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Mai 2002
Nadeshda
von Andreas Schröter


Es ist Montagmorgen, 6.13 Uhr. Adam Schneider starrt auf die roten Leuchtziffern seines Radioweckers. Noch zwei Minuten, dann würde irgendein wunderbarer Popsong das Ende der Nacht verkünden. Und er, Adam Schneider, würde aufstehen und seiner liebreizenden Familie ein Frühstück bereiten.
Endlich.
Der Wecker zeigt 6.15 Uhr, und Anatacia singt „I’m outta love“. Adam schaltet das Gerät ab, dreht sich zu seiner Frau, haucht ihr einen zarten Kuss auf die Wange und sagt: „Schatz, wir müssen ... Leider!“
„Mmmhhmmmmm ...“, kommt es zurück.
„Ich mach uns schon mal Frühstück“. Noch während er das sagt, fegt er die Decke beiseite. Nur eine Sekunde später steht er vor dem Bett und zieht seinen 15 Jahre alten rot-weiß gestreiften Bademantel an. Er kann seine Vorfreude kaum verbergen.
In der Küche kümmert er sich zuerst um den Kaffee, dann um die vier Tellerchen, das Besteck, die Gläser und den Aufschnitt. Er nimmt seine Tabletten gegen Herzrasen und schaltet das Radio ein. Inzwischen singt Kylie Minogue „Can’t get you out of my head“. Adam mag das Lied (und die dazugehörige Frau). Er singt es leise mit. Eigentlich wäre jetzt der Moment gekommen, auf den er sich die ganze Zeit gefreut hat. Aber er liebt es, ihn noch etwas hinauszuzögern. Also holt er erst die kitschigen, mit einem kleinen grinsenden Huhn verzierten Eierbecher aus dem Schrank und stellt sie auf den Tisch. Als ob Hühner grinsen würden ...
Erst dann macht er sich lang und fischt die Cornflakes-Packung von ganz oben vom Schrank. Es sind besondere Cornflakes. „Special M“ – ohne Zucker, dafür mit Kleie und anderen wertvollen Zusatzstoffen.
Aber das Wichtigste an ihnen ist, dass nur auf der Packungs-Rückseite dieser Sorte diese einzigartige Frau abgebildet ist. „Fit und schlank durch den Winter“ steht über ihr, was Quatsch ist, weil Mai ist. Aber das ist egal. Es geht Adam nicht um irgendwelche Sprüche. Es geht ihm nur um SIE. SIE hat nackte Füße, trägt eine legere beige Hose – wohl eine Art Jogginghose - und hat die Daumen lässig in die Gürtelschnalle gesteckt. Darüber sieht Adam viel nackte Haut und dann ein rotes Top. Sie ist unglaublich schlank, hat aber doch eine sehr akzeptable Oberweite. Bestimmt mehr als anderthalb Hand voll, schätzt Adam, während er die Cornflakes-Packung näher vors Gesicht hält und seine linke Hand entsprechend formt. Aber das Beste kommt noch weiter oben. Ihr Blick und ihr Lächeln. Das heißt, es ist nicht eindeutig, ob sie wirklich lächelt. Und wenn, dann ist es nur ein Hauch von Lächeln, eine Andeutung sozusagen. Wunderbar.
Was ihr Blick sagt, ist dagegen vollkommen eindeutig: „Ich verzehre mich nach 41-jährigen Versicherungsvertretern, die Adam heißen und einen rot-weiß gestreiften fadenscheinigen Bademantel tragen.“
„Schahatz, stimmt was mit den Cornflakes nicht?“, fragt seine Frau Kirsten halb gähnend hinter ihm. Er hat sie nicht kommen hören.
„Doch, doch – wieso?“
„Weil du die Packung so anstarrst.“
„Äh – wusstest du, dass da Kleie drin ist?“
Kirsten Schneider umfasst von hinten seinen Bauch, der in den letzten Jahren etwas voluminöser geworden ist, und sagt: „Ich finde es total süß von dir, dass du immer Frühstück für uns machst. Ich würde es nie fertig bringen, so schnell aufzustehn.“
„Och“.
Kirstens Hand wandert etwas tiefer und ertastet eine auffällige Wölbung unter dem Bademantel. „Hey, was ist das denn?“
„Morgenlatte. Ich hatte kurz vorm Aufstehn noch von dir geträumt.“
„Und dann hält sich das so lange?“
„Ähm – sicher!“
Kirsten ist sichtlich geschmeichelt, lässt aber von Adam ab, weil die Tür zum Kinderzimmer aufgegangen ist und Jens und Julia herauskommen.

