Mainhattan Moments
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April 2002
Vorher, nachher und nie wieder
von Birgit Erwin


Er hatte nach Jahren wieder an das scharfe kleine Gesicht seiner Schwester denken müssen. An ihre Augen, die irgendwie auch Mutters Augen waren.

"Papa ist tot", hatte sie geschrieben, " ich hoffe, du bist zufrieden. Maike."


Er fühlte, wie die Mitglieder des Aufsichtsrates ihn verstohlen musterten. Es irritierte ihn, dass er sich nicht auf die Tagesordnung konzentrieren konnte. Seine Gedanken machten ihn verletzlich und schwach, und Schwäche ängstigte ihn. Dr. Thorsten Holter wusste, wie tief ein Mensch fallen konnte.
Der Brief brannte in seiner Tasche und rief ihn mit einer Stimme, die er lange nicht gehört hatte.

"Thorsten!"
"Ja, Papa?"
"Marsch - in die Schule."
"Ooch..."
Aber der Protest war nur die pflichtschuldige Reaktion eines Siebenjährigen auf das Wort "Schule", denn Thorsten Holter liebte den Schulweg. War er doch der einzige Junge, der von seinem Vater mit der Straßenbahn in die Schule gefahren wurde.
Er küsste Mutter flüchtig auf die Wange, denn er war ein Mann wie Papa, und Küsse waren Weiberkram. Aber die Schokolade, die sie zu seinem Pausenbrot gepackt hatte, die nahm er doch.
"Tschüss, Mami", sagte er großartig, während er zusah, wie sein Vater die makellose blaue Uniformjacke anzog und die schwarze Tasche umhängte. "Wir gehen jetzt zur Arbeit."
Mutter lächelte.

"Herr Direktor - ist Ihnen nicht gut?"
Die Gegenwart war grau: Graue Anzüge eines grauen Aufsichtsrates vor dem Grau des Himmels.
"Natürlich geht es mir gut", sagte er kalt. Manfred G. Schulze, Abteilungsleiter und graue Obermaus, schreckte zurück und verkroch sich hinter seinem Print-Out. Direktor Holter fuhr sich mit der Hand über die Stirn und fühlte Schweiß.

"Geht es Mami nicht gut?"
Nur eine leichte Erkältung, sagte Papa. Papa musste es wissen. Papa wusste alles.
"Warum muss sie dann ins Krankenhaus?" fragte Thorsten trotzdem.
"Das ist nur zur Vorsicht." Papas schöne Uniformjacke war zerknittert, und er trug keine Krawatte. Dieser Anblick ängstigte Thorsten mehr als alles andere.
"Kannst du sie nicht mit der Straßenbahn hinfahren?"
Papa hatte nur den Kopf geschüttelt, hatte die kleine Maike auf den Arm genommen, die leise vor sich hinschluchzte, weil die Männer in Weiß ihr Angst machten, und war in die Küche gegangen.
Thorsten hatte auch Angst.
Wenn Papa Mami in der Straßenbahn mitgenommen hätte statt sie den weißen Männern zu überlassen, dann wäre alles gut gewesen. Die Straßenbahn hatte ein freundliches, grünes Gesicht, und wenn sie bimmelte, wusste Thorsten, dass sie lachte. Das weiße Auto unten begann zu heulen und zu blinken, dann war es fort und Mami auch.
Warum hatte Papa Mami nicht mitgenommen? Hatte er sie denn nicht mehr lieb?
"Papa?" Seine Stimme klang in seinen eigenen Ohren kläglich.
"Jetzt nicht, Thorsten", sagte sein Vater.

Mami war nicht wiedergekommen. Auch die Straßenbahn war aus seinem Leben gerattert, während Papa immer häufiger zu Hause blieb und immer häufiger sagte: "Jetzt nicht, Thorsten."
Dick war er geworden, sein Gesicht rot, und seine Hände zitterten, wenn er die Bierflasche ansetzte und dabei den Sportkanal wechselte. Er trug die Uniformjacke nicht mehr. Sein Hemd war meistens fleckig.
Thorsten fuhr nie wieder Straßenbahn. Als er schließlich nach Hamburg ging, um BWL zu studieren, nahm er ein Taxi. Leisten konnte er sich das nicht, aber die Geste war ihm wichtig, denn er wusste, dass sie hinter dem Fenster standen und ihn beobachteten. Er blickte nicht zurück, auch nicht, um seiner Schwester Maike zuzuwinken, die ihren versoffenen, nichtsnutzigen Vater immer noch verteidigte, obwohl er zugelassen hatte, dass Mutter starb und die Straßenbahn in der Nacht verschwand.

Jetzt war Frank Holter tot.

Thorsten versuchte, sich einen alten, fettleibigen Arbeitslosen mit Säufernase vorzustellen und konnte es nicht. Papa ist tot, hatte Maike geschrieben - Papa war fünfunddreißig, dunkelhaarig und schlank in der blauen Uniform. Fünfunddreißig, als sie seine Frau mit einem Gehirnschlag ins Krankenhaus brachten und ihn mit zwei kleinen Kindern zurückließen.
Fünfundvierzig, als sein Sohn ihm seine Verachtung das erste Mal ins Gesicht schrie.
Fünfundfünfzig, als er von Bekannten erfuhr, dass Thorsten seinen Doktor mit Auszeichnung gemacht hatte.
Fünfundsechzig, als er starb.

Was habe ich getan, dachte Thorsten.

"Meine Herren", sagte er laut und acht graue Mäuse starrten ihn verschreckt an. Er konnte sich selber in ihren Augen sehen, einen Tyrannen, mehr Maschine als Mensch.
"Ich muss diese Sitzung vertagen." Er holte Luft und sah Schulze ins Gesicht. "Es geht mir nicht gut."
Dann verließ er das Besprechungszimmer, ohne sich umzublicken.
Auf der grauen Straße suchte er einen Münzfernsprecher. Sein Handy hatte er im Büro vergessen. Er wählte, ehe ihn der Mut verließ.
"Monica Holter-Streebe?"
In die weiche, kultivierte Stimme seiner Frau hatte er sich zuerst verliebt.
"Ja? Wer ist denn da?"
"Mein Vater ist gestorben."
Einen Augenblick herrschte Stille in der Leitung, dann: "Thorsten? Bist du das? Hast du mir nicht erzählt, dein Vater sei tot?"
In seinem Hals bildete sich ein Klumpen.
"Ich weiß, aber... Bist du heute Nachmittag zu Hause, Monica?"
"Ich wollte eigentlich zum Friseur..."
"Sag es ab, bitte. Ich möchte mit dir reden. Ich möchte... bitte, Liebling."
Und während er auf Monicas Antwort wartete, lauschte er, ob nicht irgendwo eine Straßenbahn bimmelnd lachte.
Denn dann hätte er glauben können, dass Frank Holter seinem Sohn die letzten dreißig Jahre verzieh.

(c) Birgit Erwin

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