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Juni 2002
Fliegen
von Frank Hoese


Seit Fran ihren Mann Curt im Februar beerdigt hatte, klang das dünne Geläut der Friedhofskapelle wie die Freiheitsglocke in ihren Ohren. Ihr Mann hatte einen guten Zeitpunkt zum Sterben gewählt; jetzt, im Frühling, war es eine Freude, das Grab mit frischem Grün und Frühlingsblumen zu bepflanzen, und ihr Aufblühen erfüllte Fran bis in den letzten Winkel ihrer Seele mit einem tiefen Glücksgefühl. Die Wärme der Frühlingssonne tat ihr gut, und ihre Hüfte machte ihr weniger zu schaffen als in den Wochen nach der Beerdigung, wo der Boden noch geforen gewesen war und die Gießkanne auf dem Weg von der Wasserstelle zum Grab immer schwerer wurde. Sie stellte sich gern vor, wie die klaren Rinnsale ihren Weg zwischen Humus und Steinen hindurch bis zu Curt fanden und seinen Körper fruchtbar machten für all die Pflanzen, die da aus ihm wachsen wollten. Armer Curt! Sie lachte ein damenhaftes kleines Lachen, das wie aus altem, sehr zerbrechlichem Glas klang.
Nahe beim Hauptweg lärmte ein Schredder, mit dem ein Friedhofsgärtner in fünfzig Meter Entfernung Geäst und Laub zerhäckselte, die bei der Ausdünnung des Laubwerks angefallen waren. Ein paar Fliegen summten um Frans Gesicht, als sie die frischen Pflanzen auf dem Grabhügel wässerte. Der Hügel hatte sich nun schon so weit gesenkt, dass man bald daran denken konnte, einen Grabstein aufzustelllen.
„Geliebter Ehemann, Vater und Freund“, flüsterte sie und verscheuchte die Fliegen mit einer ungeduldigen Handbewegung. Das Grabmal würde bis in alle Ewigkeit - nun ja, zumindest für die fünfundzwanzig Jahre, für die sie die Grabstätte bezahlt hatte - die drei Aufgaben bezeichnen, an denen Curt so kläglich gescheitert war, dass die Erinnerung daran ihr bis zu ihrem eigenen Tod reichen würde.
Sie harkte die Erde auf dem Grab mit raschen, energischen Strichen glatt.
„Pfui Teufel!“
Eine Fliege war zwischen ihre Lippen geraten; Fran spuckte sie angeekelt aus und rieb sich den Mund mit dem Handrücken. Widerliche Biester!
Sie verstaute Harke und Spaten wieder im Geräteunterstand und wischte sich Mund und Hände gründlich mit einem Kölnisch-Wasser-Tuch ab.

Als das Taxi sie zuhause abgesetzt hatte (ja, manchmal leistete sie sich nun ein Taxi; Curts Lebensversicherung hatte sie zu einer wohlhabenden alten Dame gemacht), machte Fran sich einen Eistee und legte im Wohnzimmer die schmerzenden Beine hoch. Das Taxi war gut und schön, aber Curts Grab lag weit hinten, und so blieb ihr ein Fußmarsch nicht erspart. Sie überflog die Kataloge, die mit der Post gekommen waren. Für das Wohnzimmer hatte sie einen Täbriz ausgesucht, in majestätischem Blau mit roten und goldenen Arabesken. Die alten Sessel, die nicht dazu passten, flogen raus. Curt hatte sie ausgesucht. Nun, Curt war auch rausgeflogen. Vorher hatte sein Schweigen erdrückend über allem gelastet; nun nistete hier eine heitere Stille, in der keine Spur mehr von dem mürrischen, gemeinen alten Ziegenbock zu finden war, in den sich ihr Mann schließlich verwandelt hatte.
Fran schlief ein und träumte. Sie stand oben auf der Treppe und sah Curt langsam heruntertappen, hörte ihn seine Worte mit viel Überlegung so wählen, dass sie wie Messer in ihre Seele schnitten, je ärger, desto besser. Die Treppe war lang, länger als die Rolltreppen in den U-Bahn-Stationen, und ihr Haus hatte die Ausmaße einer Kathedrale. Im Halbdunkel des Dachstuhls schwebte eine gewaltige schwarze Wolke, aus der ein stetiges, tiefes Brummen zu hören war. Hinter den Fenstern war kein Garten, sondern ein Totenacker, heruntergekommen, windschief und verwahrlost.
