Liebesgeschichten ohne Kitsch? Geht das? Ja - und wie. Lesen Sie unsere Geschichten- Sammlung "Honigfalter", das meistverkaufte Buch im Schreiblust-Verlag.
StoĂverkehr in Berlin. Ein kleiner Wagen hielt vor einer Ampel. Der Mann im Fahrzeug blickte ausdruckslos durch die Scheibe, wartete auf GrĂŒn, âdas Leben geht weiter - das Leben geht weiterâŠâ, eine Endlosschleife in seinem Hirn. Im Fond tobten Maike und Thorsten, fĂŒnf und sieben Jahre alt. Sie hatten sich ĂŒberraschend schnell mit dem Tod ihrer Mutter abgefunden, die vor einem Monat gestorben war. Ihm, Frank Holter, fiel es nicht so leicht. GrĂŒn. Der Fiesta fuhr an, bog nach einigen Minuten ab und verschwand in einer groĂen Halle. Kurz darauf schob sich ein Triebwagen aus dem StraĂenbahndepot und nahm Fahrt auf.
âPapi, wie weit ist es noch bis zu Oma?â Maike saĂ auf der ersten Bank, blickte durch das Fenster, sah, wie Menschen auf dem FuĂweg, wie GeschĂ€fte an ihr vorĂŒberzogen, dann drehte sie sich Thorsten zu und griff nach seinem Gameboy.
âLaĂ mich mal!â
Thorsten hielt das Spiel fest. âDazu bist du noch zu klein.â
âDrei Stationen noch. â Blödmann!â Frank schellte. Vor ihm ein Linksabbieger, der mit seinem Wagen, mitten auf die Schienen gestellt, das Ende des Gegenverkehrs abwartete.
âAm liebsten wĂŒrde ich rausspringen und dem Kerl eine langenâ. Dann sah Frank, es war eine Frau, und seine Gedanken sprangen um. âElke, meine Elke! Wie konntest du mir das antun! - Das Leben geht weiter. Das Leben geht weiterâŠâ.
Haltestelle. Ein paar Leute stiegen ein, blickten mĂŒrrisch, eine alte Frau kramte umstĂ€ndlich Euros aus der Geldbörse.
âPapi, warum fahren wir nicht weiter? Ich will zu Oma.â
âNoch zwei Stationen.â Frank fuhr wieder los.
Eine gerade Strecke, leicht erhöht und abgesetzt von den Fahrbahnen fĂŒr Autos. Die Bahn fuhr schneller und Frank lieĂ seinen Gedanken freien Lauf. âAm liebsten wĂŒrde ich alles in die Luft sprengenâ. Er hörte Maike plappern. âWie kann ich nur an so etwas denken! Das Leben geht weiter. Das Leben geht weiter. Warum sprenge ich nicht allesâŠâ. Der Gedanke hĂ€ngte sich an die Schleife. NĂ€chste Station.
âGuck mal, Thorsten. Ist der Mann dick!â
Ein paar Leute stiegen zu, darunter ein dicker Mann im Wettermantel, der sich die Stufen zwischen den Haltestangen empor zwÀngte. Der Triebwagen setzte sich wieder in Bewegung. Der Mann blieb neben Frank stehen und öffnete seinen Trenchcoat.
âDies ist eine Tram-EntfĂŒhrung! Sehen Sie den SprengstoffgĂŒrtel? Wenn Sie meinen Anordnungen Folge leisten, passiert Ihnen nichts, und die FahrgĂ€ste bleiben unversehrt. Fahren Sie die Tram jetzt vor das Bundeskanzleramt!â
Die StraĂenbahn folgte ihrem Schienenweg. Frank blickte stur nach vorn.
âNĂ€chste Station ist Endstation, mein Guter. Danach gibt es keine Schienen mehr.â
âDann fahren Sie ohne Schienen weiter! Fahren Sie mich zum Bundeskanzler-amt, oder ich jage uns alle in die Luft!â
Ein Wahnsinniger.
