Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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April 2002
Auf dem Grund einer Bierdose gelesen
von Petra Lehrmann


Maike legte das Bilderbuch weg und rutschte auf ihrem Bett näher an Thorsten heran. Sie blickte mir ihren wasserblauen Augen auf sein ernstes Gesichtchen hoch und sagte leise: „Mama fehlt mir.“
Thorsten war sieben Jahre alt, zwei Jahre älter als seine kleine Schwester, und auch ihm fehlte die Mama unglaublich. Auch, wenn es schon einen Monat her war, seitdem der liebe Gott sie mitgenommen hatte. Oder gerade, weil es schon einen Monat her war? Er nahm sein Schwesterchen in den Arm. „Mir doch auch, Maike. Aber der liebe Gott brauchte sie da oben wohl ganz dringend. Sonst hätte er sie nicht geholt.“
Maikes Augen füllten sich mit Tränen. Sie schluckte einmal kurz und sagte dann mit zitternder Stimme: „Wofür braucht Gott sie denn?“
Frank Holter hörte dieses Gespräch, als er vor dem Zimmer seiner Kinder vorbei zur Küche ging. Er steckte seinen Kopf durch den Türspalt.
„Weil Mama für Gott singen soll. Ihr wisst doch, wie toll sie singen kann. Er hat sie geholt, damit sie mit seinen Engeln zusammen singen kann. So, jetzt ist aber Bettzeit ihr Beiden!“ Sein belegte Stimme klang ernüchternd hohl in seinem Ohr. Er räusperte sich nicht.
Sonst hatte immer Heike die Kinder ins Bett gebracht. Sonst hatte sie immer alles gemacht. Auch das Frühstück, jeden Morgen, pünktlich. Er ging jetzt das Frühstück für den nächsten Tag vorbereiten. Er hatte nie verstanden, wie seine Frau das alles an einem Morgen geschafft hatte, in einem Haus voll mit einem Straßenbahnführer und zwei herumtollenden Kindern.
Er schluckte schwer, die Gedanken an Heike nagten immer noch an seinem Herz, wie eine Würgeschlange. Sie hatte ihn geheiratet, weil er ein unglaublicher Poet war. Seine Liebesbriefe übertrafen alle dummen Anmachsprüche um Längen. Natürlich hatte sie ihn auch geheiratet, weil sie ihn geliebt hatte. Aber er wollte immer nur Straßenbahnfahrer werden, kein Dichter. Ein Beruf mit festem Standpunkt, hatte Heikes Vater gesagt, Wer nichts wird, wird Wirt!
Damals schon als sie sich in der Schule kennengelernt hatten, wollte Frank zur Bahn. Die ICEs waren ihm zu schnell, und die S-Bahnen fuhren zu lange Strecken. Straßenbahnen waren so persönlich, man sah die Leute, die ein und ausstiegen. Man konnte so etwas wie eine Beziehung zu ihnen herstellen. So, wie sie da standen und saßen, wie sie sich über den Lärm hinweg unterhielten in der kleinen Bahn, die von Neuss nach Düsseldorf über die Südbrücke holperte. Und er hatte es geschafft. Doch dann machte sein zur Wirklichkeit gewordener Traum seine Familie kaputt. Vor einem Monat starb Heike. Vor einem Monat hatte Frank sich geschworen, niemals mehr sich in eine Straßenbahn zu setzen. Sein Chef hatte ihm eine Auszeit zugebilligt, so lange er sie brauchen würde. Von Frank aus könnte es bis an sein Lebensende sein. Seine eigene Bahn hatte seine Frau umgebracht, und er hatte am Steuerknüppel gesessen. Seine Kinder hatten das niemals erfahren... Urplötzlich lief da jemand vor die Bahn, mitten auf der Hauptstrasse von Neuss. Das war nichts falsches. Es passierte jeden Tag, dass Menschen vor der Bahn noch über die Fußgängerzone liefen um auf den anderen Bürgersteig zu kommen. Doch der Jemand an diesem Tag winkte und schrie. Es war ein Mann gewesen, das Haar zerzaust, er deutete die ganze Zeit auf den Boden. Frank solle anhalten. Frank tat es aber nicht, er verstand den Mann nicht. Und dann überrumpelte er etwas, das auf dem Boden gelegen hatte. Seine Frau, wie er nachher festgestellt hatte - seine geliebte Frau. Ihr Schuh steckte fest in einer der Schienen. Sie konnte ihn nicht ausziehen, kam nicht fort von den zermalmenden Rädern der Straßenbahn. Und er selbst hatte hinter dem Steuer gesessen. Was dann passierte, wusste er nicht mehr.
Frank schluckte nochmals.
