Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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März 2002
Der mutige Tolpatsch im Moor
von Patrick Rauch



Der Mann in dem selbst gebauten Haus am westlichen Rand des von hohem Gestrüpp & Dornbüschen umgebenen Dorfes schritt nervös & aufgebracht hin & her. >>Ich werde es tun!<< rief er. Seine Frau saß der Traurigkeit wegen mit gläsernen Augen auf dem Stuhl. >>Ich werde es tun!<< lärmte er wieder. Er drehte sich auf dem Absatz um & schritt in die entgegengesetzte Richtung. Vor der zweischneidigen Axt an der Wand hielt er an & starrte mit hinter den Rücken verschränkten Armen auf die Waffe. >>Die anderen sind feige, aber ich nicht!<< sagte er mit heiserer Stimme. >>Ich werde es tun!<< Er nahm die schwere Axt aus der Halterung der Wand & wog sie in den Händen. Dann hängte er sie zurück, drehte sich ruckartig auf dem Absatz um & ging mit weit ausholenden Schritten wieder zurück. >>So kann das nicht weitergehen!<< rief er. >>Nein, so geht das nicht weiter!<< Eine Schnute ziehend starrte er an die Decke. Mit einer schnellen Bewegung strich er sich die langen Haare aus der Stirn zurück auf die Halbglatze. Er atmete tief ein & aus. Dann schnellte er zum wiederholten Male herum & schritt mit den gleichen, weit ausholenden Schritten auf die andere Zimmerseite zu. Wieder stellte er sich vor die Axt & begutachtete sie argwöhnisch.
>>Aber ... aber ... du hältst doch nie dein Wort ...<< stammelte seine Frau in dem Stuhl & rieb sich die tränenden Augen.
>>Schweige still, Weib!<< rief er. >>Nicht auch noch du willst mich erzürnen, oder? Nein, das willst du nicht! So schweige denn still, Weib!<< Die Frau begann wieder zu weinen, wie sie es schon den ganzen Tag getan hatte. >>Nein, du bist eine gute Frau! Du würdest es nicht wollen, mich zu erzürnen! Nein!<< Er zog die Nase hoch. >>Ich werde es tun! Ich werde es tun, Weib, hörst du? Ich werde das nicht zulassen. Wieviele sind es?<<
Seine Frau schreckte aus den Gedanken auf. >>Was ... wer ...?<<
>>Wieviele sind es, Weib?<< rief er, diesmal ärgerlicher als zuvor. >>Wieviele Kinder sind abhanden gekommen die letzten Wochen?<<
>>Nun, ja ...<< gluckste sie, schluckte & stotterte dann weiter: >>Laß mich mal ... überlegen. Zu Anfang da war es die ... die Kleine der Dorte’s ... danach ... da war es die Kleine der ... sag mal, wie war noch gleich der Name der ... ach, auch egal ... später war es die Kleine der ... der Komter ... ja, dann ...<<
>>Genug!<< rief der Mann. >>Genug, sage ich! Zu viele, Weib! Zu viele! Und die Männer? Alle weg, ja?<<
>>Ja ... nein ... ich glaube ... ist der Mann der ... sag mal, wie war noch gleich der Name der ... ach, auch egal ... einer ist da ... noch da ...<<
>>Aha!<< rief der Mann & wippte auf den Fußspitzen auf & ab. >>Ein Feigling!<< Er hob die Nase, betrachtete noch einmal argwöhnisch die Axt & schnellte danach auf dem Absatz herum. >>Ich werde es tun!<< lärmte er erneut. >>Die Männer waren feige!<< stellte er fest. >>Sie haben nicht gesucht! Nein! Sie sind abgehauen! Haben das Weite gesucht! Diese Männer sind geflohen & haben das Weite gesucht!<<
>>Ja ... aber ...<< stammelte die Frau.