Auf dem Frühstücktisch drapiert Adam die Cornflakes-Packung so, dass er die Rückseite sehen kann. Sie hat ein russisches Gesicht. Ganz sicher. Sowas sieht er. Ein Russin. Bestimmt heißt sie Nadeshda. Adam mag Frauen, die Nadeshda heißen und mit ihm im Mai fit durch den Winter gehen wollen.
„Papa?“
„Ja?“ Er lässt sich nicht gerne von seinem Studium der Cornflakes-Packung abbringen.
„Warum müssen wir eigentlich immer diese komischen Cornflakes essen. Ohne Zucker.“
„Weil die gesund sind. Da ist ganz viel Kleie drin, und das ist gut für das Wachstum der Fingernägel.“
„Ach so“, sagen die Kinder wie aus einem Munde. Kirsten guckt etwas befremdet, sagt aber nichts.

Heute ist ein schöner Montag, weil Adam einen freien Tag hat. Dafür hat er Samstag vor zwei Wochen gearbeitet. Als die Kinder weg sind und Kirsten ebenfalls zu ihrem Halbtags-Job als Kassiererin aufgebrochen ist, hat er endlich genügend Ruhe, sich mit der Cornflakes-Packung zu befassen.
Diese Augen. Ob sie wirklich so blau sind? Adam rubbelt ein bisschen über die Stelle auf der Packung, wo ihre Augen sind, als könne er so feststellen, ob das Blau echt ist.
Dieses halbe Lächeln.
Diese nackten ebenmäßigen Füße. Eine interessante Frage wäre, ob sie unter der beigen Hose einen Slip trägt. Adam beugt sich noch näher zur Packung vor. Er kann keine Konturen eines Slips erkennen. Das Luder will ohne Slip fit durch den Winter. Sagenhaft.
Und sie will es mit niemandem anders als mit ihm, Adam Schneider, seines Zeichens weltgrößter Herzensbrecher aller Zeiten. Während er das denkt, kratzt er sich genüsslich und gedankenverloren in den Ohren.
Aber es gibt ein Problem. Und dieses Problem besteht darin, dass es Adam auf die Dauer nicht reicht, eine Beziehung zu dieser wunderbaren Frau nur via Mellogs-Cornflakes-Packung der Sorte Special M zu haben. Er muss Kontakt zu ihr aufnehmen. Richtigen Kontakt.
,Ach, meine Nadeshda’, denkt er und seufzt ziemlich laut.
Dann geht er mitsamt Cornflakes-Packung zu seinem Computer und sucht sich im Internet die Homepage von Mellogs. Die Packung steht oben auf dem Monitor. Es dauert gar nicht lange, und Adam hat gefunden, wonach er gesucht hat. Eine Telefonnummer, unter der er die Firma erreichen kann. Er sucht noch ein bisschen auf der Homepage herum, ob er vielleicht auch seine Nadeshda selbst findet. Aber Fehlanzeige. Zwar gibt es ein Bild von der Special-M-Packung. Aber leider nur von vorne. Damit ist für Adam klar, dass es eine Frau sein muss, die für diese Homepage verantwortlich ist. Eine verdammt eifersüchtige Frau. Eine richtige Zicke. Eine doofe Zicke sogar, wenn er es sich richtig überlegt. Adam haut mit der Faust auf den Schreibtisch, so dass die Tastatur einmal kurz hochspringt.
Aber egal. Er würde den Kampf gegen die Zicke gewinnen, weil er ja jetzt die Telefonnummer der Firma und damit sicher auch von Nadeshda hat. Es ist verdammt unvorsichtig von der Zicke, die bestimmt nur Claudia oder so heißt, Nadeshdas Telefonnummer auf die Homepage zu schreiben.
Während Adam die Nummer wählt, spürt er, wie seine Handflächen feucht werden. Was würde sie für eine Stimme haben? Bestimmt rauchig. Alle Nadeshdas der Welt haben rauchige Stimmen.