Er holte wie in Trance das Brot und die Wurst aus dem Kühlschrank, als er an den verwunschenen Tag dachte. Er wusch den Salat, machte ihn klein und legte ihn auf die Wurstbrote. Er suchte die Äpfel. Er fand sie nicht.
Er fluchte nicht mehr, wenn etwas nicht direkt nach seinem Willen ging. Seine Kinder brauchten einen Fels, auf den sie sich stützen konnten. Und der versuchte er zu sein nach bestem Wissen und Gewissen. Nur abends, wenn Maike und Torsten schon im Bett waren, weinte er, trauerte er, trank er. Seit einem Monat ging er nicht mehr arbeiten. Seit einem Monat ging er mit einer Fahne und zwei Dosen Frankenheim ins Bett, oder mal mit etwas Härterem.
Jeden einzelnen Morgen stand er auf, die Zunge belegt, die Ränder unter den Augen schwarz in dem grauen, eingefallenen Gesicht, und packte seinen zwei Kindern die Brote in die Papiertüten, die Äpfel und die kleinen Capri Sonnen. Er wusch die Wäsche und saugte Staub, alles in einer Trostlosigkeit und Eintönigkeit, die jedem anderen das Herz schon nach kurzer Zeit zerrissen hätte. Manch einer wünschte sich den Tod herbei nach solch einer Tragödie. Frank aber lebte immer noch. Und er wünschte nicht. Er tat gar nichts mehr in seiner Seelenwelt. Der Schmerz hatte alles andere weggespült. Sein Emotionen spielte er. Seinen Kindern und der Welt spielte er sein großes Theater vor. Und er spielte wahrhaft gut.
Er sah aus dem Fenster in die Dunkelheit. Heike hätte jetzt hier gestanden. Heike hätte jetzt vom Abendbrot den Abwasch gemacht. Heike hätte er jetzt liebevoll in den Nacken geküsst, sie um ihre Taille gefasst, von der Spülsenke herumgedreht und ihr irgendwelche Dinge ins Ohr geflüstert.
Er schüttelte den Kopf. Das würde nie mehr sein! Reiß dich zusammen! Er wandte seinen Blick von der Dunkelheit ab und dem Essen zu. Unbemerkt und langsam schnitt das große Messer die Gurke, welche er statt der Äpfel gefunden hatte.
Es ging wie Butter durch das grüne Stangengemüse. Er realisierte erst spät, dass sich das Messer auch seinem Daumen, der wie festgeklebt an der Gurke schien, näherte. Er hielt inne in seiner Bewegung, und die scharfe Klinge ritzte den Daumen nur an. Ein kleines Rinnsal der roten Flüssigkeit lief auf das von Gurkenwasser durchtränkte Holzbrett.
Er hielt seine Hand unter das kalte Wasser, nahm ein Geschirrtuch, schlang es um den Daumen und holte sich eine Dose Frankenheim aus den Kühlschrank. Er schaute in die weiße Kühle hinein und merkte dumpf, dass er morgen einkaufen gehen musste. Es waren nur noch drei Dosen Frankenheim im Kühlschrank. Und für die Kinder etwas zu Essen war auch nicht mehr da.
Frank öffnete die Dose. Mit einem Zischen entwich der Druck und das dünne Aluminium lies sich eindrücken. Er setzte die Öffnung an den Mund. Seine Augen starrten an die Decke. Etwas störte ihn. Er setzte die Dose ab, ohne getrunken zu haben, stellte sie auf den Tisch und holte sich ein Pflaster aus dem Verbandsschränkchen unter der Spüle. Er klebte es auf den Ritz, der immer noch nicht aufgehört hatte zu bluten, legte das jetzt blau-weiß-rote Geschirrtuch zur Seite, setzte sich an den Küchentisch und legte den Kopf in den Nacken. Er sah die weiße Raufaserzimmerdecke an. Vorhin war ihm gewesen, als hätte sich in den Erhöhungen der Tapete Heikes Gesicht widergespiegelt. Er schüttelte den Kopf und lies seine Augen wieder zu der offenen Dose gleiten.
Seine Hand tastete schon automatisch zu dem kühlen Metall.
"Papa!" hüpfte eine sich überschlagende Stimme an sein Ohr. Er sprang auf. Die Dose fiel um, und das braune Gebräu durchnässte seine Hose. Ist etwas mit den Kindern? Sein Herz rutschte in die Magengegend. Er rannte die Treppe hoch ins Kinderzimmer.
Maike saß mit Thorsten zusammen noch immer auf dem großen Bett. Sie hielt eine Kette in den Händen. "Papa! Mama war grad da!" Maike zeigte Frank stolz die Kette in ihren winzigen Händen. Er schüttelte den Kopf.
