Ganz schön bissig ...
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April 2002
Unter der Stadt
von G. K. Nobelmann


Mein Vater war immer eine Schattengestalt für mich. Zum einen lag das an seinen Arbeitszeiten – der Schichtdienst führte dazu, daß wir nie ein normales Familienleben hatten. Und selbst, wenn er da war, war mein Vater weit weg.
Das ist der zweite Grund, weshalb er mir fremd blieb. Er war ein Eigenbrötler; jemand, der sich selbst genügte. Ich glaube nicht, daß er Kinder gewollt hatte. Daß meine Schwester und ich auf der Welt waren, hatten wir meiner Mutter zu verdanken. Sie muß der einzige Mensch auf der ganzen Welt gewesen sein, den mein Vater liebte; den er brauchte. Umso härter traf es ihn, als sie verschwand.
Ich erinnere mich an einen stickigen Sommer, an lange Wochen unter einer schwülen, luftlosen Dunstglocke. Mein sechster Geburtstag fiel auf einen Mittwoch; meine Freunde waren weggefahren, und ich feierte allein mit dem Frauentrio, das meine Familie darstellte – meine Mutter, meine jüngere Schwester und meine Oma.
Eine Pyramide eingewickelter Geschenke stand für mich bereit, die ich eins nach dem anderen auspackte. Insgeheim war ich enttäuscht, denn ich hatte mir ein Fahrrad gewünscht, das eine, das man haben mußte in jenem Jahr – ein BMX-Rad. Aber nicht einmal meine Mutter konnte ein Fahrrad so einwickeln, daß es nicht aussah wie ein Fahrrad, und so freute ich mich tapfer über die Kinderschallplatten und Spiele, den neuen Fußball, das Junior-Lexikon.
Meine Schwester beobachtete mich stumm, einen Daumen zwischen den Kiefern, die graugeliebte Stoffpuppe unter dem Arm. Wir verstanden uns nicht besonders, sie war mir zu dumm und zu anhänglich, und überhaupt hätte ich lieber einen Hund gehabt statt einer kleinen Schwester, aber an diesem Morgen lernte ich sie zu lieben. Denn kurz, nachdem ich die letzte Legoschachtel ausgewickelt und zu den anderen Spielsachen gelegt hatte, meinte meine Mutter: “Und du, Maiki? Hattest du nicht auch noch ein Geschenk für deinen Bruder?”
Meine Schwester nickte, ohne den Daumen aus dem Mund zu nehmen. Sorgfältig setzte sie die Puppe auf den Klavierhocker, griff mit einer klebrigen Hand nach meinem Arm und zog mich nach draußen, zur Garage.
Auffahrt und Garage waren leer, der Wagen auf dem VRS-Angestelltenparkplatz, wo mein Vater ihn abgestellt hatte, aber nein... dort, über dem alten Ölfleck auf dem Betonboden, da stand es, neu und glänzend und vollkommen richtig – mein BMX-Rad! Ich stand da und starrte. Meine Mutter trat hinter mich, eine Hand auf meiner Schulter. “Na? Freust du dich, Thorsten?”
Ich fuhr herum und umarmte sie, mein Gesicht an ihrem Bauch. Den Rest des Tages mähte ich auf meinen Stollenreifen durch die hitzegelähmten Straßen von Vilich, und wenn ich sagen könnte, meine Geschichte endete damit, wie ich einsamer Held in den Sonnenuntergang radelte, wäre ich zufrieden.
Zwei Wochen später fuhr meine Mutter zum Einkaufen und kam nicht wieder.
Sie hatte die Bahn in die Bonner Innenstadt genommen; meine Tante sollte im September heiraten, und meine Mutter suchte ein Kostüm, in dem sie als Trauzeugin eine gute Figur machen würde. In einem der Kaufhäuser lief sie einer Bekannten über den Weg; sie tranken einen Kaffee zusammen, meine Mutter zeigte die Bluse vor, die sie gekauft hatte, und dann brachte sie ihre Freundin noch den kurzen Weg zum Büro.
