Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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April 2002
Die Mumie
von Katja Obring


„Mann, das ist ja lustig, dass ich dich heute treffe.“
Frank blickte auf von seinem Kleingeldwechsler und erkannte Martina, eine alte Schulfreundin seiner Frau. Er schluckte.
„Hallo, Martina.“ Das Kratzen in der Kehle räusperte er weg. „Wie geht’s denn so?“
„Ach, naja, so lala, eher. Hab endlich die Scheidung durch, Mann, bin ich froh, dieses Arschloch endlich los zu sein. Und, wie läuft’s bei dir und Sabine? Ich hab sie ja letztlich gesehen, unten an der Spree, aber sie hat mich nicht gehört, und ich hatte es eilig ... wann war das nur ... letzte Woche, glaub ich.“
„Letzte Woche? Sabine? Das kann eigentlich nicht ...“
Da dröhnte ein Schlag dazwischen, geführt mit einem Gehstock gegen seine Kasse. Die ältere Dame hinter Martina hatte offensichtlich genug vom Warten. Frank schob Martina Wechselgeld und Fahrschein hin, sagte noch: „Kannst mir ja mal deine Nummer geben, dann melden wir uns“, woraufhin sie eine Visitenkarte zückte und antwortete: „Ja, gern, da freu ich mich. Grüß mir die Sabine.“ Damit verschwand sie in den Innereien der Straßenbahn, und die alte Dame hinter ihr kam hereingehumpelt, hielt ihm ihren Schwerbehindertenpaß vor die Nase und nölte: „Da sitzt jemand auf dem Sondersitzplatz, können sie nicht was tun?!“
Frank schloss die Türen, rief über die Schulter: „Nun lassen sie die Frau doch sitzen!“ und setzte die Bahn in Betrieb.

Den ganzen Tag ging es ihm nicht aus dem Kopf, letzte Woche habe ich die Sabine gesehen, unten an der Spree – was meinte sie mit „unten an der Spree“? War sie spazieren gewesen? Oder war sie in ein Museum gegangen? Sabine war häufig ins Museum, das bildet das ästhethische Empfinden, hatte sie immer gesagt. Die Kinder hatte sie meist mitgenommen, die gingen am liebsten in die Ägyptenausstellung. Vielleicht hatte Martina aber auch gesehen, wie sie in einem Bistro draussen in der Sonne gesessen hatte ... ein schrilles Bimmeln riß ihn aus den Gedanken, beinahe wäre er in eine andere Bahn gekracht, er hatte das Signal überfahren. Es wird Zeit, dass ich mir ein bisschen Urlaub nehme, dachte er, ich bin ja gemeingefährlich. Also sprach er mit dem Personalchef, direkt nach der Schicht, als er seine Bahn im Depot ablieferte.
Der Personalchef sah ihn mitleidig an.
„Mensch, Holter, ich frag mich sowieso schon die ganze Zeit, warum du dir nicht Urlaub genommen hast, jetzt mit der Beerdigung und den Kindern und all dem ...“
„Die Kinder sind okay, meine Mutter ist ja da, sie hat die Einliegerwohnung, da kann sie sich schon um die beiden kümmern.“
„Aber du, Mensch Holter, du bist doch nicht okay.“
Frank starrte ihn nur an, dann zuckte er die Achseln und sagte: „Beerdigung ist morgen, Ostkirche, 10 Uhr.“ Damit drehte er sich um und schlug den Weg nach Hause ein. Heute würde er laufen, den Wagen hatte er zu Hause gelassen, falls seine Mutter Besorgungen machen müsste im Laufe des Tages. Wo lang sollte er gehen, Promenade oder Allee? Er entschied sich für die Promenade, die ihn am Spreeufer entlang führen würde. Der Himmel spiegelte sich auf der Wasseroberfläche, leuchtendes Blau zerrissen von weißen Wolkenfetzen, so weiß, dass sie im Wasser erschienen wie Löcher ins Nichts, nur noch gleißendes Licht. Ein frischer Wind zupfte kleine Wellen auf, die schaumgekrönt ans Ufer peitschten. Wo mochte Sabine gewesen sein als Martina, wohl auf der anderen Seite, an ihr vorbeigewandert war? Dort unten, am Anleger, wo man Eis kaufen konnte? Aber Sabine hasste Eis, und von den Kindern war nicht die Rede gewesen. Vielleicht hatte sie auch hier in diesem Cafe gesessen. Frank setzte sich auf einen Platz in der Sonne, nahe am Geländer zum Wasser hin, und bestellte ein Bier. Als die Bedienung es vor ihm abstellte, zückte er seine Brieftasche, aber anstatt ihr die 4,30 Euro zu geben, nahm er ein Foto von Sabine heraus.
„Haben sie diese Frau hier letzte Woche bedient? Ich lass es mich auch was kosten.“
Das Mädchen zuckte entschuldigend mit den Achseln.
„Letzte Woche hab ich hier noch gar nicht gearbeitet, tut mir leid.“
Frank lächelte. „Macht doch nichts, da kann man nichts machen, hier, fünf Euro, stimmt so.“
Er trank sein Bier aus, winkte der Bedienung zum Abschied und schlenderte weiter. Da vorn war die Museumsinsel, dahin war sie immer mit den Kindern. Wann war er eigentlich das letzte Mal in diesem Museum gewesen? Es musste Jahre her sein, jedenfalls bevor Maike geboren worden war, Thorsten lag noch in den Windeln, so fünf oder sechs Jahre? Jedenfalls hatten sie zusammen die Tut-Ench-Amun Ausstellung besucht, verheiratet seit drei Jahren, aber immer noch wie die Turteltäubchen, waren sie händchenhaltend durch die Räume spaziert und hatten sich ausgemalt, wie es wohl gewesen wäre, wären sie im alten Agypten geboren worden.
„Wusstest du,“ hatte Sabine ihn gefragt, „dass damals häufig der Ehegatte mitbestattet wurde, wenn der Herrscher gestorben ist?“
„Wie denn, die haben den Partner umgebracht?“
Sabine hatte gelacht. „Nein, die haben – meist die Frauen, ist ja klar – sie lebend mit eingemauert im Grab. Manchmal haben sie ein Flakon mit Gift gekriegt, aber die meisten sind einfach mit eingemauert worden.“
Frank hatte sich geschüttelt. „Wenn ich mal sterbe, werde ich dich nicht mit ins Grab nehmen, dass verspreche ich dir.“
Erneut erklang Sabines Lachen, das Lachen, das sich anhörte wir rieselndes Wasser, quirlig und irgendwie silbrig. „Das geht auch heute nicht mehr, Gott sei Dank.“