>>Schweige still, sage ich! Weib, so schweige doch endlich still!<< brüllte der Mann & stapfte mit dem in einen verdreckten Lederstiefel gehüllten rechten Fuß auf den Boden. >>Weggelaufen! Ha! Die Kinder sind nicht weggelaufen! Eines sage ich dir, Weib, die Kinder sind nicht weggelaufen! Nicht so! Nein! Die Leute glauben es! Sie wollen es glauben! Doch keiner glaubt an das Moor! Das Moor! So ein Mumpitz! Weggelaufen! Ha!<<
>>Das ... Moor?<< sagte die Frau & wischte sich die Tränen aus den Augen.
>>Das Moor, Weib!<< rief der Mann. >>Nicht weggelaufen sind sie, die ... die ...<<
>>Kinder?<<
>>Die Kinder! Ja! Das Moor hat sie verschlungen! Sie haben sich verirrt & das Moor hat sie verschlungen!<<
>>Ja ... glaubst du das denn?<<
>>So schweige doch einmal still, Weib! So schweige doch einmal still! Das Moor hat sie natürlich nicht verschlungen! Wie will ein Moor ein Kind verschlingen? Sag mir das, Weib!<<
>>Wenn sie ... untergehen?<<
>>Ach, Weib, so schweige doch ... ja, wenn sie untergehen! Aber das meine ich nicht, Weib! Unsere Kleine geht da nicht unter! Weil unsere Kleine kennt sich da aus, Weib! Ich habe es ihr oft erklärt! Sie geht da nicht unter!<< Er stapfte auf der gleichen unsichtbaren, geraden Linie durch den Raum wie schon zuvor.
Der Blick der Frau folgte ihm. Schon wie so oft dieses Abends. Die Geschichten um das Moor machten seit vielen Wochen die Runde, versetzten die Menschen in Angst & Schrecken & brachten sie dazu, ihre Heime nicht mehr zu verlassen. Das Verschwinden der mittlerweile sieben gezählten weiblichen Kinder war eine Katastrophe für die Bewohner des kleinen Dorfes im Lande Kutiitt. Nicht nur, daß die Eltern ihre geliebten Kleinen verloren, auch die Nachkommenschaft war damit gefährdet, denn nur die weiblichen Kinder wurden verschleppt. Natürlich gab es weder Beweise noch Zeugen für diese Mutmaßung, jedoch war es schwer zu glauben, daß die hier aufgewachsenen Mädchen sich in dem Moor verirrten. Dies war für alle ausgeschlossen, wenngleich es nur zu gerne als Grund für das Verschwinden der Mädchen hervorgebracht wurde. Eine andere mögliche Erklärung für das alles - die jedoch weit weniger gebräuchlich war - waren die Geschichten um eine erschreckende Gestalt tief in den Wäldern hinter dem Moor, die hin & wieder hervorkam & Menschen verschleppte. Alt, klein & ekelhaft sollte sie sein, auch wenn sie keiner jemals gesehen haben wollte. Auch Geschichten über mehrere hell leuchtende Geister, die sich des Nachts in der Nähe des Dorfes aufhielten, wurde erzählt. Manch einer behauptete, in mancher Nacht Schreie nicht weit entfernt zu hören.
Nach dem Verschwinden der Mädchen war nicht viel passiert. Die Eltern hatten sie in der näheren Umgebung gesucht, doch nicht gefunden. Erst später ging der Mann auf Anraten eines Nachbarn in das Moor, doch kam er nie wieder zurück. Auch das Mädchen wart nie mehr gesehen. In den darauffolgenden Wochen verschwand alle sieben Tage ein Mädchen. Auch hier suchten die Männer nach ihnen in dem Moor - alleine schon, um vielleicht auch ihren Nachbarn wiederzufinden -, doch auch sie kamen niemals zurück. Nach einer Weile verschanzten sich die Männer, Frauen & Kinder in den Häusern & gingen nur hinaus, wenn es absolut erforderlich gewesen war, so zum Beispiel um in die kleine Taverne zu gehen, um den neuesten Gesprächsstoff & die neuesten Geschichten zu hören. Arbeiten gingen die Bauern kaum noch. Ihre Felder waren zu einem großen Teil von der Sonne zerstört worden mit der Zeit. Und nun war ihr eigenes Kind - das des Mannes & das der Frau - geraubt worden. Sie wußten weder wann noch wie, auf einmal war sie entschwunden & niemand wußte wohin. Doch jeder glaubte zu wissen wohin. In das Moor; jenes unerbittliches Gebiet voller Sümpfe, giftigen Pflanzen & überwuchernden Gräsern, Pilzen & Moos. Früher einmal, so sagte eine Geschichte, sollte eine alte Gestalt inmitten des Moores in ihrem kleinen Haus gelebt haben. Von den Menschen mißachtet & gefürchtet sollte sie Unruhe gestiftet haben, wo immer sie auch hingekommen war. Heute war diese Erzählung nicht mehr als eine Schauergeschichte für die Kleinen, um sie vor dem Betreten des gefährlichen Gebietes zu warnen, doch lag ja, wie man sagte, in jeder Geschichte ein Körnchen Wahrheit.
