Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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April 2002
Geschenk der Erinnerung
von Judith Gröger


Der Meßdiener ging an der Reihe der Knienden entlang und legte jedem ein Heiligenbildchen hin. Hinterdrein kam der Pfarrer und gab die heilige Hostie. Am Ende der Reihe angekommen, blieb der Junge abwartend stehen. Er wippte nervös mit den Zehen und betastete die Unterseite des Papierstapels in seiner Hand. Mit seinen Fingerspitzen konnte er eine kleine Erhebung wahrnehmen, über die er immer wieder strich. Endlich war auch der Pfarrer am Ende angekommen. Die Leute standen von der Kirchenbank auf, neigten kurz ihre Köpfe und gingen zu ihren Plätzen zurück. Die nächste Reihe kam heran und kniete nieder.

Sie war dabei. Ihre Zöpfe wippten, als sie sich niederließ, um das Opferlamm zu empfangen. Wie ordentlich ihr Haar zusammengehalten war. In der Schule hingen ihr immer ein paar schwarze Strähnen ins Gesicht, die sie um ihre Finger wickelte oder in den Mund nahm. Ihr sonst so freches Lachen war heute hinter einer Maske feierlichen Ernstes verborgen. Sorgsam legte er jedem eins der gefalteten Blätter hin, immer von oben. Als er bei ihr angelangt war, zitterten seine Hände. Sie hatte ihren Kopf gesenkt und wartete. Was wohl gerade in ihr vorging?

Vorsichtig nahm er das gefaltete Heiligenbildchen von unten und legte es vor sie auf die Bank. Das Ende des Blumenstengels guckte daraus hervor. Er ging schnell weiter und hoffte, daß der Pfarrer es nicht bemerken würde. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie ihm ganz kurz einen erstaunten Blick zuwarf und schnell ihre Hände darüberschob. Dann legte sie ihren Kopf in den Nacken und ließ sich die Hostie auf die Zunge legen.

"Morgen, Frank! Seit wann fährst du denn diese Strecke?" Ein bärtiger Mann stieg in die Straßenbahn und legte ein paar Münzen hin. Frank löste die Fahrkarte und gab das Wechselgeld zurück, während er antwortete: "Heute zum ersten Mal, Matthias. Ich habe endlich die neue Schicht bekommen. Wegen der Kinder, weißt du?" "Was? Hast den ganzen Monat noch die alte Schicht gehabt? Die sind doch herzlos!" "Hmm. Ging halt nicht anders. Die Lütten waren solange bei der Großmutter." "Und jetzt?" "Naja, für Thorsten hat ja die Schule schon begonnen. Den hol ich zu Mittag ab. Und die Kleine ist bei einer Freundin von Marie. Sie nimmt sie mit ins Theater. Maike war ja früher auch immer bei den Proben dabei. Nächste Woche geht sie wieder in den Kindergarten." "Und du, Frank? Alles klar bei dir? Bist ein bißchen blaß um die Nase." "Geht schon, danke. Ich kämpf mich halt durch." Eine mürrische Stimme von der Straße fuhr dazwischen: "Geht‘s endlich weiter davorn? Wir haben doch nicht ewig Zeit!" Matthias schnaufte, hob die Hand zum Gruß und ging nach hinten durch.

Frank wartete, bis alle eingestiegen waren, und fuhr los. "Ich kämpf mich halt durch", dachte er. Die Worte hinterließen einen bitteren Nachgeschmack auf der Zunge. Er hatte nicht die Kraft zu kämpfen. Wogegen auch? Oder wofür? Er fühlte sich leer, ausgehöhlt. Er hatte Angst vor den Nachmittagen mit den Kindern, die jetzt auf ihn zukamen. Er konnte sie nicht ansehen, ohne an Marianne zu denken. Besonders Maike schien ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Eigentlich war er froh drum gewesen, daß er diesen Monat noch ab Mittag Schicht gehabt und die Kleinen zu seiner Mutter gegeben hatte. Natürlich hatte sie ihm vorgehalten, sie bräuchten ihn jetzt besonders. Aber er war so verzweifelt gewesen. Er wäre am liebsten selbst gestorben.

"Blumenthalstraße", sagte er in das Mikrophon und bremste. Er wartete. Leute stiegen aus und ein. Ein Gedanke drängte sich ihm auf. Er versuchte, nicht darauf zu achten. Aber es gelang ihm nicht: "Nicht weit von hier ist sie gestorben. Nächste Haltestelle, zwei Straßen von der Hauptstraße entfernt." Natürlich war er dort gewesen, an der Stelle, wo man sie gefunden hatte. Es war ein gewöhnlicher Hauseingang, ein paar Stufen, die zur Tür hinaufführten. Wahrscheinlich hatte sie sich dort hingesetzt, um sich auszuruhen. Ihn bewegte nichts beim Anblick dieser Treppe. Sie sah aus wie jede andere und hatte keinerlei Verbindung zu Marie. Warum schnürte ihm dann heute der Gedanke daran die Brust so sehr ein, daß er kaum atmen konnte?

