Ganz schön bissig ...
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Mai 2002
Meine beste Freundin
von Monique Lhoir


Oft denke ich noch nach meinem Umzug wehmütig an meine Dortmunder Zeit zurück. Nicht nur, weil sich meine Familie dort befindet, sondern auch meine Schulfreunde und vor allen Dingen meine seinerzeit beste und liebste Freundin. Aus irgendwelchen Gründen hat sich unsere Freundschaft dann in den nächsten Jahren im Sande verlaufen, ich kann nicht mehr sagen, warum. Anfangs gab es noch ein paar Anrufe und dann war plötzlich Funkstille, sowohl von meiner als auch von ihrer Seite. Vielleicht hatte ich zuviel zu tun oder ich zu viel zu tun oder aber auch sie hatte zuviel zu tun.

Ungefähr zur gleichen Zeit vor meinem Umzug nach Hamburg heirateten wir und bekamen auch fast zeitgleich unser erstes Kind. Vielleicht war das sogar ausschlaggebend und wir waren mit anderen Dingen beschäftigt. Aber trotzdem, vergessen habe ich sie nie.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatte ich mich sogar einigermaßen an das Hamburger Nieselwetter gewöhnt und es machte mir nicht mehr so viel aus wie vorher.
Jedenfalls komme ich eines späten Nachmittags im Januar vom Büro nach Hause. Es ist schon dunkel und das Nieselwetter, der leichte Nebel und die Laternen tauchen meine Umgebung in ein unnatürlich gelbes Licht. Ich schliesse erleichtert, endlich Feierabend zu haben, mein Auto auf dem Parkplatz ab und gehe zu meiner Haustür. Gerade als ich aufsperren will, höre ich jemand zaghaft und fragend rufen: "Moni?". Ich drehe mich erstaunt um und schaue in die Richtung der Fragenden. Etwas verdattert sage ich irritiert: "Ja?" Wer soll mich hier in Hamburg schon ansprechen, wo ich doch eigentlich niemand so recht kenne, insbesondere niemand, der auch noch im Hauseingang steht.

"Kennen wir uns?" antworte ich er erstaunt. Mein Ton wird fester, um mir nicht meine Unsicherheit anmerken zu lassen. Ich schaue sie im Dunkeln an. Alles ist schemenhaft, die Eingangsleuchte funktioniert mal wieder nicht.
"Moni?" fragt die Person noch einmal zaghaft und löst sich aus den Bäumen, die den Eingangsbereich umgeben.
"Ja", sage ich noch einmal fest. "So heiße ich. Kann ich etwas für Sie tun?"
"Ich bin es", sagt die schemenhafte Person zu mir.
"Erkennst du mich nicht? Susanne!". Ich reagiere nicht sofort und sperre vorsorglich die Tür auf, um mir einen Fluchtweg freizuhalten.
"Susanne?" frage ich dann erstaunt zurück. Ich folgere nicht sofort und mir fehlt zu diesem späten und unvermuteten Zeitpunkt so schnell der Zusammenhang.
"Ja", sagt die Person, "Susanne!"

"Susanne?" frage ich völlig perplex. "Doch nicht etwa aus Dortmund?"
'Susanne', denke ich bei mir. 'Meine Freundin Susanne aus Dortmund. Man bist du blöd. Wie benimmst du dich eigentlich?' Ich fasse mir an den Kopf und sage immer noch fassungslos: "Komm doch erst mal rein. Entschuldige, aber ich bin so überrascht. Wir müssen doch nicht im Regen stehen."

Ich öffne nun endgültig weit die Haustür und mache das Flurlicht an. Susanne folgt mir still. Dann steige ich die Stufen zu meiner Wohnungstür hinauf. Ich lasse sie rein, sage ganz banal, von der Situation überrumpelt: "Setz dich. Ich komme gleich", und denke im gleichen Augenblick: 'Wieso verhältst du dich so blöd. Das ist Susanne, deine beste Freundin, die du schon seit Jahren nicht mehr gesehen hast und mit der du Jahre Freud und Leid und auch Liebeskummer geteilt hast.' Ich stelle meine Handtasche ab, ziehe mir meinen Mantel aus und gehe ins Wohnzimmer.

Ich frage sie: "Möchtest du einen Kaffee?"
"Gern", erwidert sie. Ich bin froh, wieder in die Küche zu kommen, um Kaffee aufzusetzen. Ich muss mich sammeln, werde mit der Situation nicht richtig fertig und verstehe vor allem mein Verhalten nicht.
'Müsste ich sie jetzt nicht einfach in die Arme nehmen und sie herzlich begrüßen?' denke ich. 'Warum benehme ich mich nur so blöd?' Ich krame langsam Tassen, Milch und Zucker aus dem Schrank, bringe alles ins Wohnzimmer und starre Susanne an.
"Ich bringe sofort den Kaffee", sage ich und bin auch schon wieder weg. 'Nun mach doch mal endlich was', tadele ich mich verzweifelt selbst. 'So viele Jahre sind doch noch gar nicht vergangen, dass man sich so fremd sein kann'.

Der Kaffee ist fertig und ich inzwischen auch. Meine Galgenfrist ist vorbei. Ich bringe ihn ins Wohnzimmer und schenke ihr eine Tasse ein. Traumverloren rühren wir beide Zucker und Milch hinein ohne eine Wort zu sprechen.

