Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Juni 2002
Die Kette
von Andreas Schröter


Was waren wir glücklich in diesem magischen Jahr 1994!
Es gelang uns einfach alles.
Wir hatten so viel zu feiern wie andere nicht in zehn Jahren. Zuerst bestanden wir beide im selben Monat unser BWL-Studium – summa cum laude – , dann bekamen Heike und ich zwei Monate später auch noch wahre Traumjobs. Ich in der Marketing-Abteilung von BMW, sie bei Siemens in der Verwaltung. Unglaublich, aber wahr! Es gab diese wunderbaren vier Monate von Mai bis August, in denen unsere Konten sich stetig füllten und wir endlich spürten, was Leben heißt – nicht mehr jeden Pfennig umdrehen müssen. Wir fuhren übers Wochenende nach Paris, sahen zum ersten Mal das Fünf-Sterne-Restaurant in unserer Stadt von innen und erstanden reihenweise schicke Kostüme für Heike und teure Anzüge für mich.

Im September dann kauften wir das Haus.
Wir hatten eigentlich nicht vor, so schnell nach dem Studium ein Haus zu kaufen. Wir wollten nur raus aus unserer Studenten-Zwei-Zimmer-Bude: etwas Nettes zur Miete, bestenfalls eine günstige Eigentumswohnung.
Aber Heike sagte eines Morgens am Küchentisch, während sie die Zeitung studierte: „Schau mal hier. Hier gibt’s ein Haus, das kostest 250.000 Mark. Freistehend mit großem Garten, alter Baumbestand, 7 Zimmer, 200 Quadratmeter Wohnfläche. Baujahr 1899.“
Ich prustete fast meinen Kaffee über den Tisch: „1899? Da wirst Du die Bude mit ziemlicher Sicherheit abreißen müssen, und darfst dir dann für eine Million was Neues hinsetzen.“
„Aber alter Baumbestand ... Hab ich dir noch nie erzählt, dass ich immer schon davon geträumt habe, in meinem eigenen Garten unter alten Bäumen zu sitzen?“
Ich sah sie skeptisch an.
„Mit dir“, fügte sie hinzu und lächelte schelmisch.
Ich liebte sie für dieses Lächeln und hätte es immerzu küssen mögen.
Doch sie schien nur diese Anzeige im Kopf zu haben und sagte: „Soll ich mal anrufen? Was soll’s? Ein Anruf kostet uns nur 30 Pfennig.“
Ich war mir erstens ziemlich sicher, dass ich ums Verrecken in kein Haus ziehen würde, das aus dem Jahre 1899 stammte, schließlich hatte ich rein handwerklich gesehen zwei linke Hände. Zweitens war ich mir ebenfalls ziemlich sicher, dass das Haus schon längst weg war, wenn es wirklich so billig war. Deswegen sagte ich leichtsinnigerweise: „Ruf an!“

Schon am nächsten Morgen hatten wir den Besichtigungstermin.
Der Besitzer – der Verkauf lief nicht über einen Makler – war ein nervös wirkender Mittfünfziger in verschlissener Cordhose und einem Baumwollhemd, das schon bessere Tage erlebt hatte. Komisch, ich hatte mir die Verkäufer solcher Häuser irgendwie anders vorgestellt. Gepflegter. Seriöser. Aber das war natürlich ein dummes Vorurteil. Im Grunde ärgerte ich mich selbst über solche Gedanken.
Das Haus war – ein Traum. 3,50 Meter hohe Decken, teilweise mit Stuckverzierungen, Jugendstil-Zeichnungen an den Wänden, sehr gepflegter Parkettfußboden, der aussah wie gerade abgeschliffen. Die Wände wirkten robust und trocken. Wo war der Haken?
