Sonntagmorgen. Frank Holter lag schon lange wach, ehe sich die ersten Sonnestrahlen des Morgens dem Fenster näherten. Seine Gedanken ließen ihn nicht schlafen. Als es hell wurde, schaute er auf das leere Bett neben sich und schob seine Hand hinein, als suche er etwas. Dabei war es schon lange her, dass er Hella, seine Frau, darin gesucht hat. Hella gab es nicht mehr; er war fünfunddreißig und Witwer. Seine Kinder, Maike und Thorsten, fünf und sieben Jahre alt, brauchten ihn jetzt nach dem Tod ihrer Mutter. Doch sie waren es nicht gewöhnt, dass er sich um sie kümmerte, sie verhielten sich zurückhaltend, klammerten sich nur verängstigt aneinander. Das bedrückte ihn. Wann würden sie ihn einmal umarmen, Schutz bei ihm suchen?
Wie konnte es dazu nur kommen? Hätte er Hella nachgeben und mit ihr vom Ostteil der Stadt in den Westen Berlins, in die Nähe ihrer Eltern ziehen müssen? Sie war hier, wo er sein Leben lang zu Hause war, nie heimisch geworden. Sie hatte nie sagen können, warum, aber sie fühlte sich fremd und sehnte sich dahin zurück, wo sie großgeworden war. Sie drängte ihn, Busfahrer zu werden. Aber er hatte es abgelehnt. Denn er liebte es, als Straßenbahnfahrer seine Bahn, der Linie sieben, den Schienen folgend durch die Stadt zu steuern und damit die Fahrgäste von einer Haltestelle zur anderen zu bringen. Im Westen Berlins gab es keine Straßenbahnen mehr.
Seine Weigerung, umzuziehen, hatte Hella ihm übel genommen, sie konnte es nicht verstehen. Viel Streit darum hatte es zwischen ihnen gegeben und sie wurde immer unzufriedener.
Vier Wochen war es nun her, als er von seinem Dienst heimkam und sie tot im Bett vorfand. Sie hatte sich das Leben genommen. Es wunderte ihn nicht einmal. Sie hatte es getan, während die Kinder bei der Großmutter den Tag verbrachten. Nur für ihre Kinder hatte sie neben der leeren Tablettenschachtel und dem Wasserglas einen Zettel hinterlassen, auf dem stand: „Verzeiht mir, liebe Kinder!“ Kein Wort an ihn, kein anklagendes, kein um Verständnis bittendes. Er wusste, sie hatte es so gewollt, er sollte sich schuldig fühlen, auch den Kindern gegenüber. Hatte sie das erreicht? Alles hatte sie mit den Jahren und ihrer zunehmenden Unzufriedenheit dazu getan, ihm die Kinder zu entfremden, so dass er ihnen nun hilflos gegenüberstand. War das ihre Rache gewesen, weil sie doch schon lange von Vanessa wusste?
Genau einen Tag vor ihrem Tod hatte er ihr erklärt, er werde sie und die Kinder verlassen, um zu Vanessa zu ziehen. Vanessa, seit langem seine heimliche Geliebte, hatte ihm alles gegeben, was Hella ihm schuldig geblieben war. Sie sprudelte vor Lebensfreude, während Hella ihm nur noch Misslaunigkeit gezeigt hatte.
Erst als ihm das unerträglich wurde, konnte Vanessa in sein Leben treten, er ihrer Anziehungskraft erliegen und in aller Heimlichkeit eine Liebe mit ihr beginnen. Er war süchtig danach geworden, ihren Körper zu spüren, ihren Duft zu atmen, in jeder ihrer Gesten zu erkennen, wie sehr sie ihn liebte. Dabei fragte er sich oft, was sie an ihm fand. Ein Adonis war er noch nie gewesen. Auch wenn er groß und kräftig war, so trug er schon einen kleinen Bauch vor sich her, über dem die Hemden spannten. Vanessa, das war sein Gedanke am Morgen, das war sein Gedanke am Abend gewesen. Doch nun, nach Hellas Tod, war ihm, zu seinem eigenen Erstaunen, Vanessa nicht mehr so wichtig.