>>Ich werde es tun!<< rief der Mann wieder, schnellte auf dem Absatz herum & stapfte an die Wand, an der die zweischneidige Axt hing. >>Von einer Gestalt verschleppt im Moor! Mumpitz!<< sagte er mürrisch. Dann packte er wieder die Axt & hob sie aus der Halterung. >>Mumpitz!<<
>>Du willst doch nicht ... was willst du denn ...<<
>>Ich werde es tun!<< rief er. >>Die Gestalt in dem Moor! Gibt es sie, finde ich sie! Und dann ... ja, dann ...<<
>>Dann?<<
>>Dann finde ich sie eben! Rede mir nicht dazwischen, Weib, und schweige doch endlich einmal still! Unsere Kleine werde ich finden & zurückbringen! Mit der Axt & meinem scharfen Verstand! Damit finde ich sie & bringe sie zurück! Unsere Kleine!<<
>>Mit deinem ... ja ...<<
>>Ja!<< Er drehte sich herum, wuchtete die Axt auf seine Schultern & schlug dabei die Halterung von der Wand. Er merkte es jedoch nicht einmal. >>Mit meiner Axt & meinem scharfen Verstand! Mit meiner Sehkraft & meinem Mut! Ich werde es tun, Weib! Schweige still & halte mich nicht ab! Die anderen Männer sind feige! Abgehauen sind sie! Aus Angst vor der Verantwortung! Doch ich habe Mut & Kraft! Ich werde sie zurückholen!<< Er zog noch einmal die Nase hoch, schnellte auf dem Absatz herum, schlug die Axt dabei erneut gegen die Wand, wobei Farbe & Stein abbröckelten, stapfte auf die Haustüre zu & öffnete sie.
>>Du willst ... gehen? Aber wohin ...?<<
>>Ich werde es tun!<< rief er. >>Ich werde sie zurückholen. Ich gehe in das Moor! Zu der Gestalt im Moor! Ha! Mumpitz! Du wirst schon sehen, einfältiges Weib! Die anderen Männer waren feige, doch ich habe Mut! Mit meinem Verstand ...!<< Die Frau nickte nur. >>Ja!<< sagte er dann. >>Ich ... ich gehe dann!<< Und dann war er aus der Tür hinaus & ließ die völlig entnervte Frau zurück.
Der Mann passierte das Gestrüpp & die Dornen, die einen Schutzwall rund um das Dorf darstellten, pikste sich hier, stach sich dort, doch überstand er diese Tortour recht unverletzt. Fluchend auf den unnützen Schutzwall vor wilden Tieren stapfte er mit langen Schritten geradewegs auf das Moor zu, welches mehrere hundert Schritte von dem Dorf begann. Dunkelheit vertrieb alsbald das Licht der untergehenden Sonne, deren rötlicher Glanz den Horizont färbte. Kein Mensch war außerhalb seiner Behausung zu dieser Zeit, daher vermochte er ungehindert zu wandern; das Haupt hoch erhoben, den Bauch eingezogen, die zweischneidige Axt auf die Schulter gewuchtet & das Gesicht zu einer ernsthaften Miene verzogen. So näherte er sich im regelmäßigen Schritt dem Moor, fest davon überzeugt, dem Geheimnis des Verschwindens der Kleinen auf die Spur zu kommen & heldenhaft zum Dorf zurückzukehren. Nach einiger Zeit - in seinem hochmütigen Trott achtete er nicht auf die Dauer seines Marsches - erlangte die Dunkelheit endgültig Überhand über das Licht & kühlte die Luft.