„...NIE zu was anderem getaugt, und jetzt willst du mir VOOOR-SCHRRIFFTEN machen!“ Curts nörgelnde, gehässige Stimme, voller Pathos, eine Stimme, die vor allem wehtun wollte, steigerte sich in eine Verdammungslitanei, die sich am Ende wie eine Schlinge um Frans Hals zuziehen würde. Fran fühlte, wie ihr Schmerz sich in eine Wut ergoss, die sie mitriss und fortschwemmte, und ohne weiteres Zögern tat sie das, was nötig war, um diesen verwunschenen Ort wieder zum Leben zu erwecken.
Diesmal fiel Curt aber nicht, und er blieb auch nicht am Fuß der Treppe liegen, wo er mehrere Stunden damit beschäftigt sein würde, zu sterben. Ihr Ehemann breitete mit einem grotesken Geräusch, das halb Überraschung, halb Wut war, die Arme aus - aaaAARRRR! - und zu ihrem Entsetzen sah Fran, dass sich an den Seiten seines Rumpfes große vogelähnliche Fittiche entfalteten, die Curt so sicher durch die Luft trugen wie eine Engelsschar. Ein weiteres Kreischen ließ die Luft klirren; es drückte hasserfüllte Entschlossenheit aus. Der Curt-Vogel flog im Langschiff ihres Hauses ein Wendemanöver und raste auf Fran zu. Ihre Beine wurden zu Wasser. Dünnes Greisenhaar wehte um seinen mageren Schädel, und Fran konnte mit der äußersten Klarheit des Bewusstseins, die furchtbare Träume gelegentlich mit sich bringen, erkennen, dass seine Lippen Worte formten, aber so sehr Fran sich auch anstrengte, sie konnte sie nicht lesen.

Die alte Frau schreckte hoch. Der Traum verschwand wie von einem unsichtbaren Faden gezogen aus ihrem Bewusstsein, so rasch, dass nur eine tiefe Mattigkeit zurückblieb. Das Telefon läutete. Fran blinzelte verwirrt. Schwerfällig stemmte sie sich aus dem hässlichen Curt-Sessel und ging zum Telefon.
„Schlesinger?“
„Fran? Hier ist Moira.“
Moira regelte die Angelegenheiten des Gartenvereins; Frans Aufnahmeantrag war zwei Tage nach Curts Beerdigung bei ihr eingegangen.
„Hallo, Moira.“
„Sie hatten mich um Setzlinge für das Grab Ihres Mannes gebeten. Ich habe sie hier. Süße kleine Dinger sind das. Kommen Sie zu unserem Treffen am Sonntag?“
„Ich würde es um nichts in der Welt versäumen wollen, Moira.“
„Oh, fein. Na, ich werde sie Ihnen mitbringen.“
„Das ist sehr lieb von Ihnen. Ich freue mich schon sehr darauf.“
„Oh, fein“, sagte Moira noch einmal und legte auf.

Licht fiel durch die Strickgardinen im Wohnzimmer auf die Stelle, wo Curt gestorben war. Der prachtvolle neue Täbriz färbte das Licht in einem zarten Blau. Als sei ein kleines Stück Himmel herabgeschwebt, um Curts Seele ins Paradies zu holen. Fran hätte vielleicht bei dieser Vorstellung gelacht, wenn sie besserer Stimmung gewesen wäre. Nicht heute. Sie betrachtete von der Küchentür aus die Fliegen, zwei Dutzend ordinäre Scheiße-Brummer, die im täbrizfarbenen Licht die Stelle am Fuße der Treppe umkreisten, wo Curt so viel Zeit dafür gebraucht hatte, an seinen Verletzungen zugrundezugehen.
Die alte Frau blinzelte. Die Fliegen bewegten sich innerhalb unsichtbarer Grenzen, und ihre Bahnen markierten grob die Silhouette einer stehenden Person.
Die Haare an Frans Unterarmen richteten sich auf, und sie spürte, wie Gänsehaut ihre Arme und ihre Oberschenkel überzog.
„Morgen Fliegenfänger besorgen“, notierte sie im Geiste.

Moira hatte darauf bestanden, Fran mit ihren Setzlingen nach Hause zu fahren. „Ein Taxi? Na, das kommt aber überhaupt nicht in Frage, meine Liebe.“ Moira war resolut, vierzehn Jahre jünger als Fran und fest entschlossen, dieser alten Dame behilflich zu sein, auch wenn sie sich zaghaft sträubte.