Frank beugte sich zum Mikrophon. âVerehrte FahrgĂ€ste, bitte halten Sie sich fest! Bitte halten Sie sich fest! Maike, Thorsten, hier spricht der Papi. Haltet Euch ganz fest!â
Er wandte sich an den dicken Mann. âIch sagte doch, hier ist Endstation. Sehen Sie mal nach vorn. Keine Gleise mehr.â
Der dicke Mann beugte sich vor und blickte angestrengt hinaus. Frank trat auf die Bremse, der Mann krachte mit seinem Kopf gegen die Scheibe und fiel zu Boden. Es rumpelte und polterte, als einige FahrgĂ€ste aus den Sitzen fielen. Frank drĂŒckte ein paar Knöpfe. Zischend öffneten sich die TĂŒren. Frank sah, der dicke Mann war bewusstlos. Blut lief aus seiner Nase. âDas Leben geht weiterâŠâ . Etwas leuchtete an seinem ExplosivgĂŒrtel, ein Timer, zeigte 20 Minuten an. Die Sekunden liefen rĂŒckwĂ€rts. âWarum sprenge ich nicht alles in die LuftâŠâ. Frank beugte sich ĂŒber das Mikrophon.
âAlle aussteigen. Endstation. Maike und Thorsten, steigt schnell aus und versteckt euch hinter der AnschlagssĂ€ule. In der StraĂenbahn ist eine Bombe, die explodiert gleich!â
Schreiend stolperten die FahrgĂ€ste durch den Gang, fielen ĂŒbereinander, als sie panikartig durch die drei TĂŒren ins Freie flĂŒchteten. Frank sah, dass Maike und Thorsten hinter die LitfaĂsĂ€ule liefen. Er beugte sich zu dem Mann hinab, der bewuĂtlos im FĂŒhrerstand lag, blickte wie hypnotisiert auf den Timer. Sein Blick schien wie festgeklebt: die Farbe der Leuchtdioden, hellrote Lava aus dem Portal zur Hölle, teuflische rĂŒckwĂ€rts rasende Sekunden, Minuten. Frank verharrte wie festgefroren ĂŒber dem SprengstoffgĂŒrtel des bewusstlosen Mannes, hörte nicht das Rufen und BrĂŒllen der Menschen, die um die StraĂenbahn herumstanden.
âKomm raus da! Spring aus dem Wagen!â
âWarum sprenge ich nicht alles in die LuftâŠâ
Wie von selbst machten sich Franks HĂ€nde am Timer zu schaffen.
âWarum sprenge ich nicht alles in die LuftâŠâ
Frank drehte die Minuten zurĂŒck: 18,âŠ10,âŠ5,âŠ1, richtete sich auf, hörte Schreie und Rufe, Polizeisirenen, sah heftig gestikulierende Menschen. Ein böser Traum, dann blickte er zu Boden, auf diabolisch leuchtende, rĂŒckwaertslaufende Ziffern: 49âŠ.45⊠Was hatte er getan!?
Voller Panik kniete er sich auf den Boden, versuchte, die Ziffern nach vorn zu drehen. Es ging nicht! 30, 29, 28⊠Er musste den Mann retten. Seine HĂ€nde machten sich an der GĂŒrtelschnalle zu schaffen. Er bekam sie nicht auf! 20, 19, 18âŠ
Frank blickte nach drauĂen, sah Maike und Thorsten, die sich aus dem Ring der Menschen lösten, auf die Tram zuliefen, und er stĂŒrzte laut rufend aus dem Wagen: âweg hier!, der Wagen explodiert!â, ergriff seine Kinder und rannte mit ihnen hinter die LitfaĂsĂ€ule.
Krachend schoss eine Stichflamme aus der Tram. Metallteile flogen durch die Luft. Fensterglas fiel von einem nahen BĂŒrogebĂ€ude auf die Strasse. Menschen brĂŒllten und liefen verschreckt davon. Maike und Thorsten klammerten sich weinend an ihren Vater.
âEs ist vorbei, Kinder.â Frank löste sich sanft von seinen Kindern und ging vor ihnen in die Hocke. Mit seinem Taschentuch wischte er ihnen die TrĂ€nen vom Gesicht. Lange hielt er sie in seinen Armen, dann kĂŒĂte er ihre Wangen und richtete sich erleichtert auf. Die Gedanken hatten aufgehört, in seinem Kopf zu kreisen. Er dachte nur eines: âMeine Kinder, ich muss sie von hier wegbringen!â
âHier ist der Spielplan fĂŒrs Kino. Mal sehen was es gibt.â
Frank studierte den Plan auf der AnschlagsÀule.
âSchaut mal, ein alter Film von Walt Disney, âDumbo, der Fliegende Elephantâ. Was haltet ihr davon, wenn wir uns den morgen ansehen? Und jetzt gehen wir zu Oma. Ich weiĂ, sie hat fĂŒr jeden von uns noch ein StĂŒck Erdbeertorte.â
Sie fassten sich an den HĂ€nden und gingen los. Das Ziel war klar, und sie sahen sich nicht mehr um.
(c) Klaus Eylmann
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