Der himmelblaue Schmengeling
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Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Mai 2002
Thana
von Dirk-Uwe Becker


Thana strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie liebte diese sommerlichen Spaziergänge im verwilderten Park im Herzen der Stadt. Unter dem Schattenwurf der uralten Kastanien und Eichen wandelte Thana gern. Es gab ihr ein Gefühl der Ruhe und des Friedens. Ein Frieden mit sich selbst, den sie außerhalb des Parks immer wieder aufs neue verteidigen musste. Hier aber war er allgegenwärtig. Egal, ob die Sonne schien oder der Regen durch den Blätterbaldachin tröpfelte. Ein allein stehender Ahorn auf einer der vielen Rasenflächen war ihr Lieblingsbaum. Sie setzte sich darunter, um zu träumen, im Halbschlaf Ruhe zu suchen vor dem Alltag, der sich draußen an den Feldsteinmauern des Parks brach. Sie sah im Spätsommer den kleinen Propellern zu, die sich von den Zweigen des Baums lösten und quirlig auf den Erdboden zusteuerten. Wie wäre es, dachte Thana, wenn ich so ein Samenflieger wäre? Ich würde mir einen schönen sonnigen Tag aussuchen, meine letzten Haltefäden vom Mutterstamm lösen und mich der Kraft des Windes und der Erdanziehung überlassen. Fliegen. Einfach nur fliegen und frei sein. Landen, wohin der Wind mich trägt. Wurzeln schlagen, wo ich fruchtbaren Boden und Nahrung finde. Sie lag, lang hingestreckt, unter dem vom Wurzelwerk gewölbten Erdreich, spürte das Moos unter sich und sah das Blau des Himmels zwischen den Blättern schimmern. Oder ein Vogel, kam es Thana in den Sinn. Ein Vogel zu sein, wäre auch nicht schlecht.

Ein Kitzeln an ihren nackten Beinen weckte sie. Ich muss wohl kurz eingenickt sein, dachte Thana und richtete sich auf. Eine zottelige, magere Katze hatte sich zwischen ihren Beine hingestreckt und sah sie an. „Wo kommst du denn her, Süße?“, fragte Thana und erhielt ein Schnurren zur Antwort. In den Parks und auf den Strassen hatte Thana schon öfter herrenlose Tiere, Hunde wie Katzen, herum streunen sehen. Aber nie waren sie nahe an Menschen heran gekommen. Thana streckte die Hand nach dem Tier aus, das den Kopf streckte und mit seiner rauen Zunge daran schleckte. „Bist du hungrig?“, fragte Thana und erhielt erneut ein Miauen als Antwort. Sie erhob sich, klopfte den Dreck von ihrem Hosenboden und nahm die Katze auf den Arm. Diese ließ es willig mit sich geschehen und schmiegte sich eng an Thanas Busen. Mit ihrer neuen Freundin im Arm verließ Thana den Park und eilte geradewegs nach Hause.