>>Ah, frische Luft!<< rief der Mann in die Leere.
Der Mond stand voll & hell am Himmel & spendete ausreichend Licht für seine Wanderung. Er passierte einige Äcker, stapfte über den frisch gepflügten Boden, in dem er hier & da ein wenig versank, sah hinauf zum Himmel & nickte dem Mond zu. Als er merkte, daß der Acker der eines Nachbarn & nicht sein eigener war, vollführte er schlurfend noch einige weite Kreise, bevor er seinen Weg wieder aufnahm & wenig später das Feld hinter sich ließ. Nun ragten hohe Bäume vor ihm empor; Gehölz mit dicken Stämmen & Ästen, die einen weiten abwärts gehenden Bogen beschrieben, sich schrittweit des Baumes zu entziehen versuchten & nahe dem Boden hingen, ihn jedoch nicht berührten. Ohne körperliche Anstrengung war es hier schier unmöglich, dieses Wald zu passieren. So wuchtete er die schwer auf seiner Schulter lastende zweischneidige Axt hinunter, stelle sie auf den Boden & spuckte in die Hände. Danach verrieb er sie schmatzend & hob die Axt auf. Er stöhnte; hätte er doch nur das kleine Beil genommen. Mit weit ausholenden Hieben trennte er Äste & Zweige auseinander & bahnte sich so einen Weg durch das Gehölz. Nach nur kurzer Zeit schimmerte der Schweiß auf seiner Stirn & schwer atmend hielt er einige Male inne. Er wünschte sich, dies hätte sich vor Jahren ereignet, als er noch jung & stark gewesen war. Dennoch kam er schnell voran, so gelangte er schon bald zu der Stelle, bei der sich der Wald ein wenig lichtete & er nun wieder die Axt auf der anderen, nicht schmerzenden Schulter zu tragen vermochte, ohne sie benutzen zu müssen. Er schritt weiter, rammte sich einige abstehende & widerspenstige Äste & Zweige ins Gesicht & den restlichen Körper, trat nach einiger Zeit aus dem von ihm verfluchten Wald heraus & blieb für einen Moment stehen, um sich auszuruhen. Zu Anfang gedachte er schon dem Schutzwall aus Dornbüschen & Sträuchern die größte zu überwindende Schwierigkeit an, doch nun tat er dies mit dem fiesen Wald, der ihn aufs Gröbste zerlumpt & zerkratzt hatte.
Wenig später ging er weiter. Vor ihm nun lag das sagenumwobene Moor, das sich öd & leer vor ihm erstreckte. Der Mond spendete ausreichend Licht, so daß er sehen konnte, wo sich Sumpftiefen erstreckten oder dorniges Gestrüpp den Weg versperrten. Er stapfte keuchend weiter, umging einige nasse Stellen, sprang leichtfüßig wie er war über einige dornige Büsche - nicht erwähnenswert wäre hier wohl das langsame Auflösen der Stiefel in kleine, von Dornstichen herbeigeführten Schnipsel -, ließ seine scharfen Augen über die für ihn leicht nebelige Landschaft schweifen & kam nach einiger Zeit zu dem Schluß, daß er nicht im Entferntesten wußte, wo er war. Zu allem Überfluß übersah er eine Sumpftiefe & brach mit dem rechten Schuh hinein. Widerliche Nässe sickerte in seinen Schuh; er schrie & hopste heraus. Fluchend setzte er sich auf einen Dornbusch, den er für einen Moment für einen Stein gehalten hatte, sprang kreischend auf & vollführte eine Art Tanz, welche in dem Mondschein für den einen oder anderen tierischen Zuschauer wahrhaft sehenswert gewesen war. Stöhnend & keuchend tastete er etwas Dunkles unter sich ab, wurde sich des Steines gewahr & setzte sich darauf. >>Verdammter Sumpf!