Unsere Literaturzeitschrift Schreib-Lust Print bietet die neun besten Geschichten eines jeden Quartals aus unserem Mitmachprojekt. Dazu Kolumnen, Infos, Reportagen und ...
Abreißen? Das konnte doch nicht wahr sein. Was irgendjemand da seiner Mutter durchs Telefon mitteilen wollte, musste etwas anderes sein, als Micha zunächst vermutet hatte. Er musste sich verhört haben. Schnell ging er in den Flur, um sich Klarheit zu verschaffen.
Er wartete gespannt darauf, dass seine Mutter endlich das Telefongespräch beendete.
Seine Mutter schaute ihn mitleidig an, als müsste sie ihm gleich etwas sagen, was er nicht gern hören würde. Oder bildete er sich das nur ein? Endlich legte sie den Hörer auf.
“Stimmt das? Unser Haus soll abgerissen werden?”, fragte Micha seine Mutter, bevor sie etwas sagen konnte, und starrte sie dabei aus großen angstvollen Augen an, als wollten diese noch hinzufügen: “Nun sag` bloß nicht nein!”
Seine Mutter schwieg eine Weile und begann dann, ihm die Haare zu streicheln.
Micha war erst 8 Jahre alt, aber in diesen 8 Jahren hatte er schon begriffen, was es bedeutete, wenn seine Mutter eine Antwort auf eine Frage derartig hinauszögerte. Sie brauchte nichts mehr zu sagen. Er hatte sich nicht verhört. Er hatte sich auch nichts eingebildet. Das alte Haus, in dem er seit seiner Geburt mit seinen Eltern lebte, sollte abgerissen werden. Tränen kullerten ihm über das Gesicht.
Seine Mutter wischte sie ihm ab. Dann ging sie in die Hocke und drĂĽckte ihn an sich.
Nun musste Micha bitterlich weinen. Er konnte sich nicht mehr beherrschen.
Nach einer Weile ließ ihn seine Mutter los und wollte ihm erklären, was Sache war.
Doch Micha wollte nichts hören. Er ging in sein Zimmer und wollte alleine sein. Er musste jetzt mit seinem Freund, dem alten Haus, sprechen.
Einfach so hatte er einmal mit dem alten Haus Kontakt aufnehmen wollen. Dann war er so verblüfft von der Tatsache gewesen, dass ein Haus sprechen und ihn verstehen konnte, dass er es gleich seinen Eltern hatte erzählen müssen.
Aber diese hatten nur gelacht. Sie hatten ihm nicht wirklich geglaubt. Aber beweisen hatte er es nicht können, weil das alte Haus aus Gründen der Vernunft, die Micha nie eingesehen hatte, nicht mit seinen Eltern sprach. So hatte er seinen Eltern bald gar nichts mehr von seiner Freundschaft mit dem alten Haus erzählt.
“Man will dich abreißen, altes Haus!”, rief Micha in seinem Zimmer. Sein Zorn gegen all diejenigen, die das vorhatten, war unüberhörbar.
“Ich weiß.”, brummte das alte Haus so ruhig, als hätte es nicht das Geringste dagegen einzuwenden.
“Wenn du das weißt, wie kannst du dann so ruhig sein?”, fragte Micha, der nun nichts mehr verstand.
“Ich bin sehr alt und meine Kräfte reichen nicht mehr aus, meine ganzen Teile zusammenzuhalten. Ich verfalle mehr und mehr.”
“Aber alles kann man doch reparieren.”
“Das kostet dem Eigentümer zu viel Geld. Ich bin für ihn kein lohnendes Geschäft mehr. Ich habe ausgedient. Es ist besser, wenn der Eigentümer mich abreißen lässt. Dann kann er ein neues Haus bauen.” Nun konnte man aber doch hören, dass dem alten Haus sein Abriss nicht ganz egal war. Es war tieftraurig, aber es sah ein, dass es nicht mehr weiterbestehen konnte.
“Ich werde es nicht zulassen, dass man dich abreißt.”, sagte Micha sehr bestimmend.
Das alte Haus fing an zu lachen. “Entschuldigung!”, gab es schließlich von sich. “Aber die Vorstellung, dass ein kleiner Junge wie du meinen Abriss verhindern will, ist wirklich lustig.”
“Du bist immer so vernünftig. Aber du wirst ja sehen, was ich bewegen werde. Wenn du das überhaupt verdient hast!”, konterte Micha und ging wutentbrannt aus seinem Zimmer.