Thanas Wohnung lag im vierten Stock eines alten Mietshauses. Knarrende Treppen, Wasserleitungen aus Blei, die nicht dicht waren, gusseiserne Badewannen und Kohleöfen. Thana störte es nicht, denn die Miete war günstig für diese Wohnlage. In der Küche stellte sie der Katze ein Schälchen mit Milch hin. Zuerst vorsichtig schnuppernd, machte sich die Katze dann gierig darüber her. Im Kühlschrank fand Thana noch etwas Käse und ein paar Scheiben Wurst. Die Wurst ließ die Katze unbeachtet, aber beim Käse wedelte ihr steif aufgerichteter Schwanz aufgeregt hin und her. „Du musst ganz schön lange nichts mehr zu essen bekommen haben, so wie du aussiehst“, murmelte Thana mehr zu sich selbst als zur Katze. Diese schlang den Käse gierig hinunter. „Das war alles“, meinte Thana dann zu dem Tier, als es den letzten Bissen verschlungen hatte und sie erwartungsvoll ansah. „Wenn du mehr haben willst, muss ich erst einkaufen gehen.“ Sie nahm die Katze auf den Schoß und strich ihr über das Fell. Auf ihrer Haut konnte Thana einige Blessuren spüren. Ob nun von schlechter Behandlung oder durch Kämpfe mit anderen Tieren, das war jetzt egal. Hier bei ihr sollte sie es gut haben. Mit dem Essen war ein Anfang getan. Das Fell würde später bestimmt wieder glatt und seidig werden, die Schrammen würden auch verheilen. „Komm“, sagte Thana zu ihr. „Ich habe zwar nur ein Bett, aber das können wir uns teilen.“ In ihrem Leben gab es schon längere Zeit keinen Mann mehr. Sie setzte sich aufs Bett und nahm die Katze zu sich auf den Schoß. „Weißt du“, begann Thana, „dass ich mir schon als kleines Kind eine Katze gewünscht habe? Meine Eltern waren dagegen. Mit zwanzig Jahren verliebte ich mich in einen jungen Mann mit einem Bullterrier. Erst viel später bekam ich mit, dass er den Hund auf die Jagd nach Katzen abgerichtet hatte. Ich fand eines Morgens den Hund in der Küche, wie er eine junge Katze mit zerbissenem Rückgrat im Maul hielt. Mein Freund stand vor ihm und hatte ihn gelobt. Da bin ich ausgezogen.“ Mit einem Seufzen ließ sich Thana in die Kissen zurücksinken. „Meine nächste Bekanntschaft verlief genauso katastrophal. Er war nicht besonders schön, fuhr aber einen tollen Sportflitzer. Ich habe ihn dann nach sechs Wochen mit einer anderen in unserem gemeinsamen Bett überrascht und musste feststellen, dass ich in der Zeit unserer Beziehung nicht seine einzige Damenbekanntschaft war. Ich habe meine Sachen gepackt und bin in eine andere Stadt, in diese hier, gezogen. Und ich habe mir geschworen, mein Herz nicht mehr an Männer zu verlieren. Es ist jetzt frei für Dich, Kätzchen. Wir beide, wir haben uns gefunden und bleiben zusammen. Wollen wir uns das versprechen?“ Die Katze antwortete mit einem Schnurren, streckte sich und rollte sich dann neben Thana zum Schlafen ein. „Das ist gut so“, sprach Thana leise und schloß ebenfalls die Augen. „Du wirst mich nicht enttäuschen. Auf die Liebe von Tieren kann man sich verlassen.“

Ein zärtliches Schnurren ließ Thana die Augen aufschlagen. Auf ihrer Brust saß die Katze und leckte sich gerade die Pfoten. „Hallo Katze“, sagte Thana, als ihr plötzlich einfiel, dass sie dem Tier ja auch einen Namen geben müsste. Nur ‚Katze’ wäre auf die Dauer zu langweilig. Schließlich sagt man zu seinem menschlichen Lebenspartner auch nicht einfach nur ‚Mensch’. Einen Namen für eine Katze. Nicht dies gewöhnliche ‚Minka’ oder ‚Muschi’ – es sollte schon etwas Besonderes sein, der Situation ihrer beider Zusammentreffen angemessen. Nach längerem Überlegen fiel ihr Blick auf einen großformatigen Druck an ihrer Schlafzimmerwand. Es zeigte ein leicht bekleidetes, hockendes Mädchen, dem eine Katze zu Füssen lag. Das Bild war von ihrem Lieblingsmaler, Ives Thos, einem Franzosen. Nun hatte sie auch einen Namen für ihr Findelkind: ‚Thos’. „Hallo Thos“, sagte Thana zärtlich zur Katze, die ihre Ohren spitzte und sie erwartungsvoll ansah. „Komm Thos“, fuhr Thana fort, „ich hole uns beiden etwas Schönes zum Frühstück, während du die Wohnung bewachst.“ Sie wollte ihre neue Lebensgefährtin noch nicht mit auf die Strasse nehmen. Erstens, weil es so gefährlich war, der Fahrzeuge wegen und zweitens, weil sie sich nicht ganz sicher war, dass Thos bei ihr bleiben und nicht vielleicht doch unterwegs das Weite suchen würde. Sie zog sich schnell an, bürstete kurz durch ihr kurzes wuscheliges Haar und eilte die Treppen hinunter zur Ecke der Gasse, wo es einen kleinen Tante-Emma-Laden gab. Brötchen und Wurst für sie, ein großes Stück Käse und frische Milch für Thos. Auch wenn ungewiss war, was der Tag bringen würde, das Frühstück sollte in entspannter, gemütlich-ruhiger Atmosphäre stattfinden. Fröhlich pfeifend betrat sie den Laden.