<< rief er & zog seinen rechten Stiefel aus, der ihm in mehreren Teilen zerfetzt in der Hand hing. >>Verdammter Stiefel!<< brüllte er heiser. Den Stiefel auf dem Stein neben ihn ausklopfend & noch ein wenig weiter in kleine Teile auflösend, befreite er ihn von dem Schmutz der Sumpftiefe. Dann stellte er ihn neben sich & zog die Socken aus, die er mit schnellen Bewegungen in der Luft hin- & herwirbelte, um so einen Teil der Feuchtigkeit zu vertreiben. Bei dem Geruch des kleinen Stoffdinges verzog er die Nase & gab ein stöhnendes Geräusch von sich. Auf mögliche Zuschauer jedoch bedacht rief er: >>Ah! Frische Luft!<<
Nur wenig später zog er die Socke wieder an, auch wenn sie noch immer naß & glitschig war. In den Stiefel schlüpfend schrie er erneut auf & machte einen Satz nach hinten, worauf er über den Stein fiel & den Kopf unfreiwillig in eine Sumpftiefe steckte. Wild um sich schlagend & den Matsch ausspuckend riß er sich empor, packte die Axt & schlug den Stiefel entzwei, der auf dem Stein gelandet war. Vorsichtig hob er den Schuh an, doch die sich gerade eben noch darin versteckte Schlange hatte bereits das Weite gesucht. Fluchend schlüpfte er in den halben Schuh, wuchtete seine Axt auf die Schulter & schritt wütend weiter, sich den Matsch & Sumpfunrat aus dem Gesicht kratzend.
Die Kälte durchfuhr nun seinen Körper durch die vielen kleinen Löcher in seiner dünnen Kleidung, doch stapfte er entschlossen weiter. Tap - Platsch - Tap - Platsch - Tap - Platsch.
Gänzlich der Orientierung beraubt erreichte er nach einer Weile - begleitet von dem verhöhnendem Gesang eine Eule - ein kleines Haus inmitten von Sumpftiefen & Dorngestrüpp. Schauriger Nebel umwitterte das kleine Anwesen, welches verlassen inmitten des Moors lag. Vielleicht, dachte er, mochten die Geschichten um die alte Gestalt im Moor doch nicht so falsch sein, wie er bisher dachte. Nachdem er sich kurz umgesehen hatte, ging er auf das kleine Haus zu. Als er nun auch mit dem linken Stiefel in eine Sumpftiefe stieg, fluchte er brüllend & bearbeitete sie mit der Axt, bis soviel Erde & Steine hineingefallen waren, daß sie nicht mehr versickerten. Zufrieden ging er keuchend weiter, achtete nun jedoch vor lauter Wut & Qual nicht mehr auf irgendwelches Dorngestrüpp oder nasse Stellen. So kam es, daß er, als er das kleine Anwesen erreichte, bis zu den Knien mit Schlamm & Blut bedeckt war & seine Stiefel nichts weiter als einige Lederfetzen darstellten, derer er sich auch hätte gleich entledigen können.
Das Haus bestand nur aus einem einzigen Zimmer, in dem jedoch kein Licht brannte. Zwei kleine Fenster waren auf zwei Seiten des Gemäuers, auf einer anderen Seite die Tür. Als er sie zu öffnen versuchte, scheiterte er kläglich, da sie abgeschlossen war. Doch war seine Neugierde über den Inhalt der vier Wände zu groß, als daß er sie hätte verschlossen lassen können. So stemmte er sich zwei, drei Mal mit aller Wucht gegen das schwere Holz, erreichte jedoch nur einen höllischen Schmerz in seiner Schulter. Fluchend trat er gegen das Holz - nicht darauf bedacht, daß seine Stiefel sozusagen einfach nicht mehr vorhanden waren. So hob er vor Wut & Schmerzen schreiend die zweischneidige Axt, nachdem er zur Belustigung einiger Waldwesen erneut einen Tanz vollführt hatte, doch hielt er inne, als er eine Stimme wahrnahm.