Ich beschloss, es mit Ehrlichkeit zu versuchen: „Sagen Sie, das ist ein wirklich schönes Haus, für das man normalerweise mehr zahlen müsste ...“
„Oh, es ist Ihnen zu billig.“ Der Besitzer lachte beinahe hysterisch auf, „wir können gerne mehr nehmen. Es ist die – ähh – Lage, die nicht jedermann zusagt ...“
Die Lage war eins a. Nicht weit von der Stadt entfernt und doch ruhig gelegen. Heike und ich wechselten einen Blick, mit dem wir uns darüber verständigten, dass wir es hier offenbar mit einem weltfremden Sonderling zu tun hatten, der einfach keine Ahnung von den marktüblichen Preisen für solche Häuser hatte. Außerdem waren wir uns darüber einig, dass wir vermutlich in unserem ganzen Leben nicht mehr eine solche Chance bekommen würden.“ Im Grunde waren wir uns schon vor der noch anstehenden Gartenbesichtung einig, dass wir uns diese Gelegenheit keinesfalls entgehen lassen würden.
Der Garten übertraf all unsere Erwartungen. Es gab eine riesige Rasenfläche und mindestens sechs große und alte Kastanienbäume. Okay, das alles wirkte etwas ungepflegt. Aber auch das traf genau unseren Geschmack. Wir würden die Blätter im Herbst liegen lassen und den Rasen nur selten stutzen. Wir liebten die Natur und wollten ihr keinesfalls ins Handwerk pfuschen.
„Was ist das für ein Schuppen dort? Für Gartengeräte?“
„Ohh – nein, nein, das ist gar nichts.“ Der Besitzer wirkte jetzt noch eine Spur nervöser als zuvor. „Nur ein alter Brunnen.“
„Ein Brunnen“, rief ich begeistert aus und schritt bereits darauf zu. Doch der Verkäufer hielt mich am Ärmel fest, ließ mich aber sogleich – offenbar erschrocken über sich selbst – wieder los.
„Entschuldigen Sie – ich – wir. Es ist so, dass die Zeit ... Ich müsste dringend ...“
„Hören Sie mal“, begann ich mich zu ereifern, „Sie wollen hier doch ein Haus verkaufen, da werden Sie uns doch wenigstens genügend Zeit zugestehen, dass wir uns alles in Ruhe ...“
Doch jetzt zupfte mich Heike am Ärmel: „Stefan, bitte ...“
Ich gab auf. Wir beendeten den Besichtigungstermin und riefen nach einer schlaflosen Nacht bereits einen Tag später den Besitzer an, um ihm mitzuteilen, dass wir das Haus gerne kaufen würden. Am Abend tranken wir Champagner in unserer Zwei-Zimmer-Bude. Danach gingen wir zwar ins Bett, aber an schlafen war noch lange nicht zu denken.

In den folgenden Tagen ging alles sehr schnell. Wir erhielten bei der Bank einen Kredit mit günstigen Zinskonditionen, saßen schon drei Tage später beim Notar und kündigten unsere alte Wohnung.
Eine Woche vor dem Einzugstermin kam Heike aufgeregt von der Arbeit: „Du Stefan, stell dir vor, eine Kollegin ist krank geworden. Ich kann, wenn ich will, für sie vier Wochen ein Praktikum in unserer New Yorker Filiale machen. Aber ich muss schon übermorgen fliegen. Irre, was?“ Ich würde also den Umzug allein bewerkstelligen müssen und auch die erste Zeit allein in unserer Villa leben müssen. Egal, das war eine Riesen-Chance für Heike.
Der Umzug ging auch ohne sie problemlos über die Bühne. Ein paar von meinen Freunden halfen mir, und da Heike und ich nicht viel besaßen, war die Sache am frühen Nachmittag über der Bühne. Bereits um viertel vor vier schloss ich das große schmiedeeiserne Tor hinter dem letzten Umzugshelfer. Ich war zum ersten Mal allein in meinem neuen Heim. Schade, dass Heike nicht hier war. Wie gerne hätte ich sie jetzt umarmt. Vielleicht hätte ich sie sogar – ganz stilecht – auf den Arm genommen und über die Schwelle ins Haus getragen. Heike mochte solche Gesten. Und ich im Grunde auch.