Die Sonne versuchte schon, durch die Vorhänge am Fenster zu dringen. Er reckte Glieder und Muskeln seines kräftigen Körpers bis seine Zehen ans Fußende stießen. Noch war es sonntäglich still, kein Alltagslärm, auch von den Kindern nichts zu hören. Er warf das Deckbett zur Seite. Genug gegrübelt, aufstehen, nicht mehr denken! Er setzte sich auf, suchte mit den Füßen seine Pantoffeln, zögerte, noch lustlos aufzustehen, und kratzte sich das Schienbein.
Laut polternde Schritte über ihm, Gekeife, Streit. Frank fuhr zusammen, sprang auf. Die Kinder! Sie fürchteten sich jedes Mal, wenn sich das Ehepaar, das über ihnen wohnte, lautstark und handgreiflich zankten. So hatten sich Hella und er auch gestritten. Seitdem reagierten die Kinder schreckhaft bei jedem Krach. Zögernd blieb er einen Moment stehen. Lauschte, wartete darauf, dass die Kinder endlich einmal in ihrer Angst zu ihm kämen. Aber sie kamen nicht.
Hastig lief er hinaus durch den Flur zum Kinderzimmer. Oben krachte es; da flog Geschirr durchs Zimmer. „Ist ja gut!“, rief er schon beruhigend, als er die Tür öffnete.
Maike war zu Thorsten ins Bett geflüchtet. Da saßen sie, ihre blonden Köpfe aneinander geschmiegt, engumschlungen. Sie hielten sich fest, rückten sogar noch enger zusammen, als er mit großen Schritten an ihr Bett trat. Kein Ärmchen streckte sich ihm schutzsuchend entgegen. Er musste sich weit hinunterbeugen zu den Kindern, die sich vor ihm ganz klein zu machen schienen. Maike war doch noch so zart, er wollte sie in den Arm nehmen, aber sie wich ihm aus. Er setzte sich zu ihnen aufs Bett. Doch Thorsten, schon ganz der kräftige große Bruder, umfasste Maike nur noch fester. Ratlos sanken Frank die Schultern herab. Es lag ihm nicht, zärtlich zu sein, trotzdem versuchte er es. Mit seiner groben, breitflächigen Hand strich er Maike über das Haar. Das ließ sie zu.
Seit Hellas Tod bemühte er sich, das Vertrauen und die Zuneigung der Kinder zu gewinnen. Dazu hatte er sich sogar von seinem Dienst beurlauben lassen, um sich ihnen ganz widmen zu können. Aber was er auch tat, es gelang ihm nicht. Sie hielten aneinander fest und schlossen ihn aus.
„Was wunderst du dich? Du hast dich doch vorher nie um die Kinder gekümmert, hast alles Hella überlassen“, hatte die Schwiegermutter zu ihm gesagt.
Er wusste, sie gab ihm die Schuld an Hellas Tod. „Aber jetzt bin ich doch für sie da, jetzt ist es anders, das müssen die Kinder doch begreifen“, hatte er erwidert. Gerne hätte er noch gesagt: „Hella hielt sie doch von mir fern, als Strafe, weil ich ihre Launen nicht mehr ertragen konnte und zu Vanessa ging.“ Aber er hatte es nicht gesagt.
Oben war wieder Ruhe eingekehrt. Frank stand auf. Die Kinder lösten sich voneinander, krochen aus dem Bett und liefen aus dem Zimmer. Frank ging in die Küche und machte das Frühstück.
Sonntagmorgen, Sommer, die Sonne lachte zum Fenster herein und warf Schatten. Gut gelaunt holte Frank den Piknickkorb aus der Kammer und sagte zu den Kindern, als sie in der Küche am Tisch saßen: „Heute fahren wir zum Baden an den Müggelsee. Ich denke, das wird euch Spaß machen.“ Erwartungsvoll sah er sie an.
Schweigen. Maike schlürfte ihren Kakao; Thorsten kaute lustlos auf seinem Brot. Keinen Blick warfen sie ihm zu, ablehnend war ihre Haltung.
„Wir können auch hier bleiben!“, sagte Frank gereizt und drehte sich um, als wollte er den Korb in die Kammer zurückbringen.
