sich zu bewegen. Seine Augen wanderten an der schlanken Gestalt empor, bis er in ihr Gesicht sehen konnte.
Auch Caedlis stand für einen Augenblick reglos da. Mit den Händen versuchte sie schamhaft, ihre Blöße zu bedecken. Aber mit nur zwei Händen gelang dies reichlich unvollkommen. Die Röte, die ihr ins Gesicht geschossen war, passte wunderbar zur langsam untergehenden Sonne.
Ciarans Verwunderung über seinen plötzlichen Ortswechsel war nun seiner Bewunderung für Caedlis gewichen. ”Setz dich doch!”, meinte er verlegen und rückte ein wenig vom Stamm weg.
Das Mädchen stand immer noch unschlüssig da. “Meine Kleider...”, fing es stockend an zu reden, wobei sich eine Hand von ihrem Busen löste und ins Schilf deutete.
Doch Ciaran hatte nur Augen für ihre sanft gerundeten Wölbungen und wünschte sich, ein Neugeborenes zu sein und von ihr gesäugt zu werden. ”Du bist wunderschön. Setz dich doch bitte, ich tue dir nichts”, versuchte er die Spannung zu lösen und machte ein einladendes Handzeichen.
Die leichte Röte von Caedlis’ Haut nahm zu – oder war es der Widerschein der Abendsonne? Mit einem leise gehauchten ”Danke” glitt sie nieder und versuchte dabei, die Schilfhalme so um ihren Körper zu biegen, dass diese ihre Blöße halbwegs bedeckten.
”Wer bist du?” Ihre Stimme hatte den Klang der silbernen Glocke, die Ciarans verstorbener Vaters früher schlug, um die Elbenkinder all abendlich ins Bett zu rufen.
” Ich bin Ciaran, König der Elben”, antwortete Ciaran stolz.
”Elben?”, fragte Caedlis ungläubig.
”Genau. Wir sind ein kleines Baumvolk, seit Jahrhunderten hier in den alten Eichen ansässig und unheimlich verspielt!” Den letzten Teil fügte Ciaran etwas verschmitzt hinzu.
”Aber ich habe noch nie etwas von euch gehört.” Unruhig rutschte Caedlis auf dem Boden hin und her. ”Ich kenne nur Brendan, den Schmied, unten am Fluss, und Maewe, die alte Hexe tief im Wald. Ach ja - und natürlich die Leute in meinem Dorf.”
Ciaran war etwas an Caedlis herangerutscht. ”Und jetzt, wo du mich hier so siehst – jetzt kennst du auch Elben!” Dabei kicherte er.
Caedlis schaute ihn verwundert an. ”Was ist denn der Unterschied zwischen euch Elben und uns Leuten aus dem Dorf?”, wollte sie wissen.
”Der Unterschied? – Nun, wir sind ein winziges Volk, im Vergleich zu Euch riesigen Menschen.” Fast hätte Caedlis den schützenden Schilfmantel um ihre Hüften losgelassen, als sie in schallendes Gelächter ausbrach.
”Was ist denn daran so witzig?”, wollte Ciaran wissen.
”Na, schau Dich doch mal an!”, meinte Caedlis, als sie sich wieder erholt hatte. ”Wenn jeder, der so ‚winzig klein‘ wie Du ist, ein Elb sein soll – ja, dann habe ich die ganze Zeit völlig ahnungslos in einem Dorf voller Elben gelebt.”
Ciaran war geplättet. ‚Was mochte sie damit meinen?’ An sich hinunter blickend, sah alles ganz normal aus, fand Ciaran. Er saß auf dem Boden unter einem Baum, auf einem Berg von Blättern. ‚Auf einem BERG von Blättern?’ Mit einem Satz sprang Ciaran hoch und hätte sich fast den Kopf am untersten Ast der Eiche gestoßen. ‚Konnte das sein?’ Die Blätter waren so klein, dass sein Fuß sie bedeckte. Als er stand, überragte er die vor ihm sitzende Caedlis um das Doppelte.
”Ich ... ich weiß auch nicht”, stotterte Ciaran verlegen. ”Eben noch schaukelte ich auf einem Blatt der alten Eiche über mir und habe dich beim Schwimmen im See bewundert. Und jetzt befinde ich mich hier auf dem Waldboden und bin genauso groß wie du. Das verstehe ich nicht!” Verstört kratzte er sich am Kopf.