Allein gab es für mich keinen Anlass, mit großer Geste über die Schwelle des Hauses zu schreiten. Ich wandte mich statt dessen dem Garten zu. Noch immer hatte ich keinen genaueren Blick auf den Brunnen werfen können.

Das alt, aber stabil wirkende Törchen zum Brunnen war mit einem Schloss gesichert. Ich zog meinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und prüfte die Schlüssel durch. Es passte schließlich der rostigste von ihnen. Ich musste ihn mehrmals hin- und herbewegen, bevor das Schloss sich öffnen ließ. Offenbar hatte seit Jahren niemand mehr diese Tür geöffnet. Ein Kribbeln breitete sich auf meinem Rücken aus. Was würde mich hinter der Tür erwarten? Wahrscheinlich befand sich längst kein Wasser mehr in dem Brunnen.
Ich hatte große Mühe, die Tür aufzuziehen. Die Scharniere waren komplett eingerostet. Ich würde sie in den nächsten Tagen entrosten und einfetten müssen. Fast wirkte es auf mich so, als wehre sich die Tür, geöffnet zu werden. Aber schließlich bekam ich sie doch offen. Von drinnen schlug mir sofort kalte, abgestandene Luft entgegen, so dass ich unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Von außen war nicht zu erkennen, wie es im Inneren des Brunnenhäuschens aussah. Ich blickte in eine undurchdringliche Schwärze. Auch als ich wieder näher herantrat und meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, besserten sich die Lichtverhältnisse nicht wesentlich. Ich erkannte jedoch immerhin, dass der Brunnenschacht unmittelbar hinter dem kleinen Törchen begann und dass das Wasser bis oben zum Rand stand. War das nicht ungewöhnlich? Das Wasser in einem Brunnen konnte doch nur so hoch stehen wie das Grundwasser, oder? Das Wasser dieses Brunnens jedoch stand vielleicht zwei Zentimeter tiefer als die Grasnabe.
Das Wasser bot – zumindest soweit ich es erkennen konnte – eine vollkommen schwarze, spiegelglatte Fläche. Ich steckte einen Finger hinein. Es war überraschend kalt. Fast kam es mir vor, als liege die Temperatur nahe dem Gefrierpunkt. Aber das konnte nicht sein am Ende des Sommers. Ich musste mich täuschen. Von dem Punkt, wo ich meinen Finger in das Wasser gesteckt hatte, bewegten sich nun kleinen Wellen in die Finsternis hinein und zerstörten den Eindruck der spiegelglatten Fläche.
Mir fiel nun eine mit einer Handkurbel betriebene Winde auf, von der eine stabile Eisenkette in das Wasser hinab führte. Genau auf der Mitte zweier Kettenglieder befand sich der Wasserspiegel. Es war eine große Winde, auf der sich meterweise Kette aufwickeln ließ. Doch nun war die Kette vollständig abgerollt. Kein Teil von ihr wand sich um den Zylinder. Ich umfasste den Griff, um die Winde probeweise zu drehen. Doch so sehr ich mich dagegenstemmte – sie gab keinen Millimeter nach. Dieses Gerät aus längst vergangenen Zeiten war entweder vollständig eingerostet oder sonst irgendwie verhakt. Ich beschloss, mich später darum zu kümmern. In ein paar Wochen vielleicht, wenn wir uns eingelebt hätten. Im Moment gab es Wichtigeres zu tun.
Ich wurde ohnehin in diesem Moment von einem Klappern am Eingangstor zum Grundstück abgelenkt. „Hallo“, rief jemand.
Ich ging zum Tor. Es war ein Kurierbote.
„Wohnen Sie hier?“, fragte er.
„Ja, seit heute.“
„Ohh ...“ Er kaute verlegen an seiner Unterlippe.