Fran hatte sich gegen die prüfenden Blicke der Vereinsvorsitzenden gewappnet, aber nonchalant überging Moira die Fliegenfänger im Flur und in der Küche, die sich allmählich mit fetten schwarzen Fliegenleichen überzogen. Wohl nicht ganz die Windspiele, die sie sonst gewohnt war.
„Sie haben wirklich etwas aus dem Haus gemacht“, sagte Moira stattdessen und honorierte Frans neue Aufteilung des Wohnzimmers mit bewundernden Blicken. Curt hatte Bücher gehasst und den Fernseher vorgezogen. Fran hatte den Fernseher als unauffälliges Detail zwischen Pflanzen und Bücherregalen (oh, wie sehr hatte sie sich immer ein großes Bücherregal im Wohnzimmer gewünscht!) eingebettet, so dass er nicht mehr den ganzen Raum beherrschte. Curts Schrein war verschwunden und ein Teil der Landschaft geworden wie er selbst.
„Ich habe mir Mühe gegeben“, erwiderte Fran bescheiden. Moira lachte ein glockenhelles Lachen. Sie stieß mit dem Finger ein Duftbäumchen an, das dezent unter dem Schirm der Deckenlampe verborgen war. Es war Zitronenmelisse; Fran hatte herausgefunden, dass die Biester den Geruch hassten, und sie würde ihnen keinen Fußbreit ihrer neuen Fran-Welt gönnen.
„Möchten Sie einen Kaffee, Moira?“
„Oh, fein“, sagte Moira.

Im Sommer hatte Fran eine ausgewachsene Fliegenplage am Hals. Im ganzen Haus war nichts, was die Mistviecher anlocken konnte; Fran war trotz ihrer schmerzenden Hüfte buchstäblich durch jede Ritze gekrochen, um faulende Kartoffeln oder vielleicht eine verendete Maus aufzuspüren, irgendetwas, in dem Maden gedeihen konnten, aber ohne Erfolg. Mittlerweile waren es ihrer Schätzung nach zwei-, vielleicht dreihundert Fliegen, die das Haus für sich beanspruchten, auf dem Fernsehbildschirm krabbelten, wenn sie die Cosby-Show ansehen wollte, aus den Regalen aufflogen, wenn sie mit dem Staubwedel hindurchfuhr. Ihre Verzweiflung wuchs. Wo um Himmels willen kamen all diese Fliegen her?
Der Tag, an dem Fran die Zusammenhänge begreifen sollte, dämmerte in zarten Orange- und Blautönen heran. An diesem Morgen, den Monet gemalt haben konnte, wachte Fran missmutig auf. Bündel von Zitronenmelisse-Duftbäumchen pendelten über ihrem Kopf wie verschrobene Heiligenfigürchen; sie und das Moskitonetz, das sie sich angeschafft hatte, hielten ihr die Biester wenigstens nachts soweit vom Leibe, dass sie Schlaf fand. Morgens war der Schmerz in der linken Hüfte besonders schlimm, und es dauerte stets eine Weile, bis sie gehen konnte, ohne zu hinken. Also hinkte sie zum Bad und öffnete die Tür.
Der Spiegel war mit einer dicken Schicht von schillernden schwarzen Insektenleibern überzogen. Fran sah winzige Exemplare darunter, die gerade geschlüpft zu sein schienen, und obszöne fette Schmeißfliegen mit fleischigen Hinterteilen. Sie krabbelten durcheinander, aber es schien ein dunkler, geheimer Sinn in ihren Bewegungen zu liegen. Das Muster enthüllte sich ihr erst, als sie eine Minute lang fassungslos auf die wimmelnde schwarze Fläche gestarrt hatte.
Die Tiere formten ein Bild, eine Summe ihrer Bewegungen, die für einen kurzen Moment vor ihren Augen entstand und sich dann wieder auflöste, neu erstand und wiederum zerfiel.
Es waren Gesichtszüge, die sie so gut kannte wie ihre eigenen.
Heute sollte Fran ungewaschen bleiben. Übelkeit breitete sich in ihrem Magen aus und kroch die Speiseröhre hoch, und sie unterdrückte ein Würgen, als sie, ohne es wahrzunehmen, die Treppe hinunterstolperte und in der Küche auf einen Stuhl sank.

Es war Morgen gewesen, als Fran angefangen hatte zu verstehen. Nun war es Mittag, und die alte Frau hatte ihren Platz seit dem Morgen nicht verlassen. Ihre Miene war finster und entschlossen.