Er drückte einen Knopf. Die Türen schlossen sich, und er fuhr an. Vor ihm erstreckten sich die Schienen wie zwei Stahlseile, die ihn einem unbestimmten Ziel entgegenzogen. Frank hatte das Gefühl, in einen Nebel einzutauchen, der sich dumpf und schwer um seinen Kopf legte. Irgendetwas schien dort auf ihn zu warten, und es hatte etwas mit seiner Frau zu tun. Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Abend, an dem es geschehen war. Er war gerade von der Arbeit gekommen, als das Telephon geklingelt hatte. Mariannes Freundin aus dem Theater war am Apparat: "Ist Marie nach Hause gekommen?" "Nein, warum sollte sie? Ist doch Probe heute, oder nicht?" "Ja. Aber es ging ihr nicht gut, und sie sagte, sie wolle ein bißchen frische Luft schnappen. Als sie nicht wiederkam, bin ich raus, um nach ihr zu schauen. Aber sie war weg. Ich dachte, sie sei vielleicht heimgegangen." "Vielleicht ist sie ja in den Park rüber. Sie wird schon wieder auftauchen." "Hab mir halt Sorgen gemacht. Sag ihr, sie soll mich anrufen, wenn sie kommt."

Ein paar Minuten, nachdem er aufgelegt hatte, klingelte erneut das Telephon: "Spreche ich mit Herrn Holter? Dr. Schürger mein Name. Es tut mir sehr leid, Ihnen das sagen zu müssen. Aber Ihre Frau ist vor etwa einer halben Stunde an einem Herzinfarkt gestorben. Sie ist jetzt hier im Krankenhaus. Mein herzliches Beileid."

"Thomaplatz." Bremsen. Türen öffnen. Warten. Franks Kopf dröhnte. Das Atmen fiel ihm schwer. Etwas erwartete ihn. Es war ganz nah, lauerte in den Nebengassen wie ein wildes Tier. Türen schließen. Losfahren. Eine flirrende Spannung lag in der Luft. Nervös ließ er seinen Blick schweifen. Bürgersteig, Straße, Schienen, Bürgersteig. Seine Augen blieben an der Gestalt einer Frau haften. Sie ging langsam und unsicher, als trüge sie heute zum ersten Mal ihre Stöckelschuhe. Dann wankte sie ein wenig und lehnte sich an eine rote Hauswand. Passanten gingen unbeteiligt an ihr vorbei, sahen sie nicht an. Sie schien einige Male schwer Atem zu holen. Dann griff sie in ihre Handtasche, die um ihre Schulter hing, und zog etwas heraus. Plötzlich faßte sie sich an die Brust und krümmte sich etwas nach vorn, als hätte sie Schmerzen. Etwas fiel aus ihren Händen. Es war ein Stück Papier, das hinuntersegelte und in der Vertiefung eines Kellerfensters verschwand. Gerade als er an ihr vorbeifuhr, hob sie ihren Kopf und schien ihn direkt anzuschauen: Marie!

Bremsen, Tür auf, hinaus. Er rannte zurück, stieß jemanden an, fand die rote Wand. Doch Marie war fort. Hastig wirbelte er herum, warf seinen suchenden Blick in alle Richtungen. "Marie! Marianne!" Da, in der Richtung, aus der er gekommen war, sah er sie. Sie hielt an einer Straßenecke, drehte sich um und schaute direkt zu ihm hinüber. Sie war es, ohne Zweifel! Sie stand dort aufrecht und blickte ihn fest an. Nur einen Moment. Dann lächelte sie, wandte sich ab und verschwand in der Nebenstraße. Frank machte ein paar Schritte in ihre Richtung. Tränen rannen seine Wangen hinab. Doch noch während er ihren Namen rief, wußte er, daß er sie nicht mehr erreichen konnte. Seine Frau war tot!

Ein Schauder durchlief ihn, und seine Beine zitterten. Er lehnte seinen Kopf an die Wand, ähnlich, wie er es eben noch bei seiner Frau gesehen hatte. Dort war das Kellerfenster. Frank beugte sich hinab und tastete mit seinen Fingern in der Vertiefung. Er wischte die Tränen fort, um genauer sehen zu können, was er gefunden hatte. Als er es erkannte, mußte er neuerlich weinen. Er hatte nicht gewußt, daß sie es aufgehoben hatte, all die Jahre. Er klappte das Heiligenbildchen auf, und eine getrocknete Blume fiel heraus.

"Frank, alles in Ordnung? Was ist denn los mit dir?" Matthias beugte sich über ihn, und jetzt merkte er erst, daß auch andere Fahrgäste ausgestiegen waren und ihn neugierig anstarrten. "Ist schon wieder gut, Matthias. Es geht mir gut." Und dann etwas lauter: "Steigen Sie bitte ein! Ich fahre jetzt weiter." Vorsichtig hob er die Blume auf, legte sie in das Blatt zurück und steckte es in seine Brusttasche. Sein Freund ging dicht neben ihm: "Wirklich alles klar bei dir? Kannst du fahren?" "Mir war nur etwas übel, Matthias. Aber jetzt geht es mir wieder besser. Ehrlich, mach dir keine Sorgen!" Und während er in die Bahn stieg, ließ er seine Finger über die kleine Erhebung in seinem Hemd gleiten. Seine Tränen waren versiegt, und er fühlte sich merkwürdig gestärkt und voller Zuversicht. "Danke, Marie", flüsterte er, "danke."

(c) Judith Gröger, April 2002

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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