"Mama kann nicht mehr kommen, Schatz..."
Thorsten aber bestätigte die Kleine an seiner Seite.
"Papa. Mama war wirklich gerade da - sie hatte einen Engel dabei. Sie wollte nur noch kurz Abschied nehmen, hat sie gesagt. Und wir sollen dir das hier geben. Sie hat gesagt, dass sie dich immer noch liebt."
Frank wurde heiß und kalt zugleich. War das gerade in der Küche doch wirklich passiert? Er blickte seine Kinder durch einen Tränenschleier an, und es war ihm, als würden sie golden leuchten. Er sank vor dem Bett auf die Knie. Maike hielt die Kette an zwei Fingern vor sich. Es war die Kette, die Heike zu ihrer Beerdigung getragen hatte, eine silberne, dünne Kette mit dem Familienerbkreuz daran. Ein filigranes Kelten-Kreuz, ohne Schnickschnack und ohne gekreuzigten Jesus. Nur ein kleiner Kreis um den Kreuzmittelpunkt, und darin ein violetter Edelstein.
"Und weißt du was, Papa? Der Engel hat gesagt, wir dürfen alle mitkommen, wenn wir wollen!" Maike rutschte aufgeregt zu ihrem Vater an die Bettkante und schlang ihre Arme um seinen Hals.
Frank weinte. Vor seinen Kindern! Er schämte sich. Er würde sich am liebsten in die hinterste Ecke des Hauses verkriechen. Er sah Thorsten an. Dieser nickte und kam nun auch zu ihm. Er legte Frank liebevoll die Arme um den Hals und flüsterte ihn ins Ohr: "Dürfen wir mit dem Engel und Mama gehen, Papa?"
Frank sah in das Gesicht des Jungen und fand sich darin wieder, seine braun-grauen Augen, seine kleinen Lachfältchen an den Augenwinkeln, die noch kommen würden. Es blickte zu Maike. Die wasserblauen Augen so voller Freude und Wärme. Er hatte seinen Kindern noch nie einen Wunsch abschlagen können. Er entlies sie aus seinen Armen und stand mühsam auf.
Und dann sah er.
Ein goldenes Licht hüllte eine Gestallt von vollkommener Schönheit ein. Neben ihr: seine Heike! Sein Herz machte einen Sprung und setzte für einen Moment aus. Heike lächelte.
"Ich liebe dich!"
Ihre Stimme war glockenhell und süß, noch süßer, als sie es sogar schon zu Lebzeiten gewesen war. Maike und Thorsten liefen auf Heike zu. Sie schloss die Kinder in ihre Arme. Dann legten sich ihre blauen Augen auf Frank. Lange blickte er sie an. Lange rang er mit sich, dann schlug er die Augen nieder. "Nein. Ich kann nicht! Ich kann nicht. Es ist doch alles meine Schuld!" Er drehte sich von der Vollkommenheit im Kinderzimmer fort. Er konnte nicht mehr in diese Augen voll Liebe sehen, die seiner Frau gehörten. Er sank wieder auf die Knie. Eine Hand berührte ihn an der Schulter, einem Lichtstrahl gleich, als die vier vereint aus dem Zimmer fortgingen. Er blieb alleine zurück.
Als er sich umwandte, lag auf dem Bett noch immer die Kette. Er fuhr sacht mit den Fingern darüber, nahm sie auf und legte sie sich um den Hals. Der Mond brach durch die Wolkendecke und lies einen blassen Strahl durch das Fenster auf Frank fallen.
Und wie auf Engelsflügeln driftete Heikes Stimme ein letztes Mal an sein Ohr: "Ich danke dir, Frank. Die Kinder grüßen dich. Und es ist nicht deine Schuld! Ich liebe dich."
Frank sah mit Tränen in den Augen auf den Mond. Er küsste das Kreuz und verließ dann das Kinderzimmer. Er setzte sich in die Küche, hob das Frankenheim vom Boden auf und trank den letzten Schluck auf seine Frau und seine wundervollen Kinder.

Drei Wochen später kam die Polizei. Die Kinder seien nicht mehr in der Schule aufgetaucht, ob er irgendetwas zu sagen hätte. Frank sah sie dumm an, bat sie herein und ging zum Kühlschrank, den er erst vor kurzem wieder auffüllen lassen hatte. Er nahm sich eine Dose Frankenheim heraus, öffnete sie mit dem wohlbekannten Zischen von Aluminiumdosen, und erzählte ihnen seine Geschichte.
Sie nahmen Frank mit.
Niemand glaubte ihm. Niemand außer ein paar Verrückten in der Psychiatrie.

(c) Petra Lehrmann

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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