Die Fliegen hatten sich versammelt. Von ihrem Stuhl in der Küche aus konnte sie im Rechteck des Türrahmens verfolgen, wie sie die Stelle belagerten, die sie zu ihrem Lieblingsplatz erkoren hatten. Es schien sie nicht zu kümmern, dass die fünf Fliegenfänger, die Fran am Fuß der Treppe aufgehängt hatte, ihre Zahl stetig dezimierten; ihre Zahl war Legion, und ihr Nachschub an frischen Fliegenleibern schien unerschöpflich. Die dunkle, summende Säule, die sie bildeten, formte - vage und vibrierend, aber unverkennbar - die Umrisse einer menschlichen Gestalt.
Aber Fran entsetzte vor allem der stumme Blick eines Augenpaares, das sie aus dem Zentrum dieser grotesken Versammlung heraus hasserfüllt fixierte, ein Blick, den sie an jedem Ort der Welt wiedererkannt hätte.
Fran stand auf und strebte, so schnell sie konnte, der Treppe zu und an der summenden Ungeheuerlichkeit vorbei. Der Schwarm kam über sie, versuchte in sie einzudringen, in ihre Nasenlöcher, in ihren Mund, ihre Ohren. Sie spürte, wie einzelne Tiere in die Ärmel und unter den Saum ihres Nachthemdes krochen. Mit zusammengepreßten Lippen schrie sie auf, schlug wild um sich und spuckte und blinzelte gegen die fetten Insekten an, die sich zwischen ihre Lippen und Augenlider drängten. Atemlos vor Ekel und Anstrengung erreichte sie schließlich ihr Bett; der betäubende Geruch von Zitronenmelisse wirkte wie ein unsichtbarer Bann auf die Insekten, die hinter ihr zurückblieben.
Fran fiel bebend auf ihr Kopfkissen und suchte mit fliegenden Fingern nach etwas, das darunter lag. Es waren weitere Duftbäumchen und eine Spraydose mit Insektengift. Langsam bekam sie ihre Hände soweit unter Kontrolle, dass sie die Papierhüllen von einem weiteren Dutzend der aromatisierten Papptäfelchen ziehen konnte. Die Aufgabe ließ sie ruhiger werden, und als sie die Täfelchen nacheinander an den Knöpfen ihres Nachthemdes befestigte und aus einigen einen Kranz formte, den sie sich um den Hals legte, fand sie zu der Entschlossenheit zurück, die sie in der Küche verspürt hatte.
Ihre Hände zitterten kaum noch, als sie im Geiste die Einkaufsliste schrieb. Durch das Moskitonetz waren keine Fliegen zu sehen. Das konnte eine Finte seines sadistischen Verstandes sein. Nun, diesmal würde er nicht gewinnen.
Sie schlug das Netz zurück und hielt die Spraydose wie eine Pistole vor sich, die eine Hand mit der anderen unterstützend. Ein Rosenkranz aus Duftbäumchen pendelte um ihren Hals. Noch immer keine Fliegen. Gut so.
Fran hastete zum Schrank und nahm einen leichten Sommermantel heraus, der ihr Nachthemd verdecken würde. Zwischen den Handtüchern hatte sie drei Hunderter versteckt, die sie rasch in der Manteltasche verschwinden ließ. Dann schlüpfte sie in eine Feinstrumpfhose und flache Schuhe, stopfte ihre ungekämmten Haare unter ein Kopftuch und zog eine große Reisetasche unter dem Bett hervor. So ausgestattet, eilte sie die Treppe hinunter, die Spraydose im Anschlag. Sie kam unbehelligt zur Haustür, schloss sie auf und floh.

An jedem 12. Juli besuchte Amanda das Grab ihrer Schwester, die vor sechs Jahren an diesem Tag bei einem Autounfall gestorben war. Es gab hier für sie nicht viel zu tun, denn sie und ihr Bruder hatten die Friedhofsverwaltung schon vor Jahren beauftragt, das Grab zu bepflanzen. Der Friedhofsgärtner machte seinen Job ohne Phantasie, aber solide, so dass der Ort, wo der Körper ihrer Schwester ruhte, nie so vernachlässigt wirkte wie manche der anderen Gräber hier in den Außenbezirken des Zentralfriedhofs.