Das alte Haus stutzte ein wenig über die feste Überzeugung, mit der Micha eine aussichtslose Sache verfolgte. Es wusste wohl, dass es aus Liebe zu ihm geschah. Es hätte ja selbst auch schreien können vor Schmerzen, die das wegen seines drohenden Untergangs und damit des Verlustes seines Freundes Micha auseinanderbrechende Herz ihm zufügte. Dennoch konnte es seinen Gefühlen nicht nachgeben. Es musste doch vernünftig sein. Es gab keinen Weg, der seinen Abriss verhindern konnte. In diesem Punkt war sich das alte Haus sicher. Wie konnte ihm Micha also seine Vernunft vorwerfen?
“Ich gehe ein bisschen an die frische Luft.”, sagte Micha und war dann auch schon verschwunden, noch ehe seine Mutter wieder damit beginnen konnte, Erklärungen abzugeben, wie das nun mit dem alten Haus war.
Von da an war Micha, gleich nachdem er seine Hausaufgaben erledigt hatte, jeden Tag stundenlang nicht zu Hause.
Seine Eltern, die ihm längst die scheinbar vernünftigen Gründe für den Abriss des Hauses dargelegt und ihm eines Abends sogar schon die baldige neue Wohnung gezeigt hatten, fragten nicht nach, wo er denn die ganze Zeit über steckte. Sie wussten ja, dass Micha sehr an dem alten Haus hing und sie wussten deshalb auch, dass er jetzt seine Ruhe nötig hatte, um den überaus schmerzenden Abschied verarbeiten zu können. Nur so würde er sich eines Tages in der neuen Wohnung genauso wohlfühlen wie in dem alten Haus.
Micha hingegen hatte überhaupt nicht vor, sich mit Gedanken zu beschäftigen, die in irgendeiner Weise mit dem Abriss des alten Hauses oder der neuen Wohnung zu tun hatten. Die ganze Zeit über unternahm er vielmehr etwas, was den Abriss des alten Hauses verhindern sollte.
Sein Vater kam auch bald dahinter, was Micha da in seiner Freizeit tat, und war ĂĽberhaupt nicht begeistert davon.
“Du kannst doch nicht einfach zu den Leuten gehen und Geld sammeln. Was hast du dir dabei bloß gedacht?”, schimpfte der Vater.
Micha weinte. “Ich will nicht, dass unser altes Haus abgerissen wird.”
“Erstens ist es nicht unser Haus. Wir wohnen hier nur zur Miete. Und zweitens geht es nicht anders. Das haben wir dir doch erklärt.”
“Aber das alte Haus ist doch mein Freund.”
“Ein Haus lebt doch nicht, Micha!”, beteiligte sich nun auch seine Mutter am Gespräch.
“Doch ich lebe!” Das alte Haus nahm seinen ganzen Mut zusammen, um diesen Satz über die Lippen zu kriegen.
“Was war denn das?”, fragte die Mutter, ängstlich um sich schauend.
“Das war mein Freund, das alte Haus.”, sagte Micha und strahlte vor Freude darüber, dass das alte Haus endlich einmal über seinen Schatten gesprungen war und ihm in seiner eigenen Angelegenheit helfen wollte.
“Es kann wirklich sprechen!”, gab der Vater von sich und lächelte seinen Sohn an, weil er plötzlich stolz auf ihn war, dass er sich so energisch für einen Freund einsetzte. Deshalb fügte er auch gleich hinzu: “Wir werden es nicht zulassen, dass du abgerissen wirst, altes Haus.”
Dann lächelten alle vier und das alte Haus sagte zu Micha schließlich noch: “Du hast Recht! Man muss auch manchmal unvernünftig sein.”
“Das stimmt nicht ganz.”, berichtigte der Vater. “Aber man sollte von Zeit zu Zeit überdenken, ob das, was man für unvernünftig hält, nicht vielleicht doch vernünftig sein könnte, und Umgekehrtes sollte man sich aber genauso immer wieder überlegen.”
“Man lernt doch selbst in hohem Alter noch dazu.”, sinnierte daraufhin das alte Haus, das sich den gerade gehörten Satz gut einprägte.
Gleich am nächsten Tag führten nun Micha und seine Eltern die Sammelaktion für das alte Haus, die Micha schon begonnen hatte, weiter. Tatsächlich brachte sie in wenigen Wochen so viel Geld ein, dass sie das alte Haus kaufen konnten.
Dieses staunte nicht schlecht, als es erfuhr, dass es so viele Freunde hatte. “Werde ich nun wirklich nicht abgerissen?”, wollte es sich noch vergewissern.
“Nein, du wirst niemals abgerissen.”, sagten Micha und seine Eltern gleichzeitig.
Aller vier waren von nun an so glĂĽcklich, dass es jeder ihnen deutlich ansehen konnte.
Und obwohl sich diese Geschichte schon vor vielen Jahren zugetragen hatte, erzählt man sie sich noch heute, sobald man ein glückliches altes Haus erblickt.
(c) Frank Tichy 2002
Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr Dieser Text enthält 7812 Zeichen.