„Nein, nein!“, rief Thorsten hastig und sah kurz auf, ehe er sich seiner Schwester zuneigte und ihr etwas ins Ohr flüsterte.
Frank biss die Zähne zusammen. Er fühlte sich wieder ausgeschlossen bei diesem Getuschel. Schweigend packte er den Picknickkorb für den Ausflug. Hinter ihm die Kinder redeten miteinander, aber mit ihm nur, wenn sie es mussten.
Maike hatte ihren schon arg kaputtgeliebten Pandabären Pu mit den großen Knopfaugen neben sich gesetzt. Ohne ihn ging sie nirgends hin. Es war, als hielte sie sich an ihm fest, weil sie wohl sonst nicht wusste, an wem sie sich noch festhalten konnte.
„Nimmst du den blöden Pu wieder mit?“, fragte Thorsten.
„Der ist nicht blöd!“
„Und ob!“
„Deine Gummi-Ente ist zehnmal doofer!“, trotzte Maike.
„Ha! Aber die kann schwimmen. Der Pu nicht!“
„Könnte der Pu doch, wenn er wollte. Bäh!“, sie streckte ihm die Zunge raus.
„Das werden wir sehen! Ich schmeiß ihn ins Wasser.“
„Das tust du nicht!“, wütend hob Maike ihre Hand gegen Thorsten. Wollte nach ihm schlagen, holte aus, traf ihr Glas mit Kakao und warf es um. Es spritzte, floss über den Tisch und kleckerte braun und klebrig vom Tisch herunter auf ihre Sachen.
Die Kinder sprangen auf.
Frank hörte auf, den Imbisskorb zu packen, er drehte sich um. Er sah die Kinder erschrocken vor ihm zurückweichen. Darüber fühlte er einen unbändigen Zorn in sich aufsteigen. „Verdammt, kannst du nicht aufpassen!“, fuhr er Maike an. Das brach einfach aus ihm heraus.
Er sah, wie sie Hilfe suchend nach der Hand ihres Bruders griff. Das reizte ihn noch mehr. „Und du, musst du deine Schwester so ärgern?“, schrie er erregt.
Stumm und verängstigt sahen die Kinder ihn an, drehten sich um und rannten Hand in Hand aus der Küche.
Frank ließ sich am Tisch auf einen Stuhl fallen, stützte den Kopf in seine Hände. Tropf, tropf, der Kakao tropfte noch immer neben ihm vom Tisch auf den Boden. Die angebissenen Brote der Kinder lagen verschmäht auf den in der Kakao-Pfütze stehenden Tellern. Sogar Pu, der Pandabär, saß noch, wie vergessen, auf seinem Stuhl.
Frank fühlte sich leer und ratlos. Vier Wochen lang hatte er es geschafft, den Kindern gegenüber ruhig und gelassen zu bleiben, um ihre Zuneigung zu werben. Es war ihm nicht gelungen. Und nun? Nun hatte er sie sogar angeschrieen. Damit konnte er sie doch schon gar nicht gewinnen. Sollte wirklich alles vergeblich sein?
Wie es auch sei, es musste weitergehen, auch wenn die Kinder ihm immer fremd blieben. Er war deprimiert, machte Tisch, Stuhl und Boden sauber und räumte das Frühstücksgeschirr weg. Aus dem Kinderzimmer war kein Laut zu hören. Er nahm Pu und ging zu ihnen. Dicht beieinander saßen sie. Als Frank eintrat, legte Thorsten seinen Arm um Maike, so, als wollte er sie vor Schlägen schützen.
‚Welches Bild von mir hat Hella den Kindern nur eingeprägt? Und ich habe nichts dagegen getan’, dachte er. Dann hielt er Maike Pu entgegen. „Du hast ihn vergessen. Hast du ihn noch nicht vermisst?“
Scheu löste sich Maike von Thorsten und kam ihm entgegen, nahm ihren Pu in den Arm. Auch Thorsten schien erleichtert zu sein, dass Frank nichts mehr zu dem verschütteten Kakao sagte. Er stand sofort auf, als Frank zum Aufbruch mahnte. Sie suchten noch ihre letzten Sachen zusammen, die sie unbedingt mitnehmen wollten, und folgten ihm dann zum Auto.