Und ich starre sie entsetzt an: "Wo hast du denn deine langen, schwarzen Locken gelassen?" frage ich sie ziemlich betroffen. Sie streicht sich mit der Hand - wie mir scheint - verschämt durch die Stoppelfrisur.
"Habe ich abschneiden lassen", sagt sie. "Ist doch so viel praktischer".
"Aber wieso hast du deine wunderschönen Haare abschneiden lassen", sage ich ziemlich betroffen und mir schießen angesichts dieser Tatsache Tränen in die Augen.
"Jeder hat dich um diese Haare beneidet". Traurig - wie mir wieder scheint - schaut sie mich nun an und meint nur lakonisch: "Ich habe nicht mehr so viel Zeit, um sie zu pflegen. Du weißt doch noch, wie lange Zeit ich brauchte, um sie zu trocken und zu frisieren. Wie oft musstest du warten, bis ich endlich soweit war, dass wir ausgehen konnten. Und jetzt bin ich in 5 Minuten fertig".

'Ach Susanne', denke ich traurig und fassungslos. 'Du siehst aus, als wenn du dich selbst kastriert hättest'. Aber ich sage nichts. Ich stehe langsam auf und setzte mich neben Susanne aufs Sofa, streiche ihr sanft durch die Stoppelfrisur, dann nehme ich sie in den Arm und sagte nur: "Oh Susanne, warum hast du das nur getan?" Sie verhält sich stocksteif in meinem Arm und ich spüre, wie meine Schulter feucht von ihren Tränen wird und in diesem Augenblick weiß ich, dass noch eine Menge anderer Dinge auf mich zukommen werden, als nur diese grausame Stoppelfrisur.

Als sie sich ein wenig beruhigt hat, rücke ich instinktiv wieder ein wenig von ihr ab.
"Warum hast du nicht angerufen und gesagt, dass du nach Hamburg kommst, dann hätte ich mir doch frei genommen. Und, vor allem, wie lange bleibst du?"
"Ich bin heute Nachmittag erst angekommen", erwidert sie, "und ich bleibe bis Sonntag. Du weißt doch noch, dass ich früher immer einmal im Jahr nach Hamburg gefahren bin", und es klingt ein wenig wehmütig.
"Ja", sage ich lächelnd und denke an unsere alten Zeiten. "Einmal im Jahr zum Musical "Cats". Das war dein absolute Muss. Du warst bestimmt deren treuester Fan. Aber "Cats" läuft jetzt nicht mehr, das haben sie abgesetzt. Besuchst du ein anderes Musical?"
"Ne", sagt sie, "ich wollte einfach nur noch einmal nach Hamburg."
"Ich freue mich, dass du da bist", sage ich, nun doch gefühlvoller und vor meinem Augen drängt sich das Bild von Susannes Junggesellen-Bude auf.

Susanne und ich waren Katzennarren. Das war eines der Dinger, die wir gemein hatten. Alle Accessoires und Dekorationen in ihrer Wohnung waren irgendwie mit Katze verbunden, ob es die Bilder an der Wand waren, die Handtücher im Badezimmer, der Läufer im Flur oder sogar der Kaffeebecher. Und natürlich fuhr sie einmal im Jahr zu "Cats". Ich war zwar auch ein Katzennarr, aber sie war völlig abgedreht.

Anfangs mochte ich Susanne überhaupt nicht. Sie kam als Buchhalterin in unsere Firma, war jünger als ich und sehr gut aussehend. Ich war zu der Zeit Chef-Assistentin und es passte mir überhaupt nicht in den Kram, dass sich plötzlich unsere Männer im Büro nur noch mit ihr beschäftigten. Ich glaube, ich war anfangs manches Mal recht ekelig zu ihr, habe ihr den Start in unserer Firma bestimmt nicht leicht gemacht und ihr gegenüber meine Position herausgekehrt.

Wir hatten keinen privaten Kontakt. Aber dann - ich weiß nicht mehr wann und wie - sind wir über unsere Katzen ins Gespräch gekommen. Und das war der Anfang einer echten Freundschaft.

"Wohnst du hier in Hamburg?" frage ich.
"Ja", sagt sie, "in einem Hotel in der Innenstadt. Ist ja auch nur eine billige Busreise gewesen."
"Hm", sage ich, "morgen ist Freitag, da kann ich versuchen, in meiner Firma mittags Schluss zu machen. Sollen wir uns bei dir am Hotel treffen? Ich meine, dann können wir wie früher ein wenig bummeln, einkaufen, Kaffee trinken und abends gehen wir was Tolles essen. Ach, hättest du doch nur angerufen, dann hätten wir uns einen super Plan machen können. Ich kann dir hier soviel zeigen". Ich rede hektisch und überschwenglich, da ich immer noch befangen bin, irritiert insbesondere durch ihr Aussehen.

"Ich hab mich kurzfristig entschlossen zu fahren", sagt sie etwas müde, "ganz kurzfristig. Es war gerade noch ein Platz frei. Ich war mir auch noch nicht sicher, ob wir uns treffen würden. Die spontane Idee kam mir erst heute Nachmittag, als ich mein Hotelzimmer bezog, und deshalb habe ich hier einfach vor der Tür gestanden und gewartet".

Am Abend, nachdem wir noch ein wenig und ziemlich oberflächlich, wie mir schien, miteinander geredet hatten, fuhr ich Susanne zu ihrem Hotel zurück und wir verabredeten uns für den nächsten Tag.