„Haben Sie etwas für mich?“
„Ahh – ja, ja“ – der Mann schien vergessen zu haben, weswegen er überhaupt gekommen war – „ein Paket. Bitte unterzeichnen Sie hier.“
Ich tat es. „Wieso sind Sie überrascht, dass ich hier wohne?“
„Nun, weil, weil ...“ der Mann wirkte verlegen „weil hier seit Jahren keiner mehr gewohnt hat.“ Er schloss nun mit einer schnellen Handbewegung die Satteltasche seines Fahrrades und schwang sich auf den Sattel. „Zumindest nicht lange“.
„Was heißt das?“
„Kennen Sie denn nicht die Geschichten – ähh, entschuldigen Sie. Ich muss weiter!“
„Welche Geschichten? Warten Sie!“ Doch der Fahrradkurier trat mit kräftigen Bewegungen in die Pedalen und verschwand hinter der nächsten Biegung.
Als ich mich umdrehte, wirkte das Haus plötzlich anders auf mich als zuvor. Bedrohlicher. Irgendwie angsteinflößend. ,Blanker Unsinn’, dachte ich, ,du wirst doch jetzt nicht anfangen, dir irgendwelchen Unsinn erzählen zu lassen. Von irgendeinem Lümmel, der dich ein bisschen hochnehmen wollte ...’ Ich schloss das Tor und stapfte ins Haus. Dort öffnete ich das Paket, das der Bote gebracht hatte: Es war eine getrocknete Rose mit einem kleinen Zettel daran: „Für den besten Mann der Welt. Deine Heike.“ Ich lächelte unwillkürlich. Das Leben war so schön, und ich ließ mich von irgendwelchen Sprüchen ins Bockshorn jagen.

An diesem ersten Tag in meinem – nein in unserem – neuen Heim ging ich früh zu Bett. Der Umzug hatte mich offenbar mehr geschafft, als ein normaler Arbeitstag im Büro. Ich glaube, ich lag keine fünf Minuten im Bett, da war ich schon eingeschlafen. Es war ein traumloser und tiefer Schlaf, der einfach von der ungewohnten körperlichen Anstrengung rührte. Ich hatte weder Zeit, das Gefühl zu genießen, endlich in den eigenen vier Wänden zu nächtigen, noch mich darüber zu ärgern, dass Heike in diesem Moment nicht bei mir war.
Es muss gegen 2 Uhr gewesen sein, als ich plötzlich aus dem Tiefschlag erwachte und die Augen abrupt aufriss. Etwas hatte mich geweckt. Oder hatte ich nur einen Traum gehabt? Ich lauschte in die Dunkelheit. Nichts. Alles still. Also doch nur ein Traum!
Doch bevor ich wieder einschlafen konnte, hörte ich plötzlich tatsächlich etwas. Ganz leise. Es kam von draußen und hörte sich an wie ein Knirschen. Ein Tier vielleicht? Oder etwa ein Einbrecher? Es war ein unangenehmes Geräusch – wie wenn Metall auf Holz schabt. Ich stand auf und trat ans Fenster. Draußen war kaum etwas zu erkennen – aber als ich das Fenster vorsichtig öffnete, um ja keinen Laut zu verursachen, hörte ich das seltsame Geräusch deutlicher. Und jetzt konnte ich auch seine Herkunft genauer zuordnen.
Das knirschende Geräusch kam ganz eindeutig aus dem Brunnen.
Ich konnte mir zunächst keinen Reim darauf machen. In dem Brunnen gab es nur Wasser und eine festgerostete Winde. Dort gab es nichts, was ein solches Geräusch hätte verursachen können.
Vielleicht doch ein Tier ...? Ich hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als ich mir fast mit der Hand vor die Stirn schlug. Mein Gott, natürlich, ich hatte bei meiner Brunnen-Besichtigung heute Nachmittag vergessen, das Törchen zu schließen. Irgendein Tier musste hineingelaufen und ins Wasser gefallen sein. Und jetzt kämpfte es gegen den Tod. Das Geräusch waren bestimmt die kleinen Füßchen, die verzweifelt versuchten, an dem Brunnenrand Halt zu finden. Mein Gott. Der einzige Sinn des verschlossenen Brunnentores lag genau darin, Tiere vor diesem Schicksal zu bewahren. Und ich Idiot missachtete das.