Voll bepackt stieg Thana die Treppe hoch. Von weitem hörte sie schon ein klägliches Miauen. Ob sie sich nie an das Alleinsein in der Wohnung gewöhnen wird, dachte Thana besorgt. Eine Woche ging es jetzt schon so. Nachdem sie morgens Thos versorgt hatte, ging Thana zur Arbeit. Zum Glück hatte sie eine Halbtagsstelle, so dass sie um die Mittagszeit wieder zurück war. Auf dem Heimweg kaufte sie meistens für Thos noch irgendein Leckerli im Tante-Emma-Laden ein. Die Einkaufstüte unter die Achsel geklemmt schaffte Thana es gerade noch, die Wohnungstür aufzuschließen, sich hindurchzuquetschen und die Tür mit dem Fuß wieder zuzustoßen, ohne dass ihr die Katze in den Hausflur entwischte. Thos hockte im Flur und sah sie vorwurfsvoll an. Ihr Schwanz zitterte. „He Thos“, sagte sie lächelnd zu ihr und ging in die Hocke. „ Ich bin doch wieder da. Sieh mal, ich habe dir auch etwas leckeres mitgebracht.“ Sie wickelte das Leckerli aus und hielt es der Katze hin. Thos schnupperte daran, dann wippte ihr Schwanz freudig hin und her und sie begleitete Thana in die Küche. Nachdem der letzte Happen verspeist war, blieb Thos vor dem leeren Teller sitzen. „Tut mir leid, Thos, mehr gibt es heute nicht.“ Thana erhob sich und ging zum Fenster. Sie blickte auf die Strasse hinab. Alles ruhig. Um die Mittagszeit war wenig Verkehr in dieser Strasse. Auch einer der Vorteile, weswegen sie diese Wohnung gewählt hatte. So konnte sie sich Mittags immer ein Stündchen ausruhen. Vielleicht sollte ich es doch wagen, dachte sie. Ich kann Thos nicht die ganze Zeit über eingesperrt in der Wohnung halten. Katzen sind Wildtiere und brauchen die Natur, wie wir Menschen auch. „Auf, Thos, heute gehen wir in den Park. Ich zeige dir meine schönsten Meditationsplätze und die besten Kratzbäume der ganzen Stadt.“ Thos maunzte kurz, drehte sich um und lief zur Tür. Dort blieb sie Schwanz wippend stehen. Thana schlang sich den Schal um ihren Hals und öffnete die Tür. Thos eilte behände die Treppe hinunter, an jedem Absatz stehen bleibend und zu Thana hinauf blickend, ob sie ihr auch folge. „Ist schon gut, Thos,“ sagte Thana. „Ich bin nicht ganz so schnell wie du. Aber es ist nett, dass du auf mich wartest.“ Von ihrer Wohnung aus waren es etwa fünfzehn Minuten bis zum Park. Nur einmal mussten sie die Strasse überqueren, und zwar die vor ihrem Haus. Danach ging es auf Gehwegen direkt in die kleine Grünanlage. Thos rannte mit hoch aufgerichtetem Schwanz immer ein paar Schritte vorne weg.