>>Braucht Ihr den Schlüssel, mein Herr?<<
Der Mann drehte sich nach der alten, krächzenden Stimme um & ließ die Axt möglichst unauffällig hinter seinem Rücken verschwinden. Er sah vor sich eine kleine alte Frau, mit einem Tuch auf dem Kopf, unter dem einige mürrische graue Haare hervorstachen, einem dunklen Gewand um ihren Leib & dicken Handschuhen an den zitternden Händen. Um ihren Oberkörper hatte sie eine kleine Tasche geschlungen, aus dem verschiedene Pflanzen hervorragten. Ihr Gesicht war eine einzige Ansammlung von Falten. In ihrer linken Hand trug sie einen verwachsenen Stock, auf den sie sich stützte. >>Ah!<< rief der Mann verlegen. >>Ah! Ei, nun!<<
>>Was macht Ihr denn hier?<< krächzte die alte Frau.
>>Ja, nun!<< rief der Mann. >>Ich ... ich suche ... ja wißt Ihr, das ist eine ganz & gar grausame Geschichte! Ja, das ist sie!<< Die alte Frau nickte verständnislos, mußte er ihr doch vorkommen wie ein von dem Irrsinn befallener Mann. >>Wißt Ihr, altes Weib!<< rief er stotternd. >>Ich suche meine Tochter, die gestern verschwunden ist! Die suche ich! Irgendwo ... da muß sie ja sein!<<
>>Ich verstehe.<< krächzte die alte Frau. >>Ja, da werde ich auch nicht helfen können, befürchte ich. Ich bin nur eine arme, alte Frau, die sich soeben einige Kräuter für das Abendessen gesammelt hat & kaum noch Kräfte hat. Ich bin alt & schwach. Mein Glück ist es schon, wenn ich es noch schaffe, nun einige Schritte zu tun, um die Pilze zu suchen, welche ich noch für meine Suppe benötige. Aber ich befürchte, meine Kraft wird nicht mehr reichen dafür. Ich bin alt & schwach.<<
>>Mumpitz!<< rief der Mann. >>Ein Weib in ihren besten Jahren! Nicht alt & schwach! In den besten Jahren, sage ich Euch!<<
>>Nun, Ihr mögt sicherlich Recht behalten, mein Herr, doch tut mein Kreuz nicht mehr lange mitmachen, wenn Ihr versteht. Diese ständigen Schmerzen vor lauter Bücken & Kräuter aufheben, Bücken & Pilze aufheben; versteht Ihr, dies ist nicht mehr das, was ich noch sehr oft zu tun in der Lage sein werde. Und diese Einsamkeit schlägt ja auch aufs Gemüt, wißt Ihr. Jahrelang war ich hier alleine, ohne eine Menschenseele zu sehen. Jahrelang konnte ich nur mit den Pflanzen sprechen.<< Die alte Frau hob den Kopf & eine Augenbraue. >>Ihr wißt doch sicherlich, wie unbefriedigend es ist, mit einer Pflanze zu reden?<<
>>Ja ... nun ... nein ...<< stammelte der Mann, sich etwas überlegend, ohne daß er sie verletzen wollte. Es war eine sympathische, alte Frau, die sein Mitleid erweckte. >>Ich verstehe sehr wohl!<< rief der Mann. >>Kann verstehen, daß Ihr einsam seid, altes Weib! Doch macht Euch nichts daraus! Jeder Mensch ist irgendwann einmal einsam!<<
>>Ja, Ihr versteht wirklich.<< sagte die alte Frau nickend & lächelte schwach. >>Wäre es sehr unhöflich, Euch zu bitten, nun wo Ihr schonmal hier seid, mir beim Pflücken der Pilze zu helfen?<<
>>Ach, altes Weib, ich bin nicht ...!<< widersprach der Mann.
>>Es dauert auch nur einen winzig kleinen Augenblick, das versichere ich Euch!<< beschwichtigte sie ihn.
>>Ei, nun, denn soll es so sein!<< rief er freudig aus. >>Gerne werde ich Euch helfen, altes Weib! Nimmt es nur nicht viel Zeit in Anspruch!<<
>>Das wird es nicht.<< versicherte sie ihm noch einmal & schritt davon.