Nachdem Amanda ein paar Minuten am Grab ihrer Schwester gestanden und einen Strauß Sommerblumen dort hinterlassen hatte, fiel ihr kein Grund mehr ein, weiter zu bleiben, und sie blickte sich nach einer Bank um. Ein paar Reihen weiter bildete eine dichte Taxushecke eine Nische, in der eine Bank stand, und sie setzte sich in Bewegung.
Eine alte Frau mit Kopftuch saß dort. Amanda lächelte ihr zu, als sie sich auf die Bank setzte (weit genug weg, so hoffte sie, um zu zeigen, dass ihr nichts an einem Gespräch lag), und fischte in ihrer Handtasche nach Zigaretten.
„Stört es Sie, wenn ich rauche?“
Die alte Frau sah herüber. Amanda sah, dass sie ein kleines Fernglas in der Hand hielt.
„Ach, um Gottes Willen. Rauchen Sie nur. Macht mir nichts aus.“
Amanda ließ ihr Feuerzeug aufschnappen und blies wenige Sekunden später große blaue Wolken aus. Wonach mochte die Alte Ausschau halten? Sie benutzte das Fernglas im Augenblick nicht, sondern hielt es locker in der Hand, so als wollte sie Amanda nicht offenbaren, wem ihr Interesse galt. Die junge Frau sah sich um; es war ein Werktag, und nur wenige Spaziergänger waren zu sehen. In einiger Entfernung arbeitete ein Friedhofsbagger. Vielleicht beobachtete die alte Frau ja Vögel.
„Kommen Sie her, um Vögel zu beobachten?“ fragte Amanda und verfluchte im Stillen ihre Neugier; nun würde sie ganz bestimmt die gesamte Lebensgeschichte der Alten zu hören bekommen.
„Nein, keine Vögel. Ich bin oft hier“, sagte die Alte und wich der Frage der Jüngeren damit aus. „Ich habe das Gefühl, so kann ich ihn besser unter Kontrolle halten.“ Sie wies auf eine eingefasste Grabstelle, die unweit der Bank, auf der sie saßen, im Sonnenlicht lag. Um die Stelle, wo der Grabstein gesetzt werden sollte, war eine Menge Zitronenmelisse gepflanzt. Amanda lächelte verkrampft. Wie ungewöhnlich. Sie blickte die Alte an; ein verschwörerisches Zwinkern verriet ihr, dass die alte Frau einen Scherz gemacht hatte. Amanda lachte kurz und ohne jeden Humor.
Sie hatte Glück, denn die alte Frau blieb schweigsam und starrte beharrlich geradeaus. Ein paar Minuten später schnippte Amanda ihre Zigarette auf den Kiesweg, trat sie aus und ging. Nach einigen Metern blickte sie sich um und sah, dass die Alte das Fernglas wieder an die Augen gehoben hatte. Sie schien eine Art morbides Interesse für den Bagger zu hegen, der zweifellos dabei war, ein frisches Grab auszuheben. Die große Reisetasche, die im Schatten der Bank stand, bemerkte Amanda nicht. Sie hätte ihr Urteil ohnehin nur bestätigt.
Verrückte alte Schachtel!

Ein Hammerschlag, von einer entschlossenen alten Frau geführt, genügte, um das Vorhängeschloss zu knacken. Der dünne Bügel sprang zurück, und Fran stieß die Tür zum Fahrzeugschuppen auf.
Sie hatte den Friedhofsgärtner stundenlang beobachtet und glaubte nun zu wissen, wie man mit dem Bagger umging. Mit einem leisen Stöhnen wuchtete sie ihre schwere Reisetasche neben den Sitz und zog sich am Handgriff hoch. Der Schlüssel steckte. Es schien hierzulande nicht viele Diebstähle von Friedhofsbaggern zu geben.
Frans Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, und es gelang ihr, das klobige Fahrzeug mit einiger Sicherheit über die Kieswege zu steuern, ohne allzu oft gegen die Einfriedung oder gar über eine Grabstelle zu fahren. Der Halbmond und der wolkenlose Himmel halfen ihr ein wenig. Es gab schattige Passagen, wo sie sehr aufpassen musste, weil sie kaum die Hand vor Augen sah, aber sie musste nur selten Gebrauch von ihrer Taschenlampe machen. Fran sah die dunklen Umrisse von Curts Grab auftauchen und steuerte den Bagger darauf zu. Unter der Staubmaske fühlte sie die feuchte Hitze ihrer Atemstöße. Sie trug eine Taucherbrille und Gummihandschuhe, und sie hatte die Bünde ihrer Ärmel mit dicken roten Einmachgummis verschlossen und ihr Nachthemd in die Strumpfhose gestopft. Die Duftbäumchen hingen nicht mehr um ihren Hals; ihr Schweiß hatte das Aroma herausgewaschen, und es nützte nichts mehr gegen die Fliegen.