Der Park war fast menschenleer. Zur Mittagszeit waren die Leute in ihren Wohnungen und mit dem Essen beschäftigt oder machten ein Nickerchen. Thana öffnete das schmiedeeiserne Tor. Thos zwängte sich geschwind hindurch. „He, du Wildfang, hier entlang.“ Thana beschritt den rechts abzweigenden Rundweg, der sie direkt zu ihrem Lieblingsplatz führen würde. Nach hundert Metern hatte sie ihr Ziel erreicht. Thos blieb hinter ihr und schnupperte an Sträuchern, Gräsern und Blumen. Thana zog ihre Sandaletten aus und schritt barfuss über den mit Morgentau bedeckten Rasen zu ihrem Lieblingsbaum. Sie liebte es, mit den Füssen über das moosweiche Gras zu schreiten, die Zehen einsinken zu lassen und so ein inniges Gefühl mit der Natur und der Erde herzustellen. Thos fand den feuchten Rasen weniger prickelnd. Sie hob ab und zu eine Pfote und schüttelte sie. Dann hatte sie sich aber wohl in ihr Schicksal ergeben und flitzte über das Gras. Thana hatte unter dem Baum eine Decke ausgebreitet und sich darauf niedergelegt. Thos hingegen fand den alten Baum interessanter, in dessen Zweigen Vögel zirpten. Sie blickte abwägend hinauf und wetzte an der schrumpeligen Rinde erst einmal ihre Krallen. Der Versuch, hinauf zu klettern und sich dem noch fröhlich zirpenden Mahl zu nähern misslang allerdings. Sie rutschte auf halber Höhe immer wieder herunter. „Mach dir nichts daraus, Thos“, meinte Thana zu ihr, als die Katze es sich neben ihr auf der Decke bequem gemacht hatte. „Zu Hause habe ich noch ein großes Stück Käse als Mittagessen für dich.“ Thos miaute kurz, streckte ihre Beine und rollte sich dann zusammen. Thana strich ihr über das Fell, behutsam, um sie nicht zu stören. „Es ist schön, dass wir beide uns gefunden haben, nicht wahr, Thos?“, murmelte Thana und schloss die Augen. Sie träumte davon, wie Thos und sie in einem großen Haus wohnen würden, mit einem verwilderten Garten zum Spielen und Toben. Nur sie beide, Thana und Thos, fern ab von missliebigen Menschen und unechten Gefühlen. Sie sah in ihrem Traum Thos heranwachsen und zu einer stattlichen Katze werden, die majestätisch durch ihren eigenen kleinen Park schritt und Thana die Ergebnisse ihrer Beutezüge jeden Morgen und jeden Abend als Geschenk ihrer Liebe darbrachte.

Stimmen weckten Thana. Sie schlug die Augen auf und sah auf dem Kiesweg eine Mutter mit ihrer Tochter näher kommen. „Sieh mal, Mami, was für eine schöne Katze. Ob ich die mal streicheln darf?“ Mit diesen Worten war das Mädchen auf die Wiese gelaufen und hatte sich Thos genähert, die gerade mit Fliegen und Schmetterlingen Fangen spielte. „Aber vorsichtig, Kind“, rief ihr die Mutter hinterher. „Vielleicht ist die Katze böse und kratzt dich.“ Doch das Mädchen hatte Thos schon ihre Hand hingestreckt und Thos schnupperte daran, dann strich sie mit ihrem Kopf daran entlang und schnurrte um die nackten Beine des Kindes. „Oh Mami, ist die süß. Ich will auch so eine Katze haben.“ Das Mädchen nahm Thos in den Arm und stand auf. Thos ließ das alles willig mit sich geschehen – ja, es sah sogar so aus, als genieße sie es. „Sieh doch Mami, die ist ganz zahm und will bestimmt mit mir mitkommen.“ Thos eng umschlungen haltend, lief das Kind zurück zu seiner Mutter. „Aber wenn das Tier nicht sauber ist oder unsere Wohnung auf den Kopf stellt, dann bringst du es ins Tierheim.“ Das Mädchen strahlte. „Die ist bestimmt ganz lieb, Mami. Sie nur, wie sie meinen Arm abschleckt.“ Mit der Katze in ihren Armen hüpfte das Mädchen freudig strahlend auf dem Weg weiter, ihrer Mutter hinterher und juchzte. Thos’ Schwanz hing über den Arm des Kindes und wedelte eifrig hin und her, so als freue sich die Katze ebenfalls.

