Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Mai 2002
Das Herz des Söldners
von Birgit Erwin


Es war lächerlich wenig Blut, aber die Wunde war tödlich. Es schien, als habe der Körper nicht mehr zu geben als das kärgliche Rinnsal, das über die Rippenbögen tröpfelte.
"Es ist gar nicht so viel Leben, wenn man jemand tötet, der so winzig ist", sagte der Mann und stupste die Leiche sacht mit dem Fuß an. "Mein großer Zeh scheint größer als ihr ganzer Fuß."
Die Frau warf ihm einen kühlen Blick zu, aber sie schwieg. Sie ging neben der Toten in die Hocke und durchsuchte sie.
"Dein Haar, das sollte das Blut sein", sagte der Mann leise, "so viel und rot. Ich habe nicht gewusst, dass sie so klein ist. Wenn ich sie ansehe, denke ich, dass ich etwas fühlen müsste." Er verstummte, als die Frau eine heftige Bewegung machte.
"Dazu fehlt dir ein Herz", sagte sie kalt.
Sie ließ sich auf die Fersen zurückfallen und warf dem Mann einen Beutel vor die Füße. Er bückte sich, und für einen Augenblick waren ihre Augen auf gleicher Höhe. Ein Lächeln spaltete das Gesicht der Frau waagerecht, so wie die gezackte Narbe es senkrecht spaltete. Vier Viertel perfekter Schönheit, dachte er nicht zum ersten Mal. Eine Gänsehaut kroch ihm über den Rücken.
"Nimm es", sagte sie. "Deshalb hast du es doch getan."
"Du verachtest mich dafür?"
"Dafür? Nein."
Sie sah zu, wie er die Rubine in seine offene Handfläche kullern ließ. Sie waren wie Blut auf seiner warmen Haut. Er sah ihren Blick und streckte ihr die Hand entgegen.
Unbeholfen sagte er: "Wenn du es dir anders überlegt hast, da... nimm."
Die Frau starrte ihn nur an.
"Dafür hast du sie getötet", wiederholte sie. "Du hast die letzte Elfe für eine Handvoll Steine getötet."
Der Mann schwieg. Er dachte an das Leben, das hinter ihm lag und an das, das die Zukunft noch bringen würde. Manchmal, nachts, fühlte er das Alter wie einen kalten Flügel sein Gesicht streifen. Noch konnte er seinen Lebensunterhalt mit dem Schwert bestreiten, aber mit jedem Erwachen wuchs die Angst. Er hatte geglaubt, alles bedacht zu haben, als er sich für das Leben als Söldner entschied. Das war lange her. Er konnte sich nicht mehr an das Leben davor erinnern.
Er zuckte die Achseln.
"Nur ein bisschen Leben", sagte er traurig, "kaum er Rede wert."
"Eine einfache Gleichung." Ihr Gesicht verriet nicht, ob sie ihn verhöhnte. Es verriet keine Trauer, keine Missbilligung, keine Gier.
"Wir müssen weiter", sagte sie und stand auf.
"Wir?"
"Wir hatten einen Vertrag. Ich habe meinen Teil eingelöst, ich habe die Elfe für dich gefunden. Du hast geschworen, du würdest mit mir gehen, bis ans Ende meiner Reise."
Tief in seiner Brust zuckte bei diesen Worten die leere Stelle.
"Wer bist du?" fragte er leise. "Wer? Als ich dich in der Schenke das erstemal gesehen habe..." Er legte seine Hand auf die Brust.
Sie sah rasch auf. "Ja?"
"Ich weiß nicht. Du... ich weiß nicht. Warum hast du es getan?"
Sie stand auf. Der Feuerschein brach sich auf ihrem roten Brustpanzer. Er flammte über die Narbe, die ihr Gesicht und ihren Hals zerschnitt und in der Halsberge verschwand. In seinen Träumen folgten seine Hände der roten Naht durch das Tal ihrer makellosen Brüste, in den Bauchnabel und dann durch das rote Feuer ihrer Scham. Er sah sie an, und ihr wundervolles Haar schien ihm wie Blut, das aus einem gespaltenen Schädel sprang.
Der Mann ließ die Steine in seine Tasche gleiten und hob den winzigen Körper auf seine Arme. Zerbrochen baumelten Kopf und Füße gegen seinen Lederharnisch. Schweigend sah er die Frau an. Er wartete auf ein Zeichen. Er wartete vergeblich. Sie nahm ihm den Körper aus den Armen und warf ihn quer über ihr Pferd, schwang sich hinter ihm in den Sattel und galoppierte über den mondbeschienenen Pfad. Ihm blieb nichts übrig, als ihr zu folgen.