Sie sah verschwitzt aus, sagte die Freundin später, aber fröhlich; die Bluse war cremeweiß gewesen, mit Perlmuttknöpfen und einem runden Kragen. Mehrere Studenten erklärten, eine Frau, auf die die Beschreibung meiner Mutter paßte, im Hofgarten sitzen gesehen zu haben, allein. Vom Hofgarten sind es nur ein paar Meter zur Haltestelle der Linie 66, derselben Bahn, die mein Vater täglich von Bad Honnef nach Siegburg und zurück lenkte, und die drei Straßen von unserem Haus hielt. Niemand sah meine Mutter in der Station, die unter der Erde lag und angenehm kühl hätte sein müssen. Niemand sah meine Mutter in der Bahn. Eben saß sie noch auf ihrer Bank; dann war sie fort, wie vom Erdboden verschluckt.
Ich begriff nicht, daß sie nicht wiederkam. Ein Teil von mir begreift es heute noch nicht. Es war, als wäre die Sonne vom Himmel gefallen. Meine Oma zog bei uns ein und versorgte uns; kochte, putzte, legte uns die Sachen raus und achtete darauf, daß wir pünktlich zur Schule kamen. Die Brote, die sie machte, schmeckten mir nicht; viel lieber hätte ich wieder die Stullen gehabt, die meine Mutter mir mitgegeben hatte, die hastigen Kombinationen von Schmierkäse und Radieschen oder Marmelade mit Schokostreuseln.
Bis heute ist unklar, was mit meiner Mutter geschehen ist. Die Wochen verstrichen, ohne daß man eine Spur von ihr gefunden hätte. Viele glaubten – wollten glauben –, daß sie Mann und Kinder sitzengelassen hatte. Vielleicht gab es irgendwo einen Liebhaber, mit dem sie zusammenlebte, unter anderem Namen, in einer Großstadt.
Meine Tante heiratete im September, mit einer Fremden als Trauzeugin. Meine Mutter blieb verschwunden.
Das Schlimmste, neben der Einsamkeit, war die Ungewißheit. Wir konnten nicht um sie trauern, denn das hätte bedeutet, daß wir sie aufgegeben hatten; und ich konnte sie nicht aufgeben. Sie war meine >Mutter<. Ich brauchte sie. Aber warum kam sie dann nicht zurück? Ich fuhr ganze Nachmittage auf meinem Rad durch die Gegend, bis weit hinaus in die Felder, und suchte nach ihr, meiner Sonne. Ab und zu, wenn ich allein zu Hause war, wählte ich blindlings Nummern auf der Drehscheibe des Telefons und fragte wildfremde Menschen, ob sie sie gesehen hätten.
Nach außen hin veränderte sich für meinen Vater am wenigsten. Er ging weiterhin zum Dienst, aber er nahm jetzt noch öfter als sonst die Nachtschicht. Kam irgendwann im Morgengrauen nach Hause, legte sich ins Bett und verschlief den Tag, bis er wieder losmußte. Es gab ganze Wochen, in denen unsere Pfade sich nur minimal kreuzten.
Im Oktober wurde meine Schwester fünf, und zum erstenmal in meinem Leben verspürte ich eine echte, tiefe Zuneigung für sie, wie sie verheult am Tisch saß, vor sich einen Kuchen mit fünf Kerzen. Nur sie und ich und Oma. Dann kam Weihnachten, aber es war nicht Weihnachten, nicht wirklich. Ich hatte meiner Mutter ein Geschenk gebastelt und unter den Tannenbaum gelegt, in der stillen Hoffnung, sie käme heim; wenn nicht zu Weihnachten, wann dann?
Im Juni, 344 Tage, nachdem meine Mutter sich auf einer Bank im Hofgarten ausgeruht hatte, stießen Gleisarbeiter in einem der Tunnel unter dem Hauptbahnhof auf eine mumifizierte menschliche Hand. Der Hauptkommissar, der die Suche nach meiner Mutter geleitet hatte, stand in unserem Wohnzimmer und machte ein Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. Aber meinem Vater machte es nichts aus; mein Vater >wollte< die Hand sehen.