„Mellogs Cornflakes, Sander, guten Tag – was kann ich für Sie tun.“ Es ist eine ziemlich helle Piepsstimme.
Adam räuspert sich. „Äh – sind Sie Nadeshda?“
Schweigen am anderen Ende der Leitung: „Nein, Sie sprechen mit Yvonne Sander von der Firma Mellogs Cornflakes. Was kann ich für Sie tun.“
„Ich möchte gerne mit Frau Nadeshda sprechen.“
„Ich kenne niemanden mit diesem Namen. Sie müssen sich verwählt haben. Auf wieder...“
„Stopp! Tun Sie nicht so, als ob Sie Nadeshda nicht kennen! Sie ist auf jeder Ihrer Special-M-Packungen abgebildet. Fit und schlank durch den Winter.“
Wieder Schweigen am anderen Ende der Leitung. Aber Adam hört ein leises Knacken in der Leitung, wie es entsteht, wenn der Gesprächspartner die Lautsprecher-Funktion seines Telefons aktiviert.
„Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie die junge Dame sprechen wollen, die auf der Rückseite dieser Packung abgebildet ist?“
„Genau. Das sagte ich doch eben schon“. Adam ist so, als ob er ein vielstimmiges unterdrücktes Kichern am anderen Ende der Leitung vernimmt. Jemand flüstert kaum hörbar etwas, das sich anhört wie „Vollmondkandidat“.
Arme Nadeshda! Mit welchem Haufen von Idioten muss sie zusammenarbeiten. Es wird Zeit, dass er, Adam Schneider, seinen weißen Schimmel sattelt, um das edle Fräulein aus den Klauen des Banalen zu retten.
„Sehen Sie,“ Frau Sander hat offenbar plötzlich Mühe mit dem Sprechen. Dass die Firma so jemanden ans Telefon setzt ... „Sehen Sie, es ist so, dass wir in diesem Bereich mit einer Agentur zusammenarbeiten ...“ Adam hört ein dumpfes Geräusch, als ob jemand die Sprechmuschel des Telefons zuhält. Wieder glaubt er, ein unterdrücktes Kichern zu hören.
„Und wie heißt diese verdammte Agentur, die das Pech hat, mit einem so gestörten Gesocks wie Ihnen zusammenarbeiten zu müssen?“ Adam erschreckt sich fast ein bisschen über sich selbst.
„Licht... Hören Sie, so können Sie mit mir nicht reden. Auf wiederhören!“ Ein Tuten in der Leitung verkündet, dass Yvonne Sander aufgelegt hat.
Während Nadeshda ihm immer noch von oben auf dem Monitor aufmunternd zulächelt, gibt er die Suchbegriffe „Licht“ und „Werbeagentur“ in die Suchmaschine „Google“ ein. Fünf Minuten später hat er die Adresse von „Lichtbild“ gefunden. Die Firma ist nur 30 Kilometer von ihm entfernt.
,Ach, meine Nadeshda’, denkt er wieder und seufzt erneut reichlich laut.
Er steht auf und ruft in die leere Wohnung: „Henry, sattle den weißen Schimmel. Wir bekommen Arbeit.“ Aus dem Radio singt Tom Jones „Sexbomb“.

Adam Schneider, der inzwischen seinen rot-weiß-gestreiften Bademantel gegen eine braune Cordhose, ein hellblaues Oberhemd und eine dunkelrote Strickjacke getauscht hat, fährt eine Dreiviertelstunde später an dem futuristischen Eingang der Werbeagentur „Lichtbild“ vorbei. Er parkt seinen 13 Jahre alten Kadett D etwa 200 Meter weiter hinten, weil das Erscheinungsbild des Wagens nicht hundertprozentig zu der Geschichte passt, die er sich soeben für das Rezeptions-Mädchen ausgedacht hat. Dann setzt er eine getönte Sonnenbrille auf, befreit ein Wrigley-Spermint-Kaugummi umständlich und mit allerlei Flüchen von seiner Zelluphan-Hülle und schiebt es sich zwischen die Zähne.