"Wo sind wir?"
"Erkennst du es nicht wieder?"
Ihre Augen waren weit aufgerissen. Er sah die Erwartung darin und schüttelte den Kopf. Ihre Augen wurden noch größer.
In seinem Magen bildete sich ein Klumpen.
"Doch", flüsterte er.
Wie hatte er vergessen können? Vor langer Zeit hatte er diesen Ort gekannt. Hier hatte ein Dorf gestanden. Sein Dorf.
"Richtig", sagte die Frau leise.
"Kannst du meine Gedanken lesen?"
Als sie schwieg, fragte er: "Warum hast du mich hierher gebracht?"
Laub raschelte unter seinen Füßen. Er atmete tief.
"Hier habe ich als Junge gespielt. Hier habe ich Drachen erlegt. Ich war ein Held. Ein verdammter strahlender Ritter."
Die Lippen der Frau waren leicht geöffnet aber stumm. Seine Augen glitten suchend an ihrem Gesicht vorbei auf den toten Körper der letzten Elfe, die sie auf den Armen hielt.
"Ich war glücklich hier", sagte er verwundert. "Aber es ist lange her."
Langsam ließ er sich auf die Knie nieder. Das Gras war feucht unter seiner nackten Haut, und er wusste, dass ihm das Aufstehen schwer fallen würde.
Die Frau beobachtete ihn mit verhangenem Blick, und er fühlte eine seltsame Verbundenheit mit ihr.
"Wer bist du?" bat er leise. "Warum erinnere ich mich?"
"Man braucht ein Herz, um sich zu erinnern", sagte die Frau kalt.
"Aber..."
Sie drehte sich schroff um und schritt mit ihrer Last voraus. Sträucher und Zweige teilten sich vor ihr. Der Mann folgte.
Hier war ich glücklich... Wieder und wieder wiederholte er den Gedanken und versuchte, den Ursprung dieses Glücks zu greifen. An den Zweigen zerschnitt er sich die Hände, bis sie bluteten.
Die Frau blieb stehen, drehte sich um, sah ihm direkt in die Augen. Und in diesen Augen...
Er schrie auf. Ihre Gesicht verschwand in dem gleißenden Blitzstrahl der Erinnerung.
"Oh mein Gott", flüsterte er. "Bitte nicht."
"Doch."
Die Stimme der Frau war schneidend. Er sah sie an und sah, dass ihre Narbe aufgebrochen war. Ein dünnes Rinnsal sickerte über ihr Gesicht. Sie hielt ihm die Tote auf ausgestreckten Armen entgegen. Er sank vor den beiden Frauen, der lebenden und der toten, auf die Knie. Seine Fingerspitzen tasteten über das kalte baumelnde Gesicht der Elfe.
"Du", flüsterte er mit starren Lippen. "Meine Elfenliebe. Mein Liebestraum."
"Sie hat dein Herz gebrochen", sagte die Frau müde.
Er nickte. Er nahm ihr die Leiche aus den Armen und ließ sie auf den Boden gleiten. "Sie hatte kein Herz. Sie war nur Lachen und Spiel."
"Aber du hattest eins. Du hattest! Du hast es verstoßen."
Ihr Schmerz zerrte an der leeren Stelle in seiner Brust, aber seine Finger glitten weiter über das tote kleine Gesicht.
"Hier hast du mich das erste Mal geküsst. Ich war jung. Du warst wie Abendgold und das Flüstern des Waldes. Du hast mich verlassen. Aber deswegen habe ich dich doch nicht getötet. Ich wollte nur die Diamanten. Ich hatte dich vergessen... wollen... Aber jetzt erinnere ich mich!"
Er hob den Blick, aber seine verzweifelte Frage erstarrte in Grauen. Die Frau war auf die Knie gesunken. Blut strömte aus der Narbe über ihr Gesicht. In dem Fließen zuckte müde der waagerechte Schnitt ihres Lächelns. "Du hast sie nicht getötet", flüsterte sie. "Du hättest sie nie gefunden. Verstehst du denn nicht: man braucht ein Herz, um sich zu erinnern." Sie lachte und hustete dann.
Er konnte sie nur anstarren. Er verstand nicht, aber der Schmerz in seiner kalten Brust raubte ihm den Atem.
"Ich dachte, ich wollte Rache." Ihre Stimme versickerte mit dem fließenden Blut. Sie streckte eine zitternde Hand nach dem Mann aus. "Ich habe mich geirrt. Ich wollte nur heim. Ich wollte zu dir zurück."
"Wer bist du?" schrie er auf.
Sie fiel vornüber, aber ihre Hand blieb ausgestreckt in einer Geste des Flehens und der Einsamkeit.
"Ich bin, was sie übriggelassen hat. Ich bin das Herz, das sie gebrochen hat. Dein Herz."

(c) Birgit Erwin

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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