Ich kenne sie nur von Fotos, grauen, körnigen Zeitungsfotos, die ihr Objekt noch fremder aussehen lassen – eine schlanke, seltsam langgezogene Hand, am Gelenk sauber abgetrennt, als wäre der Arm der Frau unter einen Zug geraten; denn es ist eine Frauenhand, soviel immerhin wußten sie. Sie wirkt trocken und klamm, leicht und schwer gleichzeitig. Die Nägel, schmal und nach innen gewölbt, laufen aus in starre, dunkle Krallen.
Mein Vater nahm die Hand und drehte sie, als wolle er ihre Linien lesen; er hielt sie unter die Lampe und deutete auf eine winzige Narbe am Daumenballen, und eine weitere, kaum erkennbare quer über der Kuppe des kleinen Fingers. Er liebte meine Mutter so sehr, daß er jedes Mal, jede Lebensspur an ihrem Körper kannte; und er hatte sie gefunden.
Ich glaube, das war der Tag, an dem meine Großmutter anfing zu sterben. Sie durchsuchten die Tunnel mit Leichenhunden, aber die Hand blieb alles, was das labyrinthene Dunkel von meiner Mutter hergab. Wir wußten nun, daß sie tot war, daß sie vermutlich seit jenem letzten Sommertag tief in den Schächten unterhalb der Stadt gelegen hatte, wo die Fenster der vorbeirasenden Züge den einzigen Lichtschein warfen. Es sollte noch Jahre dauern, bis meine Oma unter demselben Stein wie ihre Tochter beigesetzt wurde, aber von diesem Nachmittag im Juni an lief sie aus wie eine Uhr, die man vergessen hatte aufzuziehen, jeden Morgen ein bißchen langsamer, müder als am Abend davor.
Und mein Vater verlor den Verstand.
Er kam kaum noch nach Hause; selbst seine freien Tage verbrachte er in der 66, als Passagier, oder er lungerte in einer der unterirdischen Stationen herum. Die Linie 66 verbindet eine Handvoll kleiner Nester mit der Bonner Innenstadt, und der Großteil ihrer 37 Haltestellen liegt unter freiem Himmel, verschlafene kleine Bahnhöfchen mit zwei Gleisen; aber in Bonn fährt die 66 für sechs Stationen hinunter in den Bauch der Stadt – eine lange, rumpelige Fahrt durch betonumkapselte Finsternis, kurz unterbrochen durch die grün oder orange gekachelten Hallen mit ihrem Neonlicht. Dort, auf einer der Holzbänke, kauerte mein Vater, die gefalteten Hände zwischen die Knie geklemmt, inmitten der Studenten und alten Damen und der Mütter mit Kleinkindern. Immer am äußersten Rand der Plattform, auf der letzten Bank vor dem schwarzen Rachen des Tunnels. So saß er, im Hauptbahnhof, oder der Haltestelle Juridicum, oder Museum König, bis er irgendwann in eine Bahn stieg und seine vertraute Tour abfuhr, verkürzt auf die sechs Neonhallen auf ihrer Schnur von Nacht. Bevor die 66 ihren Weg an die Sonne holperte, stieg er aus, um erneut seine Mahnwache aufzunehmen oder auf den nächsten Zug zurück durch den Tunnel zu warten.
Das waren seine freien Tage; von der ersten Bahn, die fuhr, bis zur allerletzten, zwischen eins und halb zwei. Die Menschen im Zug mußten ihn für einen Obdachlosen halten, in seinen speckigen Hosen, dem fadenscheinigen Jackett; in seinen Augen lag ein Glühen, als würde er sich um das letzte bißchen Verstand saufen, aber er trank nicht, er suchte nur, Tag und Nacht suchte er.