Blitzschnell warf ich mir den Bademantel über und griff nach der Taschenlampe, die ich neben dem Bett deponiert hatte, weil ich noch nicht dazu gekommen war, genügend Glühbirnen für alle Zimmer zu kaufen.
Ich hastete die Treppe hinunter und war im Nu mit meinen nackten Füßen auf dem Rasen vor dem Brunnen. Die Geräusche hatten jetzt aufgehört. Kam ich zu spät? Ich riss das Brunnentörchen ganz auf und leuchtete hinein. Auf der tiefschwarzen Wasserfläche bewegten sich kleine Wellen, die exakt dort ihren Ausgangspunkt zu haben schienen, wo ich am Nachmittag zuvor meinen Finger in das Wasser gesteckt hatte. Seltsam. Von einem Tier gab es keine Spur. War es schon untergegangen? Ich hielt meine Taschenlampe dicht über das Wasser, aber obwohl der Strahl ziemlich hell war, vermochte er nicht, auch nur wenige Zentimeter unter die Wasseroberfläche vorzudringen. Es war so, als würde die Schwärze das Licht geradezu aufsaugen. Ich drehte die Lampe und leuchtete das Innere des Brunnenhäuschens ab. Als das Lichbündel auf die Winde fiel, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Mehrere Lagen Kette hatten sich um den Zylinder gewickelt. Aber das war doch ... Wie schon am Nachmittag fasste ich nach dem Windengriff und versuchte ihn zu bewegen. Nichts. Die Anlage rührte sich keinen Millimeter. Ich fuhr mit dem Lichtstrahl die Kette ab, bis sie im Wasser versank, konnte aber nichts Außergewöhnliches erkennen, außer dass der Wasserspiegel nun genau in der Mitte eines Kettengliedes lag. Was ging hier vor? Was würde zum Vorschein kommen, wenn die Kette sich gänzlich aufgewickelt hatte? Als ich die Lampe noch einmal auf den sich immer noch kräuselnden Wasserspiegel hielt, zweifelte ich daran, dass ich das wirklich wissen wollte. Statt dessen wurde der Wunsch in mir immer stärker, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen ...
Für den Rest der Nacht fand ich keinen Schlaf. Ich lauschte gebannt nach dem knirschenden Geräusch, das unzweifelhaft die sich bewegende Winde des Brunnens gewesen war. Einer Winde, die seit hunderten von Jahren festgerostet war.

Am nächsten Tag fuhr ich mit dem Fahrrad ins Dorf und ging dort in eine Bibliothek. Vielleicht fand ich etwas über Heimatkunde. Die Bemerkung des Kurierboten am Tag zuvor ging mir nicht aus dem Kopf.
Als ich den stickigen Raum betrat, zuckte der Bibliothekar, ein Mann, der die Pensionsgrenze sicher seit langem überschritten hatte und nun hier noch etwas seine Rente aufbesserte, merklich zusammen. Offenbar wollten nicht viele Menschen Bücher ausleihen.
„Guten Tag – entschuldigen Sie, ich suche etwas zum Thema Heimatkunde. Mythen und Sagen oder etwas ähnliches.“
Der Senior, der sich wieder gefangen hatte, lächelte freundlich: „Hinten links gibt’s was über Heimatkunde. Aber ich glaube nicht, dass Sie dort etwas über Mythen und Sagen finden werden.“
„Sind die Bücher ausgeliehen?“
„Es gibt keine. In dieser Gegend ist es so langweilig, dass es nicht mal ein paar zünftige Sagen gibt.“ Wieder lächelte er freundlich. Der Mann war mir sympathisch. „Das einzige, was es hier gibt, ist diese alte Hexengeschichte ...“
„Hexengeschichte?“
„Ja – als Gruselmärchen ganz nett, aber leider historisch totaler Kokolores. Wenn Sie wollen, erzähle ich Sie Ihnen, hier kommt sowieso kaum einer vorbei. Auf die Weise geht die Zeit bis zum Feierabend schneller vorbei.“
Ich hatte eigentlich keine Lust, diesem Mann dabei behilflich zu sein, dass er früher zu seinem Feierabend kam - zumal zu Hause jeden Menge Arbeit auf mich wartete und ich zu gerne etwas über die Geschichte meines Hauses erfahren hätte. Aber ich wollte nicht unfreundlich sein, deswegen nickte ich kurz, beschlossen aber, den Mann nach spätestens fünf Minuten mit irgendeinem Vorwand zu unterbrechen.