Langsam fahre ich dann heim, noch ganz erfüllt von diesem plötzlichen und unerwarteten Zusammentreffen. Meine Gefühlswelt ist komplett durcheinander. Es waren nicht nur ihre langen schwarzen Locken, die einer Stoppelfrisur gewichen waren und die ich an ihr vermisste, es war viel mehr. Mit den Locken war auch Susanne weg. Susanne war nicht mehr Susanne. Nicht einmal ein Hauch von ihr war noch da.

Susanne sprühte früher vor Leben. Sie tat viele Dinge gleichzeitig, redete hektisch, storkste stets mit viel zu hohen und spitzen Stöckelschuhen durch die Gegend, wobei sie von Natur aus schon ziemlich lange, dünne Beine hatte, die dann endlos wirkten und genau so endlos auch auf sämtliche Männer wirkten, wenn wir ausgingen. Ich habe mich stets gefragt, wie sie es schaffte, auf diesen Dingern zu laufen und auch noch damit eine ganze Nacht durchzutanzen. Susanne schloss nämlich grundsätzlich nachts die Bars ab, vergaß genauso grundsätzlich ihre Jacken oder Pullover in diesen Bars und kam halb angezogen nach Hause. Susanne war eben Susanne. Und sie war es, die mich immer mitschleppte und mich dazu verleitete, Dinge zu tun, die ich wahrscheinlich sonst nie getan hätte - immerhin war ich ja Chef-Assistentin und so hatte ich mich auch zu benehmen.

Aber was hatte sie so verändert? Das war nicht mehr Susanne. Mein Gott, warum hatte ich nicht mal in der Zwischenzeit angerufen? War ich wirklich so beschäftigt gewesen, um nicht ein einziges Mal Zeit für ein kurzes Telefonat zu haben? War es möglich, dass ich die letzten fünf Jahre nicht einmal Zeit gefunden hatte, mich zu melden? Ich machte mir Vorwürfe und bekam ein schlechtes Gewissen.

Meine Nacht verbrachte ich sehr unruhig. Ich träumte von früheren Zeiten, alles wirr durcheinander und fuhr morgens völlig gerädert ins Büro. Als ich mittags Schluss machte und in die Innenstadt Hamburgs fuhr, um Susanne zu treffen, nahm ich mir vor, den Dingen auf den Grund zu gehen. Aber konnte ich das, ohne ihr zu nahe zu treten? 'Nein', denk ich, 'warte ab, was sie dir erzählen will. Tu einfach so, als wenn gar nichts passiert wäre. Und um Gottes willen reiß dich zusammen und zeige ihr nicht, wie schockiert und betroffen du bist'.

Susanne wartet schon in der Eingangshalle des Hotels. Das erste, was mir auffällt ist, dass sie gar keine Stöckelschuhe trägt, sondern ihre Füße in bequeme Halbschuhe gepackt hat. Das ist auch ein Bild, an das ich mich erst gewöhnen muss. Sie wirkt so viel kleiner, obwohl sie immer noch einen Kopf größer ist als ich. Auch ist ihre Kleidung nicht mehr so auffällig wie früher, eher sehr bieder. Ebenfalls ein Bild, an das ich mich erst gewöhnen muss. Das ist nicht mehr die Susanne von früher.

Ich begrüße sie überschwenglich und zerre sie mit.
"Weißt du, was wir machen?" sag ich ganz euphorisch. "Wir bummeln durchs Hanse-Viertel. Ich kann dir sagen, da gibt's Klamotten, die kosten ein paar tausend Euro, die kann sich unsereins überhaupt nicht leisten. Da machen wir uns einen Spaß draus und tun so, als ob wir die kaufen wollten und probieren die an. Das produziert echt Glückshormone".
"Meinst du?" fragt Susanne zaghaft und schaut an sich herunter. "Ob die uns das glauben werden?"
"Klar doch", sag ich, "je unauffälliger man aussieht um so besser. Und du hast doch eine tolle Figur. Immer noch wie ein Model. Dir passt einfach alles. Im Gegensatz zu mir", füge ich etwas neidvoll hinzu. "Ich bin einfach immer noch zu klein für diese Designer-Klamotten", sag ich dann aber doch lachend.

Wir wandern durchs Hanse-Viertel und drücken uns die Nasen an den Schaufenstern platt. Susanne wird immer schweigsamer.
"Komm", sag ich "gehen wir mal hier rein. Das ist eins meiner Lieblingsgeschäfte. Guck dir das an. Jil Sander. So ein Riesenladen und fast nichts drin. Und alles nur in Grau, Beige und Schwarz. Aber echt klassisch. So ein Ding tragen und man fühlt sich wie der Chef persönlich."
Ich steuere zielstrebig auf die Kostüme zu. Eine etwas pikiert dreinschauende Verkäuferin - ich weiß gar nicht, ob man das zu diesen Damen sagen darf - kommt direkt auf mich zu.
"Kann ich ihnen behilflich sein?" fragt sie blasiert und bekommt dabei kaum ihre Lippen auseinander, so dick geschminkt sind diese, es könnte aber auch sein, dass die aufgetragene Glasur von ihren Wangen abbröckeln könnte.