Thana wusste zuerst nicht, wie ihr geschah. War dies jetzt ein Traum oder Wirklichkeit? Sie kniff sich in den Arm. Es schmerzte. Also doch kein Traum. Wieso hatte sich ‚ihre’ Katze einfach von den fremden Menschen mitnehmen lassen? Sie, Thana, hatte doch für sie gesorgt und ihr ein behütetes Zuhause gegeben. Seit einer Woche lebten sie zusammen, hatten sich tagtäglich beim Streicheln gegenseitig ihrer Liebe vergewissert. Wieso konnte Thos jetzt so undankbar zu ihr sein? Hatte Thana etwas falsch gemacht? Sie überlegte krampfhaft, aber ihr fiel nichts ein, womit sie Thos hätte verärgert haben können. Nein, Thos hatte sich einfach aus einer Laune heraus dem fremden Mädchen hingegeben, hatte ihre, Thanas Liebe, verraten und eine neue Lebenspartnerin angenommen. Thana war nicht mehr wichtig. Sie war nie wichtig gewesen. Weder bei ihren Männerbekanntschaften, noch anscheinend bei Tieren, wie ihr das Beispiel mit Thos bewies. Ärger machte sich langsam in Thana breit. Womit hatte sie das verdient? Diese Treulosigkeit und dieser Verrat, der von allen an ihr immer wieder verübt wurde? Aufgebracht biss sich Thana auf die Unterlippe, dass sie den Blutgeschmack in ihrem Mund spürte. Sie gab ihre Zuneigung und ihre Liebe, grenzenlos, und erntete dafür nur Spott und Undank. Die Welt ist schlecht zu mir, dachte Thana und kochte über vor Zorn. Durch ihre gesteigerte Wut zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, warf sie ihre Sandalette nach einer Taube, die sich ein paar Meter von ihr entfernt niedergelassen hatte und auf dem Rasen nach Brotkrumen suchte. Der Wurf traf die Taube völlig überraschend am Kopf und warf sie um. Thana starrte sie teilnahmslos an. Die Taube rappelte sich nach einer Weile wieder auf und flog gurrend davon. Thana sah ihr noch eine ganze Weile hinterher. Warum tun Tiere so etwas, fragte sie sich verzweifelt. Dass Menschen zu Verrat fähig sind, nicht nur ausnahmsweise, hatte ihr Leben gezeigt. Mit einer Traurigkeit, die sie wie ein Leichentuch umhüllte, ging Thana zu ihrer Sandalette, an der noch Taubenfedern hingen. Plötzlich hasste sie es, barfuss auf dem Gras zu stehen. Dieses Kitzeln unter den Füssen, das sie früher als so angenehm und erregend empfunden hatte, rief Ekelgefühle in ihr hervor. Sie zog die Sandaletten an und ging noch einmal zu dem Baum zurück. „Für dich, Thos“, sagte sie und entnahm ihrer Tasche fünf Leckerli-Stangen, die sie in Kreuzform zwischen zwei großen Wurzeln arrangierte. „Von jemandem, von dem ich es am wenigsten erwartet hätte, wurde mir das Herz gebrochen. Du hast unsere Liebe getötet, Thos. Falls du jemals wieder an diesen Ort zurückkehren solltest, dorthin, wo wir uns getroffen und auch wieder verloren haben, soll dich dieses Zeichen an deinen Verrat erinnern.“ Sie blickte auf die noch frischen Kratzspuren an der Baumrinde. „Diese Narben werden heilen und der Baum wird es verschmerzen. Deine Kratzspuren in meiner gerade wieder mit einer dünnen Rinde bezogenen Seele sind zu tief gewesen, Thos. Meine Rinde wird niemals mehr fähig sein, ein eingeritztes Herz zu tragen.“ Thana lehnten ihren Kopf kurz an den Baum, atmete tief durch und gab sich einen Ruck. Sie wollte nur noch eines - weg von hier, nach Hause. In ihre behütete und geschützte kleine Welt. Die Käseecke in ihrem Kühlschrank würde sie wegwerfen. Es gab niemanden mehr, der danach verlangen würde.

Dirk Becker, 2002


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