Seine Vorgesetzten ließen ihn gewähren, weil man Mitleid für ihm empfand. Frank brauche Zeit, hieß es. So einen Schlag stecke man nicht einfach weg. Und er wäre immer noch ein guter, verläßlicher Fahrer. Meine Oma machte das wütend. Den Leuten vom VRS fiel es leicht, nachsichtig zu sein. Sie wußten nicht, was meine Oma wußte – daß mein Vater Ausschau hielt. Nach den Bewohnern der Tunnel.
Er war kein heimlichtuerischer Mann; auf seine Art war er nur zu bereit, über das zu sprechen, was er entdeckt zu haben meinte. Nachts konnte ich Oma und Vater hören, wie sie sich unter mir stritten. Ihre Stimmen drangen durch die dünne Zwischendecke nach oben, dumpf und schwer zu verstehen. Dem Tonfall zum Trotz beruhigten die nächtlichen Gespräche mich, immerhin wußte ich so, daß die letzten Erwachsenen, die mir geblieben waren, noch in meiner Nähe waren. Manchmal aber schlug ich die Decke zurück und schlich auf bloßen Sohlen zur Treppe, wo ich mich auf der obersten Stufe niederließ und, den Kopf am Geländer, lauschte, was die Stimmen sagten.
Ich lernte, mit großen Augen und offenen Lippen, von der Stadt unter der Stadt. Die Tunnel gehörten nicht allein dem VRS. Die Ingenieure hatten anfangs geplant, das unterirdische Gleisnetz so auszuweiten, daß es ganz Bonn erfaßte, bis zu den entlegensten Bezirken. Die Schächte waren gebaut worden, aber für das Bahnsystem fehlte es an Bedarf wie an Finanzen, und so gab es unter der Stadt, in der ich ins Kino ging oder neue Schuhe bekam, ein Netz halbfertiger, vergessener Stollen, die rudimentäre Haltestellen miteinander verknüpften – leere Kammern aus Stein und Beton. Den Daumennagel zwischen den Zähnen, hörte ich meinen Vater von diesen Adern im Erdboden erzählen, gefüllt mit dichter Schwärze, und ich fror in meinem dünnen Pyjama.
Denn die Kammern waren leer, aber nicht unbewohnt. Ratten huschten durch die Dunkelheit; Kakerlaken, groß wie eine Männerfaust. Und zerlumpte, krummschultrige Kreaturen, die einmal, vor Monaten oder Jahren oder Jahrzehnten, Menschen gewesen waren.
Was sie jetzt waren, konnte mein Vater nicht sagen, nur, daß es sie gab. Sie versteckten sich nicht vor dem Zug, dem Widerschein seiner Helligkeit auf den Wänden; sie suchten danach. Manchmal wagten sie sich zu dicht an die vorbeirasenden Wagen, und der Luftzug riß sie unter die Räder, aber meist standen sie nur stocksteif da, den Rücken an die Tunnelwand gepreßt, und ihre Augen sogen das Licht auf. Sie sahen nicht mehr aus wie Menschen, sagte mein Vater; ihre Münder waren wie die Mäuler von Fischen, immer in Bewegung, und ihre Augen waren größer und runder als unsere und standen vor. Anstelle von Fingern hatten sie Klauen. Sie kannten keine Sprache mehr.
Meine Oma versuchte, mit ihm zu argumentieren, aber er war nicht von der Existenz seiner unterirdischen Geschöpfe abzubringen. Mit eigenen Augen hatte er sie gesehen, die Lichtpunkte ihrer Pupillen, die blassen Ovale ihrer Gesichter. Vom Fahrerhäuschen aus, in dem er in seiner eigenen Halbnacht über den matten Lämpchen der Führanlage saß. Und irgendwo unter ihnen, davon war er überzeugt, meine Mutter.
Sie hatte er noch nicht erblickt, aber sie war da. Sie würde ihn vergessen haben (und mich, dachte ich mit plötzlichem Schmerz, und Maiki), denn sie alle vergaßen dort unten. Zurück an die Oberfläche konnten sie nicht; das Blut in ihren Adern war schwarz und zäh geworden, und sie konnten nur in der Atmosphäre der Tunnel überleben.
“Wie Taucher!” sagte mein Vater in einem Tonfall, als wäre damit alles bewiesen. “Wie Taucher!” Und meine Oma fing an zu weinen.