"Ja", sage ich, "gerne. Meine Freundin aus New York ist gekommen und wir wollten uns mal eines ihrer klassischen Kostüme anschauen. Leider ist ihr Gepäck noch nicht da und sie hat morgen früh einen wichtigen Termin. Ich denke mal, dass dieses hier einigermaßen ihrem Stil gerecht wird", und reiche eines der schwarzen Kostüme heraus. Die Verkäuferin wird um einiges freundlicher, ohne dass die Glasur abbröckelt, und bittet Susanne in eine der Umkleidekabinen.
'Oh Gott', denke ich, 'hoffentlich hat sie wenigstens einigermaßen nette Unterwäsche an und nicht so biedere, wie ihre obere Schicht. Sonst fliegen wir ja gleich auf'.

Nach kurzer Zeit kommt Susanne wieder heraus. Sie sieht einfach phantastisch und elegant in diesem Kostüm aus, trotz Stoppelfrisur. Ich bin begeistert. "Dreh dich mal", sage ich. Dieses teure Ding passt wie angegossen und die blasierte Verkäuferin ist begeistert. Wenn ich das Geld gehabt hätte, ich hätte es glatt gekauft.
"Hm", sage ich, "ich glaube, für den Termin morgen ist es nicht geeignet. Wissen Sie", wende ich mich an die Verkäuferin, "meine Freundin hat morgen einen wichtigen Termin mit Filmproduzenten hier in Hamburg. Dieses Kostüm ist etwas zu schlicht und zu bieder. Ne, ne, das passt nicht. Ich glaub, wir gehen doch lieber zu Dior."

Als wir wieder auf der Straße sind und um die erste Ecke gebogen waren, stupst mich Susanne entsetzt an.
"Sag mal, bist du völlig bekloppt? Hast du gesehen, was dieses Kostüm gekostet hat? Das waren 6.000 Euro. Soviel Haushaltsgeld hab ich noch nicht mal fürs ganze Jahr?"
Ich bekomme einen Lachkrampf, so viel Spaß hat es gemacht und denke an die aufgetakelte Verkäuferin, der doch noch am Ende fast der Putz von den Wangen gefallen wäre.
"Na", sage ich, "hat sich doch gelohnt, das mal anzuprobieren. Aber weißt du, du hast einfach toll darin ausgesehen", und ich komme ins Schwärmen.

Und dann kommen wir an mein absolutes Lieblingsgeschäft vorbei. Versace. Ich stoße Susanne an.
"Guck dir dieses Kleid an. Ist das nicht ein Traum? Das wäre das Kleid für dich." Ich bin hin und weg und zerre Susanne in den Laden. Ich kann den Verkäufer überreden, das Kleid aus dem Schaufenster zu holen und Susanne geht - inzwischen wahrscheinlich schon völlig willenlos - mit diesem Traum in die Umkleidekabine. Als sie herauskommt, falle ich bald um. Sie sieht großartig aus. Wie ein Filmstar. Auch der Verkäufer ist begeistert. Ein schmales Oberteil, das sich eng um ihre sowieso viel zu dünne Taille schmiegt, ist über und über mit zarten rosa Rosen übersät. Darunter bauscht sich ein in vielen Stufen fallender weiter Rock, der ebenfalls mit vielen Rosen übersät ist. Das Kleid ist aus giftgrünem Taft und passt hervorragend zu ihrer weißen Haut und ihren schwarzen Haaren - eh Stoppelfrisur. Ich stelle mir jetzt die Susanne mit ihren ehemals langen schwarzen Locken und ihrem herzerfrischend Lachen vor und stiere sie an.

Der Verkäufer, wohl mindestens genauso begeistert wie ich, führt Susanne vor den großen Umkleidespiegel und dreht sie hin und hier. Auch Susanne starrt sich an und blickt dann aber hilflos und verzweifelt zu mir herüber. Ich habe das Gefühl, dass ich dieses Spiel beenden muss und pflichte dem Verkäufer bei, dass dies das wirklich absolute Kleid für meine Freundin ist, wir uns aber bei einer Tasse Kaffee noch einmal in Ruhe entscheiden wollen.

Wir verlassen den Laden. Susanne sagt nun endgültig gar nichts mehr und ich steuere ein kleines Kaffee an. Draußen wird es schon dunkel und wir bekommen einen Platz an einer Fleet. Hier sitzen wir gemütlich im Warmen; es fängt leicht zu schneien an, überall brennen Laternen und Lampen und verbreiten warme Gemütlichkeit. Wir starren beide aus dem Fenster und schauen den Schneeflocken zu.

Susanne atmet plötzlich tief durch und sagt: "Weißt du, dies ist das erste Mal seit einigen Jahren, dass ich in Ruhe in einem Café sitze und einen Eiskaffee trinke. Und das bei dieser Kälte und mit diesem herrlichen Ausblick. Und all diese tollen Kleider? Als ich in den Spiegel schaute, habe ich mich nicht mehr erkannt, diese Person, die mir gegenübertrat, war nicht ich. Diese Person war mir fremd und doch so vertraut. Ich habe mich fürchterlich erschrocken."

Ihr Blick schweift in die Ferne und ich lasse sie in Ruhe und sage nichts, weil ich das Gefühl habe, dass sie das einfach braucht. Nach einiger Zeit schaut sie mich an: "Aber weiß du was?" sagt sie plötzlich und ich kann in ihren so leeren Augen doch wieder etwas Leben entdecken. "Du bist völlig verrückt! Wie kannst du in diese Läden gehen und so tun als ob?"