Später, beim Abendessen, fragte seine Mutter ihn, ob er sich für den nächsten Tag frei genommen habe.
„Ja, klar Mama, ich hab meinen Resturlaub eingereicht. Ich muss die nächsten zwei Wochen nicht in den Betrieb. Danke, dass du dich so lange um die Kinder gekümmert hast.“
„Und was wird dann, nach den zwei Wochen? Frank, ich helfe dir ja gern, aber ich habe drei Kinder groß gezogen, ich bin jetzt zweiundachtzig Jahre alt, ich schaff das nicht noch mal.“
„Mama, ich weiß, ich werde eine Lösung finden ... heute habe ich Martina getroffen, du weißt schon, Sabines alte Freundin aus der Schule. Sie erzählte mir, sie habe Sabine letzte Woche bei der Museumsinsel gesehen ... „
Er ließ die Schultern hängen. Seine Mutter musterte ihn scharf, doch bevor sie etwas sagen konnte, sprach er schnell weiter: „Auf dem Heimweg bin ich die Spree lang, und hab nach ihr gesucht – weißt du, was ich gefunden habe? Erinnerungen, jede Menge Erinnerungen. Ich will aber keine Erinnerungen, ich will Sabine zurück, ich will Sabine, ich will ...“
Seine weiteren Worte verloren sich in Schluchzen, und zum ersten Mal seit ihrem Tod vor vier Wochen, zum ersten Mal seit die tückische Krankheit sich zu Erkennen gegeben hatte, lief es aus ihm heraus, all die Trauer, die Verzweiflung, die Wut, die Hilflosigkeit. Seine Kinder starrten ihn über den Tisch hinweg an, seine Mutter legte ihm den Arm um die Schultern, und alle warteten schweigend auf das Ende des Ausbruchs. Er weinte und weinte, und es schien ewig zu dauern, bis er endlich leer war. Als es soweit war, wischte er sich mit dem Ärmel Rotz und Tränen aus dem Gesicht, räusperte sich und sagte: „Wollen wir morgen mal ins Museum, nach der Beerdigung? Und irgendwo ein Eis essen?“


(c) Katja Nathalie Obring

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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