„Ich weiß nicht, ob sie von hier sind. Aber vielleicht kennen Sie das Haus etwa zwei Kilometer vor dem Ortseingang. Dieses alte Haus, das ständig neue Eigentümer hat.“
Ich spürte, wie mir die Farbe aus dem Gesicht wich. Konnte es sein, dass er mein Haus meinte? Aber nein, das war Unsinn, es gab sicher noch mehr alte Häuser hier.
„Wahrscheinlich“, so fuhr er fort, „ist die Hütte einfach zu marode, und die Eigentümer haben sich finanziell überschätzt. Würde mich nicht wundern. Jedenfalls steht in dem Garten dieses Hauses ein uralter Brunnen ...“
Mit nun zitternden Händen zog ich mir einen Stuhl heran, setzte mich und hing dem Bibliothekar an den Lippen.
„Der Brunnen ist viel älter als das Haus selbst. Wahrscheinlich sogar an die 100 Jahre ... Wissen Sie eigentlich etwas über die Hexenverbrennungen in Europa?“
Ich nickte vage – etwas verwundert über den abrupten Themenwechsel.
„Geschichtlich belegt ist, dass es die letzte Hexenverbrennung in Deutschland im Jahre 1775 gab – in der rückständigen Schweiz wurde sogar sieben Jahre später noch eine verbrannt.“ Er nahm einen Schluck aus einem Wasserglas. „Also, die Sage, von denen ich Ihnen erzähle, widerspricht diesen geschichtlichen Fakten zwar nicht – schließlich soll es hier keine Hexenverbrennungen gegeben haben. Aber Hinrichtungen von unliebsamen Frauensleuten, die damals auch hier Hexen genannt wurden, soll es sehr wohl gegeben haben – und zwar noch bis etwa zum Jahr 1830.“
Wahrscheinlich bot ich einen ziemlich dummen Anblick mit offen stehendem Mund. Aber das war mir egal. Ich wollte nur, dass der Mann weiter erzählte.
„Die Hinrichtungsmethode war brutal – aber welche Hinrichtungsmethode ist das nicht?! Die Frauen wurden zur so genannten Hexenprüfung in einen Käfig gesetzt, der – befestigt an einer Kette – in einen 90 Meter tiefen Brunnen gelassen wurde. Nach fünf Minuten holten die Schergen den Käfig wieder hoch. War die Frau tot, handelte es sich nicht um eine Hexe und sie wurde feierlich begraben, lebte sie noch, war es eine Hexe, auf die bereits der Henker wartete.“
„Wieviel Frauen lebten nach dieser Prozedur noch?“
„Keine – aber mindestens fünf sollen dem Ritual von 1802 bis 1830 zum Opfer gefallen sein.“
„Aber bei der letzten Hinrichtung gab es wohl eine grausame Panne. Als der Käfig mit der damaligen Dorfschönheit soeben zu Wasser gelassen worden war, kam ein junger Arzt mit dem Beweis ihrer Unschuld zum Brunnen gerannt. Dem Mädchen wurde vorgeworfen, als Hebamme für den Tod eines Säuglings einer gräflichen Familie hier am Ort verantwortlich zu sein und wurde daraufhin als Hexe verschrien. Nun, das Neugeborene war lediglich bewusstlos gewesen. Der Arzt hielt das nun putzmunter schreiende Kind in seinen Armen. Die Hexenaustreiber waren geschockt und versuchten sofort, die Kette mit dem Käfig daran wieder hochzuziehen. Doch es blieb bei dem Versuch. Etwas hatte sich verkantet, und es war unmöglich, das Mädchen aus seinem nassen Gefängnis zu befreien. Irgendwann sind sie dann wohl von dannen gezogen. Danach haben sie den Brunnen gemieden, weil er sie immer wieder an ihre große Schuld erinnert hat, und es ist nie wieder zu einer solchen Hexenprüfung gekommen. Eigenlich müsste das arme Mädchen noch heute in seinem Käfig auf dem Grund des Brunnens sitzen und darauf warten, dass es endlich hochgezogen wird ...“