Ich grinse sie schief an: " Hm, ich hatte mal vor ein paar Jahren in Dortmund eine gute Lehrmeisterin".
Wir schweigen wieder und sie schaut verträumt in das Schneegestöber.

"Ich hab eine Idee", sage ich plötzlich, um diese wehmütige Stille zu unterbrechen. "Ich kenne hier in der Nähe einen Laden mit tausend verschiedenen Aromen. Den werden wir aufsuchen und uns etwas Schönes kaufen. Und dann werden wir genau das machen, was wir früher immer getan haben. Nämlich nach Hause fahren, es uns gemütlich machen, vielleicht Tarot-Karten legen und uns die Probleme von der Seele reden, auch wenn es noch so blöd und albern ist".

Wir schauen uns in die Augen und ich habe endlich das Gefühl, dass meine Freundin Susanne wieder annähernd meine Freundin Susanne wird.

Und genau das taten wir auch. Wir kauften einen süßlichen, exotischen Rosenduft, etwas Zitronella und Geranium, natürlich auch noch einen Lippenstift, Wimperntusche, Parfum, eine wahrscheinlich völlig unnütze Kosmetiktasche und fuhren beglückt mit unseren Schätzen nach Hause. Dann mischten wir die Aromen in eine Öllampe, dämpften das Licht und legten Musik auf.

'Ah', denk ich, 'zum Glück ist mein Mann nicht zu Hause. Wenn der diesen Duftgeruch mitkriegen würde, bekäme er eine Krise. Komisch', denke ich weiter, 'warum kann man solche doch so einfachen aber beruhigenden und gemütlichen Dinge nicht mit einem Mann machen?' und mir fällt auf, wie lange Zeit ich meine Öllampe schon nicht mehr benutzt hatte.

Mit zunehmender Verbreiterung der Duftmischung im Raum wird auch Susanne entspannter und ihre recht hart gewordenen Gesichtszüge lockern sich. Vielleicht war es auch das Kerzenlicht, aber Susanne ähnelt so doch wieder Susanne. Trotz Stoppelfrisur. Hunger haben wir keinen mehr, dafür öffne ich eine Flasche Rotwein und wir schenken uns ein.

Ich frage: "Sag mal, wo hast du deine Tochter gelassen?"
"Ich habe sie übers Wochenende zu meiner Mutter gegeben", sagt Susanne. "Sie freut sich, wenn sie auch mal dort übernachten darf. Und dein Sohn?" fragt Susanne.
"Hm", erwidere ich, "der macht gerade einen Ausflug und mein Mann ist auf der Düsseldorfer Messe und kommt erst Montag zurück. Wie du siehst, habe ich sturmfreie Bude. Du bist gerade zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Ist das nicht herrlich?" und ich breite die Arme aus.
"Nun sitzen wir hier zusammen wie früher, lassen uns von den Aromen und dem Rotwein benebeln und haben alle Zeit der Welt und nichts, aber auch gar nichts zu tun."
Susanne nickt und sagt leise: "Ja, ich wusste auch schon gar nicht mehr, wie schön das war. Früher habe ich das überhaupt nicht so richtig wahrgenommen, wenn wir uns trafen. Wir empfanden das einfach so normal, haben uns keine Gedanken gemacht und das war unsere Welt. Aber dann verlief das Leben plötzlich ganz anders".

"Und dein Mann?" frage ich dann vorsichtig weiter. "Warum ist er nicht mit nach Hamburg gekommen?"
Susanne weicht aus. "Er macht solche Touren nicht. Ich glaub, er ist froh, dass ich mal nicht da bin".
Ich überlege. Ist das bei mir auch so? Habe ich mich eventuell auch so verändert und es gar nicht wahrgenommen? Bislang hatte ich wohl noch keine Zeit gehabt, mir darüber Gedanken zu machen und mir fällt auf, dass es auch schon eine Ewigkeit her war, dass mein Mann und ich etwas gemeinsam unternommen hatten. Aber die letzten Jahre waren auch etwas turbulent verlaufen und ich kam kaum zum Luftholen.

Aber vorerst gehe ich nicht weiter auf dieses Thema ein. Der Duft der Aromalampe verbreitet sich weiter und ich atme tief durch. Ich habe das Gefühl, dass wir beide mit unseren Gedanken weit weg sind. Es herrscht eine wohltuende Stille.
"Ah", sag ich plötzlich. "Ich hab eine Idee." Ich stehe auf und krame in den CDs herum bis ich gefunden habe, was ich suche und wechsele die Musik.
"Kannst du dich noch daran erinnern?" frage ich Susanne, als die ersten orientalischen Klänge aus den Lautsprechern kommen?
"Ja", sagt sie landend, "ich hatte von meinem Orthopäden Rückengymnastik verschrieben bekommen und er meinte, Bauchtanz täte mir gut. Dich hatte ich dann auch noch dahin mitgeschleppt."

"Ja", sag ich lachend, "du warst stocksteif und mir hat es am Ende einen riesigen Spaß gemacht. Nun mache ich immer noch Bauchtanz und du bist immer noch stocksteif. Verrückte Welt! Soll ich dir mal meine Kostüme zeigen, die ich mir in der letzten Zeit genäht und mit Paletten bestickt habe?"