”Du hast mich beim Baden beobachtet, vom Baum aus?” Caedlis Stimme klang etwas schärfer als vorher.
”Äh – nun ja. Weißt du, ich ... kenne dich schon eine ganze Weile. Euer Dorf grenzt direkt an die alten Eichen des Feenwaldes. Das ist mein Königreich, dort, wo wir Elben hausen. Morgens und abends sah ich dich immer zum See hinunter gehen, um Wasser zu holen. Ich finde es nach einem langen Tag als König nämlich unheimlich entspannend und wohltuend, auf einem Eichenblatt zu ruhen, um die Sonne zu genießen, den Stimmen der Vögel zu lauschen oder den Menschen einfach bei der Arbeit zuzuschauen.” Ciarans Stimme wurde leiser und verträumter. ”So begann in mir meine Liebe und Sehnsucht nach dir zu wachsen. Aber ich bin nur ein winzig kleiner Elb. Wie sollte ich mir da jemals Hoffnung machen, dich einmal in den Armen halten zu können?”
Seine letzten Worte klangen traurig in Caedlis Ohren nach und so erhob sie sich in all ihrer Nacktheit, Scham hin oder her. ‚So schlecht sieht er nun wirklich nicht aus’, dachte sie. ‚ Ein Elbenkönig? Pöh – das könnte ja jeder behaupten.’ Aber dieser junge Mann, der jetzt etwas verlegen wirkte, gefiel ihr. In ihrem Dorf gab es mehrere Männer, die ihr nachstellten. Aber von denen mochte sie keinen, so grobschlächtig und überheblich, wie sie sich gaben.
”Wir unterscheiden uns doch gar nicht so sehr in unserer Größe”, versuchte Caedlis die festgefahrene Situation zu retten.
”Ja, das sehe ich jetzt auch!” Ciaran blickte immer noch ungläubig an sich hinab und auf die Pflanzen und Bäume rings um ihn her.
”Wie ‚Ja’? Was nun?” Caedlis wurde jetzt fordernder. ‚Wenn ich diesen Mann einfach wieder so laufen lasse, müsste ich ja schön blöd sein’, dachte sie. ‚Manchmal muss dem eigenen Glück nachgeholfen werden. Vielleicht ist er doch ein König. Ein armer Prinz ohne Königreich – als ob das wichtig wäre.’ Da er ihr nun schon mal seine Liebe gestanden hatte, musste sie die Gelegenheit beim Schopfe packen!
”Würdest du mich denn auch mögen?” Ciarans Stimme klang zweifelnd.
‚Oh ihr Geister in den Wäldern’, fluchte Caedlis. ‚Dieser Elb macht es mir nicht gerade leicht.’ - ”Doch, du gefällst mir. Mehr als die jungen Männer in meinem Dorf. Sie sind roh und ohne Sitten. Da du mich schon länger beobachtet hast, wahrscheinlich auch ohne Kleider, kennst du nun alle meine Makel.“
Ciaran war beim letzten Satz etwas Rot geworden.
Aber Caedlis tat so, als merkte sie es nicht und fuhr fort: „Dass du dich trotzdem zu mir hingezogen fühlst, schmeichelt mir wirklich sehr.” ‚Ach, was rede ich da für einen Mist’, dachte sie. ‚So bleibe ich bis in alle Ewigkeit Jungfrau und eine andere Schöne schnappt mir diesen gut aussehenden Burschen weg.’ ”Ich mag Dich auch, Ciaran”, schloss sie.
Das erste Mal, dass er seinen Namen aus ihrem Munde hörte! Ciaran glaubte, die Elben auf ihren silbernen Flöten und dem Sistrum musizieren zu hören. Ihn interessierte gar nicht mehr, warum er plötzlich in Menschengestalt war und wie es mit dem goldenen Sonnenstrahl zusammenhing, der ihn auf dem Blatt getroffen hatte. Er hatte die Liebe seines Lebens, seine Liebste, getroffen und sie waren sich einig. ‚Wenn es ein Traum ist’, dachte er, ‚dann möchte ich daraus nie mehr erwachen!’ Ciaran ergriff die Hand von Caedlis, die sich ihrer Nacktheit nicht mehr schämte, und gemeinsam setzten sie ihren Weg fort, der sie durch den Wald der Elben und in das Dorf der Menschen führen würde. Aber Ciaran wusste, dies war erst der Anfang eines langen gemeinsamen Weges.
Dirk Becker, 2002
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