Wir schwiegen eine ganze Weile, bis ich schließlich fragte: „Warum hat man diese grausame Stätte denn nie vernichtet oder wenigstens geprüft, ob es wirklich einen solchen Käfig mitsamt Mädchen gibt?“
Der Mann zuckte mit den Schulter. „Privatbesitz, nehme ich an. Keine Ahnung. Ich sagte Ihnen ja, dass das Haus sehr viele verschiedene Eigentümer hatte. Ich glaube nicht, dass die meisten etwas von der Sage um jenen Brunnen wussten. Warum auch?! Sie ist ja doch nichts anderes als blanker Unsinn, wenn Sie mich fragen. Irgendetwas Gruselig-Romantisches, das sich irgendjemand irgendwann ausgedacht hat, um irgendeinem Mädchen zu imponieren, das wahrscheinlich selbst schon seit 100 Jahren tot ist. Und nun glauben ein paar leichtgläubige Strickmütterchen dieses Zeug, so dass es immer weiter erzählt wird. Obwohl: Ich weiß nicht, ob irgendjemand außer mir diese Geschichte überhaupt noch kennt ...“

Nun – ich kannte sie jetzt, und mich überkamen alles andere als wohlige Gefühle, als ich vor meinem Haus stand. Obwohl ich es vermeiden wollte, schielte ich doch zu dem alten Brunnen. Wurden dort wirklich vor weniger als 200 Jahren vermeintliche Hexen hingerichtet? Und saß noch immer eines von diesen unglücklichen Geschöpfen in einem Käfig auf dem Grund meines Brunnens?
In der folgenden Nacht verstöpselte ich mir die Ohren mit Oropax, und dennoch meinte ich, dieses Knirschen zu hören, das entsteht, wenn sich eine schwere Eisenkette um einen Holzzylinder wickelt. Hatte das Opfer nun einen Weg gefunden, aus eigener Kraft wieder an die Oberfläche zurück zu kommen? Natürlich kann es auch sein, dass ich in dieser Nacht lediglich von Träumen geplagt wurde.

Drei Wochen später holte ich Heike vom Flughafen ab und brachte sie nicht in unser Haus, sondern in eine Zwei-Zimmer-Wohnung, die ich gemietet hatte. Heike war maßlos enttäuscht und beendete nach sechs weiteren Wochen unsere Beziehung. Ich glaube, sie hielt mich schlicht für verrückt. Das Haus samt Garten und Brunnen verkauften wir für denselben Preis, für den wir es gekauft hatten.

Heute, am 26. Juni 2002 – also acht Jahre nach diesen Ereignissen – bin ich zufällig noch einmal in die Gegend gekommen. Die Villa ist inzwischen bis auf die Grundmauern abgebrannt. Wie ich gehört habe, haben betrunkene Jugendliche das verlassene Haus vor zwei Jahren in Brand gesteckt. Ich habe versucht, einen Blick durch den Zaun in den Garten zu erhaschen. Er ist noch verwilderter als damals. Aber der Brunnen – das habe ich genau gesehen – steht noch. Es war windig heute. Ich weiß nicht, ob das Knirschen, das ich gehört habe, von den sich aneinanderreibenden Ästen und Stämmen der uralten Kastanienbäume stammte oder einen anderen Ursprung hatte ...

© Andreas Schröter 2002

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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