Ich lauf ins Schlafzimmer und hole den Karton mit den Kostümen, krame alles aus und verstreue es im ganzen Raum.
"Schau dir dieses mal an", sage ich. "Das ist mein schönstes Werk. Ganz in schwarz und weiß. Und es klimpert und raschelt so schön, wenn man es beim Tanzen trägt. Zieh mal an."
Wir kleideten uns um und mir kommt der verrückte Gedanke, wenn jetzt jemand an der Haustür klingeln würde, der würde uns für völlig verrückt halten, insbesondere wenn ihm zwei Frauen in Bauchtanzkostümen die Tür öffnen würden. Ach, was machte das alles für einen Spaß.

Wir bewegen uns nach der Musik, so wie früher und wie wir es gelernt hatten.
"Weißt du noch", frage ich Susanne, "wenn wir im Sommer in diesem stickigen Raum unsere Übungen gemacht haben? Uns war einfach nur heiß und dann haben wir die Bauchwippe gemacht und die Perlen am Bauchtanzgürtel wedelten uns unten herum Luft zu. Anneliese war darin besonders gut. Wir hatten einen riesigen Spaß und haben immer heraus geguckt, ob auch kein Mann zuschauen würde."

Jetzt lacht Susanne endlich einmal wirklich herzlich, aber dann wird sie plötzlich wieder sehr ernst, stellt ihren Tanz ein und setzt sich stumm hin.
"Ich mache seit Jahren keinen Bauchtanz mehr", sagt sie. "Ich habe keine Zeit".

"Keine Zeit?" frage ich. "Aber interessiert es deinen Mann nicht? Ich mein, er war doch früher ganz begeistert, wenn wir losgingen und immer recht stolz darauf, dass du so toll ausgesehen hast. Der hat dich doch regelrecht auf Händen getragen, dir jeden Wunsch von den Augen abgelesen - ja - eigentlich war er ja schon fast krankhaft eifersüchtig. Niemand durfte dir zu nahe kommen. Sogar, wenn wir Frauen uns abends getroffen haben, hat er dich doch immer abgeholt. Wobei ich immer zusehen musste, wie ich nach Hause kam."

"Ja" sagt Susanne traurig, "das war einmal so. Aber jetzt ist alles ganz anders".
Wir schweigen wieder und lauschen der Musik. Meine Gedanken schweifen ab und wandern in die Vergangenheit.
'Ja, auch ich bin ernsthafter geworden', denk ich. 'Auch bei mir hat sich vieles verändert. Es ist alles nicht mehr so wie früher. Ob das vielleicht am Älterwerden liegt? Oder haben wir heute wirklich nicht mehr die Zeit wie früher, um sich ein wenig mit sich selbst zu beschäftigen. Und', gestand ich mir ein, 'so richtig zufrieden und glücklich bin ich eigentlich auch nicht. Ich vertusche es nur immer wieder, will es nicht wahrhaben und lasse die aufkommenden Gefühle einfach von der Hektik der Zeit auffressen'.

Plötzlich frag ich ganz unvermutet: "Susanne, warum hast du deine schönen langen Haare abschneiden lassen?"
Susanne erschrickt und starrt mich an. Ihre Augen werden feucht, aber es kommen keine Tränen. Susanne weint still. Ich habe noch nie jemand so still weinen sehen und bin tief betroffen.

Ich lasse Susanne in Ruhe, frage nicht mehr. Wenn jemand auf diese Art weint, muss es wirklich ernst sein.
'Mein Gott', denke ich, 'was alles kann in so wenigen Jahren passieren, dass sich jemand derartig verändert? Susanne, diese lebenslustige, extravagante Susanne, die wirklich nichts umwarf, saß hier herum wie ein Häufchen Elend. Ich kann mich noch erinnern, wenn wir mal wieder bei ihr zu Hause waren, dass sie stolz die alten Playboy-Zeitschriften heraus kramte, auf denen sie als Titelmodel zu sehen war. Sie war damals erst 17 Jahre und hatte die Unterschriften der Eltern gefälscht, da diese nie damit einverstanden gewesen wären, dass sie sich ablichten ließ. Aber sie sah wirklich einfach umwerfend aus und die meisten Stellen waren sowieso von ihren langen schwarzen Haaren bedeckt. Diese Haare waren einmalig. Es war überhaupt das Schönste an ihr und alle bewunderten diese Lockenpracht.

Während ich noch meinen Gedanken nachging, sagte Susanne unvermittelt und trotzig: "Ich habe meine Haare aus zwei Gründen abschneiden lassen. Ich habe sie verkauft, ich brauchte Geld, um meiner kleinen Tochter etwas zum Essen kaufen zu können, andererseits habe ich meinen Man damit getroffen. Er ist kaum ein Abend zu Hause, das Geld, was er verdient, vertrinkt er und ich hatte nie Geld. Melanie schrie, weil sie Hunger hatte. Ich bin dann los und ließ mir die Haare abschneiden, es war das einzige, was ich noch besaß und zu Geld machen konnte. Ich kaufte dafür Melanie etwas zu essen."

"Oh mein Gott", kriege ich nur noch raus beginne auch fast zu weinen. Susanne schweigt wieder, aber sie weint nicht mehr.
"Die Haare", sagt sie nach einer Weile, "wachsen wieder nach. Irgendwann werden sie wieder so lang sein wie früher. - Irgendwann."