Von dem schnellen & unbeschwerten Gang des alten Frauenzimmers verwundert, stapfte er ihr hinterher. Sie führte ihn durch das Moor; an Sumpftiefen & Dornbüschen vorbei - natürlich trat er in so manche rein -, über Steine hinweg, warnte ihn vor Schlangen & blieb nach kurzer Zeit stehen. Vor ihnen lag nun wieder der dichte Wald, durch den er gekommen war. Er kratzte sich am Kopf & brummte nachdenklich: >>Ah! Hier sind wir wieder!<<
>>Dahinter ist die Einsamkeit vorbei.<< sagte sie mit krächzender Stimme. >>Doch die Menschen wollen mich dort nicht.<< Sie deutete hinter ihm zu Boden. >>Wärt Ihr so freundlich? Dort liegen einige schöne Pilze.<<
>>Ja! Selbstverständlich!<< rief er hilfsbereit & legte die Axt ins Gras. Er beugte sich nieder & rupfte einige der weißen Pilze aus dem Boden. >>Sagt mir, altes Weib!<< rief er. >>Was meintet Ihr, als Ihr sagtet, die Menschen wollten Euch nicht?<<
Sie stellte sich neben ihn & deutete ein wenig abseits seiner Stelle. >>Dort sind auch noch Schöne.<< sagte sie. >>Die Menschen haben eben Angst vor einer Hexe. Ach, dort sind auch noch welche.<< Sie deutete wieder ein Stück weiter.
>>Einer Hexe?<< rief der Mann ungläubig, schon gar belustigt & zupfte weitere Pflänzchen aus der Erde. >>Ihr beliebt zu scherzen, altes Weib! Verkauft mich nicht für dumm! Mumpitz, das!<<
>>Nein, nein.<< sagte sie. >>Das ist schon wahr so. Aber das macht mir nichts mehr, nun bin ich ja nicht mehr alleine.<<
>>Altes Weib! Ich werde doch nicht für immer hierbleiben! Ich werde wieder gehen! Dann seid Ihr wieder alleine! So leid es mir tut!<<
>>Aber nein, mein hilfsbereiter Trottel.<< sagte sie kichernd. >>Ich meinte doch nicht Euch!<<
Nun wurde es dem Mann doch unheimlich. Er erhob sich & drehte sich zu der alten Frau um - und tat schreiend einen Schritt zurück. Hinter ihr schwebten in weiß leuchtenden Farben einige kleine Gestalten knapp über dem Boden. Ihre Haare waren weiß, ihre Augen schwarz & leer. Ihre Haut war ebenfalls weiß. Ihre leuchtenden Leiber umschlang ein Kleid aus dünnen, seidenen Streifen. Von Hals bis Fuß war es um ihre Körper gewickelt & ließ darunter ihre jungenhaften Körper sehen. Nicht älter als fünfzehn oder sechzehn Jahre mochten die sieben Gestalten sein, welche knapp über dem Boden schwebend näher auf ihn zukamen.
>>Geselle dich zu deinen Nachbarn!<< sagte die Hexe & kicherte.
Mit einem gellenden Schrei verlor der Mann das Gleichgewicht & fiel rücklings in eine breite, tiefe Sumpfstelle, zu der ihn dieses alte Weib wissentlich geführt hatte. Als er blubbernd & vergeblich um Hilfe schreiend in dem Matsch & Sumpfunrat versank, konnte er in einer der bleich leuchtenden Gestalten seine Tochter erkennen. Auch erkannte er die anderen Kinder der Nachbarn wieder. Die Hexe hatte sich ihre Einsamkeit vertrieben - auf Kosten der Menschen, von denen sie einmal fortgejagt worden war.
Diese ganze Situation & sein bevorstehender Tod stimmten ihn dadurch ein wenig versöhnlich, daß er seine Tochter gefunden hatte & auch die Suche nach seinen Nachbarn bald würde beenden können, die wohl allesamt auf dem Grunde dieses Sumpflochs lagen.
Er hatte sein Wort gegenüber seiner Frau zu zwei Dritteln gehalten - das war mehr, als er bisher einzuhalten in der Lage gewesen war.

(c) Patrick Rauch

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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