Jetzt, als erwachsener Mann, kann ich nicht sagen, ob der sechsjährige Junge an das glaubte, was seinen Vater innerlich verzehrte. Meine Mutter war fort, für immer, und das allein war mindestens so unfaßbar, so absolut unbegreiflich wie die Geschichte, die mein Vater da erzählte. Ich nahm seine Worte in mich auf und hielt sie dort fest, so wie ich Steine, die mir gefielen, in einer mit Watte ausgelegten Zigarrenkiste aufbewahrte. Wenn ich neben Oma in der Bahn saß, hielt ich nach funkelnden Augen und wehendem Haar Ausschau, aber ich tat es unauffällig, denn ich wollte meine Großmutter nicht zum Weinen bringen.
Das erlauschte Wissen blieb mein Geheimnis. Ich gab nicht ein Wort davon her, nicht einmal an Maike; auch dann nicht, als kurze Zeit später mein Vater zur Nachtschicht fuhr und, in einer klaren Nachahmung meiner Mutter, nicht wiederkehrte.
Es war ein Donnerstag, exakt eine Woche nach meinem siebten Geburtstag. Niemand hatte Frank Holster etwas angemerkt; er machte seine Tour wie sonst auch, eine Routineschicht ohne besondere Vorkommnisse. Die 66 war so gut wie leer, als er sie um Viertel nach eins auf Gleis 1 des Hauptbahnhofs einfahren ließ, der Endstation dieser Fahrt. Eine Handvoll Leute streute auf den Bahnsteig, mein Vater machte seinen Rundgang durch die Abteile, ließ die Türen zuzischen und löschte die Innenbeleuchtung der Wagen.
Nächstes, endgültiges Ziel hätte das Wagendepot sein müssen, aber soweit kam die 66 in dieser Nacht nicht. Einen Moment lang saß mein Vater im Fahrerhäuschen und sah starr nach vorn, in die Richtung, in der die Gleise ihn unter den sterndurchfunkelten Sommerhimmel geführt hätten. Dann stieg er aus, trat auf die Plattform und schritt die Länge seiner Bahn ab, bis zum letzten Wagen. Er warf einen Blick auf das lindgrüne Metall, die Werbeaufkleber, die die Flanke der Wagen bedeckten, und ohne einen Augenblick zu zögern, marschierte er weiter, immer weiter, bis der Bahnsteig in mehrere Betonstufen auslief, die in den warmen, schattengefüllten Rachen des Tunnels führten.
Das war das letzte, was man von ihm sah. Er war auf den Tag genau vier Wochen Witwer. Was aus ihm geworden ist, ob er, nach zwanzig Jahren in den lichtleeren Stollen, überhaupt noch lebt, weiß ich nicht. Vielleicht hat er es geschafft, meine Mutter wiederzufinden, die einzige Frau, die es für ihn gab. Oder vielleicht spielen diese Dinge auch keine Rolle mehr, dort, wo er ist.
Meine Oma sorgte weitere sechs Jahre für uns, bis sie eines Morgens nicht aufstand, um Maike und mir das Frühstück zu machen. Ich war 14, meine Schwester zwölf, und wir lebten in einer anderen Stadt, in der Nähe meiner Tante, deren Ehe, die, wenn man so will, damals meine Mutter das Leben gekostet hatte, längst gescheitert war.
Ich war seit 17 Jahren nicht in Bonn, und ich verspüre nicht das Bedürfnis, je dorthin zurückzukehren. Wie mein Vater bin ich ein zurückgezogener, ungeselliger Mensch, der Schwierigkeiten hat, sich anderen zu öffnen. Nicht, daß ich etwas vermisse. Ich glaube nicht an Liebe, oder Nähe, oder Freundschaft. Woran ich glaube, ist warme, stickige Dunkelheit, das ferne Donnern von Stahlrädern, und das Glitzern unbegreiflich fremder Augen tief in den Adern unter der Stadt.

(c) G.K. Nobelmann

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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