"Aber warum hast du dann nicht mal angerufen. Susanne, wir hätten dir doch alle geholfen. Unsere ganze alte Frauentruppe hätte dir geholfen, das weißt du doch. Niemand hätte es zugelassen, dass du dir wegen ein paar Euro die Haare abschneiden lässt. Wozu sind Freundinnen denn sonst da, wenn nicht gerade für solche Probleme. So etwas ist nicht zu fassen, nicht in der heutigen Zeit".

Ich schüttele den Kopf.
"Nein", spricht Susanne leise weiter, "es hatte auch noch einen anderen Grund. Mein Mann liebte meine Haare. Ich glaube, es war das einzige, was er an mir überhaupt liebte. Ich als Person war für ihn nur Luft und eine Belastung. Ich durfte nur putzen und waschen, während er ausging. Ich bekam fast gar kein Haushaltsgeld, sollte aber immer die besten Menüs kochen, wenn er mal nach Hause kam. Falls er - was selten vorkam - mit mir ausging, prahlte er bei seinen Saufkumpels mit mir rum, insbesondere wegen meiner Haare, und spielte den fürsorglichen Ehemann. Außerhalb. Aber wehe dem, wir waren wieder zu Hause."

Susanne machte eine Pause, atmete dann tief durch.

"Als ich mich entschloss, meine Haare abzuschneiden, war mir ziemlich klar, dass ich ihm damit etwas wegnahm. Nun hatte er keine Möglichkeit mehr, mit mir herumzuprahlen - und damit war ich für ihn völlig wertlos geworden."

"Und was sagte er, als er nach Hause kam?" fragte ich dann vorsichtig.
"Ja", sagt Susanne still, "das war der letzte Tag, an dem ich ihn gesehen habe. Ich schämte mich wegen meiner kurzen Haare, ich fühlte mich so nackt. Melanie schlief schon. Er kam wieder einmal spät und angetrunken nach Hause. Ich war schon im Bett. Hörte, wie er im Wohnzimmer polterte, Möbel anstieß - ich wusste, dass er wieder betrunken war. Ich verhielt mich ruhig, in der Hoffnung, er würde annehmen, dass ich schliefe. Er polterte ins Schlafzimmer und lallte: "Hey, und jetzt wollen wir mal unseren ehelichen Verpflichtungen nachkommen. Hast ja sonst nichts zu tun", und zog mir die Bettdecke weg. Dann starrte er auf meine Haare und brüllte los. Er zerrte mich aus dem Bett, schleifte mich ins Badezimmer, stellte mich vor den Spiegel und schrie mich an. Dabei schlug er mir immer wieder ins Gesicht. Er war völlig außer sich. Irgendwann stieß ich mit den Kopf an den Türpfosten und wurde ohnmächtig."
Sie schwieg wieder.
"Hat dich dann jemand gefunden?" frage ich entsetzt.
"Nein, irgendwann kam ich wieder zu mir. Mein Kopf schmerzte und der Boden war blutverschmiert. Er war ins Bett gegangen, ich hörte ihn schnarchen. Ich rappelte mich auf und ging zu einer Nachbarin. Die rief dann einen Krankenwagen und ich verbrachte vierzehn Tage im Krankenhaus." Nun lächelte Susanne sogar.

"Meine Gott", sage ich entsetzt, "was hast du alles durchgemacht. Warum hast du ihn nicht schon vorher verlassen? Warum bist du überhaupt bei ihm geblieben?"
"Ja", sagt Susanne, "das ist eine schwierige Frage, die man nicht so leicht beantworten kann". Sie macht eine Pause.

"Ich bin bei ihm geblieben, weil ich immer gehofft habe, er würde sich ändern. Außerdem war Melanie da und ich wollte ihr den Vater erhalten. Ich habe einfach gehofft, dass alles wieder so werden würde wie früher. Bevor wir geheiratet hatten, war er wirklich immer nett zu mir. Wie du selbst sagst, er hat mich auf Händen getragen und ich war glücklich, einen so fürsorglichen Mann gefunden zu haben. Außerdem hat er früher nie getrunken.

Im ersten Jahr unserer Ehe lief auch alles hervorragend. Wir kauften ein Haus und ich war ja immer noch berufstätig. Gut, er war schon immer sehr eifersüchtig, aber irgendwie machte mich das auch stolz. Dann kam Melanie und ich hörte auf zu arbeiten. Das Geld wurde knapp. Er fing an zu trinken und je mehr er trank, um so weniger Geld hatten wir. Dann wurde das Haus versteigert und wir zogen wieder in eine Mietwohnung. Ich glaube, das hat er nicht verkraftet. Er schämte sich einfach. Er trank immer mehr und immer mehr. Dann verlor er seinen Job und in den letzten Monaten haben wir von seinem Arbeitslosengeld gelebt. Aber auch das vertrank er."

Susanne schnaufte wieder durch.
"Aber es gibt da noch etwas, nämlich die Gefühle. Ich glaube, ich liebe ihn immer noch, oder das, was von ihm übriggeblieben ist, deshalb habe ich das ja auch alles durchgestanden.
Er wird sich nicht mehr ändern. Ich werde mich damit abfinden müssen. Es wird nicht leicht für mich. Du weißt, dass er meine Jugendliebe war und nun werde ich ganz von vorne anfangen müssen".