Die Dame an der Rezeption hat ein für ihre Körperfülle eher ungünstiges T-Shirt gewählt. Es ist eindeutig ein paar Nummern zu klein, so dass ihre Speckrollen deutlich sichtbar über den Hosenbund quillen.
„Isch bin Amerikaner“, sagt Adam mit unverkennbarem amerikanischem Akzent. „Und isch wollen machen Film mit diese Girl.“ Während er das sagt, knallt er demonstrativ Kaugummi kauend die Cornflakes-Packung vor die Rezeptionistin, die daraufhin zusammenzuckt.
„Bitte – Sie führen mich zu diese Girl.“
Die junge Dame errötet und man sieht ihr deutlich an, dass sie nicht recht weiß, was sie machen soll. Offenbar kommen selten amerikanische Filmproduzenten in die Firma.
„Entschuldigen Sie“, sagt sie, „ich arbeite erst den dritten Tag hier. Heute ist niemand zu erreichen. Die Damen und Herren machen einen Betriebsausflug.“
„Dann Sie mir sagen Privatadresse von diese Girl.“ Adam deutet auf die Cornflakes-Packung.
„Abgesehen davon, dass ich die Dame nicht kenne, bin ich nicht sicher, ob ich befugt bin, Ihnen die Privatadressen unserer Mitarbeiter herauszugeben.“
Adam wird wütend und vergisst seinen amerikanischen Akzent: „Hören Sie ich bin nicht zum Spaß den ganzen Weg über den großen Teich geflogen, nur um mich hier von Ihnen abspeisen zu lassen.“
„Dennoch muss ich Sie bitten, sich morgen erneut telefonisch mit uns in Verbindung zu setzen. Ich werde dann sehen, was ich für Sie tun kann und ob ich einen Kontakt zu Frau Michels herstellen kann.“
„Ach, Michels heißt sie? Sagten Sie nicht eben, Sie kennen sie gar nicht?“
Die Dame mit den auffälligen Speckrollen beißt sich auf die Unterlippe.
„Wie heißt Frau Michels denn mit Vornamen?“
„Tut mir leid, aber das werde ich Ihnen nicht sagen. Ich muss Sie jetzt bitten, das Haus zu verlassen.“
Soll er so nah am Ziel scheitern? Wieder nach Hause fahren, eine ganze Nacht schlafen, warten, bis endlich der Wecker klingelt, seinen Chef um einen weiteren freien Tag bitten?
„Sagen Sie mir bitte nur eines? Sie können ja oder nein sagen. Heißt Frau Michels“ – er deutet auf die Packung – Nadeshda mit Vornamen?“
Die Dame an der Rezeption zuckt zusammen und läuft erneut puterrot an. „Wie kommen Sie auf Nadeshda?“
„Aha, ich habe also Recht?“
„Nein, Sie haben nicht Recht. Frau Michels heißt Claudia mit Vornamen.“
„Claudia?“ Etwas in Adam zerbricht. „Sind Sie ganz sicher? Das kann doch nicht ... Claudia? Einfach nur Claudia?“
Die Rezeptionistin nickt.
Adam ist in sich zusammengesackt. „Auf Wiedersehen“. Er dreht sich um und wendet sich zur Tür. „Und entschuldigen Sie die Störung“.
„Sie haben etwas vergessen. Ihre Cornflakes.“ Die Rezeptionistin hält die Packung hoch.
Adam dreht sich nur halb um und winkt ab. Als er die Hand schon an der Tür hat, sagt die Rezeptionistin: „Aber ich heiße Nadeshda.“
Adam erstarrt mitten in der Bewegung.
Er vergisst die Tür ...
... dreht sich im Zeitlupentempo um ...
... nimmt die Sonnenbrille ab ...
... schluckt das Kaugummi herunter ...
... und starrt Nadeshda an.
Eigentlich, so denkt er, wirken ihre Speckröllchen auf eine bestimmte Weise sogar sehr süß.
Während er zum Tresen der Rezeptionistin zurückkehrt, erscheint ein strahlendes Lächeln auf seinen Gesichtszügen. Nadeshda lässt die Cornflakes-Packung fallen, und niemand kümmert sich darum, sie wieder aufzuheben.

© Andreas Schröter, Mai 2002

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