"Und wo wohnst du jetzt?" frage ich Susanne.
"Meine Mutter hat Melanie zu sich genommen und als ich aus dem Krankenhaus kam, bin ich ebenfalls dort wieder eingezogen. In mein altes Kinderzimmer. Ich bin jetzt seit drei Wochen dort. Vorige Woche habe ich einen neuen Arbeitsvertrag unterschrieben, weißt du, in unserer alten Firma. Sie haben mich wieder genommen. Wenn ich erst einmal meine erste Abrechnung habe, kann ich mir auch eine kleine Wohnung suchen. Es wird nicht leicht für mich, aber meine ersten selbständigen Schritte habe ich unternommen."

"Oh Susanne", sage ich und nehme sie in den Arm. "Es tut mir so leid, dass ich mich nie bei dir gemeldet habe. Wenn ich nur gewusst hätte, wie schwer du es hattest. Es tut mir so leid. Irgendwie hätten wir bestimmt gemeinsam eine Lösung gefunden."

Susanne lächelt mich an. "Es hätte nichts genutzt. Mein Mann hat mir jeden Kontakt mit meinen Bekannten untersagt. Er wollte nicht, dass irgendwie herauskam, dass es uns so schlecht ging, während die anderen ihre Häuser hatten und in Urlaub fuhren. Nach Außen spielte er allen eine heile Welt vor, nur innen war alles zerstört. Er tat mir leid und ich wollte ihm diese Schmach auch nicht zufügen. Also unterließ ich es, mich zu melden. Ich war Jahre nicht mehr allein weggegangen und ich fühle mich so unselbständig. Ich habe einfach alles verlernt. Was früher normal war, ist jetzt so schwierig. Selbst bei der Unterzeichnung meines neuen Arbeitsvertrages zitterten meine Hände und ich war nachher schweißgebadet."

"Aber jetzt bist du in Hamburg", sage ich und strahle sie an.
"Ja", erwidert Susanne, "und das ist mir gar nicht leicht gefallen. Meine Mutter kam plötzlich mit der Idee, mich nach Hamburg zu schicken, weil ich doch früher jedes Jahr gefahren bin. Ich wollte erst nicht. Als ich dann vorige Woche den Vertrag unterschrieben habe, kam ich an das kleine Reisebüro vorbei, du weißt schon, das unten an der Ecke. Es existiert immer noch. Ich ging rein und plötzlich hatte ich ein Reiseticket nach Hamburg in der Hand. Ich war selbst über meinen Mut überrascht."

"Ach Susanne", sage ich, "du wirst das schon schaffen. Da bin ich mir ganz sicher. Und ich verspreche dir, ich werde mich jetzt immer regelmäßig bei dir melden. Oder kaufe dir doch später einen Computer, dann können wir uns online unterhalten. Das ist doch wunderbar. Du in Dortmund und ich in Hamburg und wir können uns auch gegenseitig besuchen".

Da saßen wir nun im Dämmerlicht in unseren Bauchtanzkostümen, dem Aromaduft und unserer Musik, genau wie früher. Es schien keine Zeit vergangen zu sein und doch lagen Jahre dazwischen. Es war so unendlich viel passiert. Bei ihr sowie bei mir.

Ich empfand große Dankbarkeit, dass es Susanne geschafft hatte, mich zu besuchen. Mit ihrer Geschichte hatte sie in meiner Gefühlswelt Türen geöffnet, die viel zu lange dicht verschlossen waren. Mit ihrer Geschichte hatte sie mir gezeigt, dass es auch noch etwas anderes gibt, als sich nur um Karriere und Geld zu kümmern. Mit ihrer Geschichte hatte sie mir gezeigt, dass es etwas viel wertvolleres gibt, das nicht einmal Geld kostet, nämlich Liebe und Freundschaft, dass man vielleicht doch ab und an inne halten und sich um die Menschen kümmern sollte, mit denen man eine gewisse Wegstrecke verbringt. Hätte ich das in den letzten fünf Jahren auch nur ein einziges Mal beachtet, wäre Susannes Leben vielleicht ganz anders verlaufen und sie hätte nicht in diesem jämmerlichen Zustand im Regen vor meiner Tür gestanden.

Susanne hat bei mir viele Gedanken hervorgerufen und ich habe lange gebraucht, um ihren Besuch zu verarbeiten. Ich hoffe, dass Susanne wieder Susanne wird - nein, ich bin mir fast sicher.

Susanne und ich verbrachten noch zwei herrliche Tage in Hamburg, hatten fast genau so viel Spaß wie früher. Man konnte offensichtlich sehen, wie sie fast stündlich lockerer wurde und vor allem ab und zu auch wieder lachte. Dieses Lachen machte mich wiederum einfach nur glücklich.

Sonntags brachte ich sie dann zu ihrem Bus, der sie wieder nach Dortmund fuhr. Ich hatte heimlich zwischendurch Kaffeebecher mit Katzenmotiven gekauft und gab sie ihr zum Abschied.
"Für deine neue Wohnung", sage ich.
"Ja" erwidert sie lächelnd und betrachtet die Kaztenmotive, "meine ersten neuen Einrichtungsgegenstände. Da kann doch eigentlich gar nichts mehr schief gehen".

Der Busfahrer hupte bereits und wir verabschiedeten uns. Ich strich ihr über die Stoppelfrisur.
"Deine Haare werden auch wieder wachsen. Und je länger sie werden, um so schöner wird wieder dein Leben. Aber vor allem, du hast Melanie und uns und wir lieben dich. Noch etwas wichtiges - ich ruf dich an. Ich rufe dich ganz bestimmt an".
(c) Monique Lhoir

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