Fran musste herumprobieren, um mit der Steuerung der Schaufel zurechtzukommen. Der Bagger, der sich tagsüber so angenehm diskret angehört hatte, machte in der Nacht einen solchen ohrenbetäubenden Krach, dass sie fortwährend glaubte, in den Augenwinkeln das Blaulicht eines Streifenwagens flackern zu sehen. Ihr Herzschlag schien ihren ganzen Körper in rhythmische Schwingungen zu versetzen, so deutlich spürte sie ihn.
Endlich glaubte sie die Steuerung zu verstehen. Sie schob einen Hebel vor und rastete den äußeren in einer mittleren Stellung ein. „Oh, fein“, sagte sie, als die Schaufel Moiras Setzlinge auslöschte und sich in den weichen Boden fraß, Steckvasen und Blumen beiseiteschiebend.
Schon begannen einzelne Fliegen in das Führerhaus des Baggers zu streben. Wütend prallten sie gegen das Sichtfenster von Frans Taucherbrille, so als wollten sie das Plastik mit ihren winzigen Chitinstirnen einrennen. Fran knurrte und rammte die Baggerschaufel tief ins Erdreich. Sie spürte, wie die Fliegen sich in den Spalt zwischen der Staubmaske und ihrer Haut drängten, aber sie hatte das Gummi so stramm angezogen, dass es in ihr Fleisch schnitt, und die Fliege, die hier durchkam, würde in nächster Zeit sicher nicht geboren werden.
Mit einer ungeduldigen Bewegung wischte Fran ein paar Dutzend der Insekten von ihrer Taucherbrille, um freie Sicht zu haben. Sie hinterließen einen schmierigen blassgelben Film. Die Schaufel fraß ein schiefes Rechteck, in dem jetzt gleich Curts Sarg auftauchen musste, aus dem Boden vor ihr. Ihre Hüfte begann zu schmerzen, denn Sitz und Armaturen waren offenbar für größere und schwerere Personen gedacht als sie es war, und es strengte sie sehr an, die Hebel zu bedienen.
Die Schaufel stieß knirschend auf einen Widerstand. Fran zog sie rasch ein und sah, dass sie Curts Sargdeckel erwischt hatte, der einen Moment lang schief und zersplittert an der Baggerschaufel hing und dann mit einem lauten Krachen neben die sehr unprofessionell wirkende Grube fiel.
Die alte Dame senkte die Schaufel wieder ins Grab hinunter und stellte den Motor ab. Ihr Atem ging stoßweise; sie wischte mit der Handkante eine neu versammelte Insektengemeinde von der Brille. Auf ihren Armen und dem unbedeckten Teil ihres Gesichts wimmelten sie zu Dutzenden, aber Fran konnte sich jetzt nicht darum kümmern. Sollten sie eben auf ihr herumkrabbeln.
Die alte Frau kletterte vorsichtig aus dem Führerhaus, ging um den Bagger herum und öffnete von der anderen Seite aus die große Reisetasche. Sie nahm eine Wäscheleine heraus. Es war eine von den guten; Fran hatte acht Euro fünfzig dafür hingelegt. Nun begann der schwierige Teil.
Sie schaltete die Taschenlampe ein und ließ den Strahl über den Erdhaufen gleiten, den sie neben dem Loch aufgeschüttet hatte, in dem Curt eigentlich hätte ruhen sollen, anstatt sie zu behelligen. Ungeduldig schlug sie mit der flachen Hand in den Fliegenschwarm hinein, der das Licht ihrer Taschenlampe zu verschlucken drohte. Hier war eine flachere Stelle, wo sie gut an der Baggerschaufel vorbeikam. Sie befestigte die Wäscheleine an den Zähnen der Schaufel und prüfte, ob die Knoten fest genug waren. Dann ließ sie sich langsam in die Grube zu ihrem toten Mann hinabgleiten.
Zu ihrer Überraschung war er trocken, und sie traf nicht auf die schwammige Fäulnis, mit der sie gerechnet hatte. Er schien ausgedörrt, fast mumifiziert, und seine Augenlider hatten sich halb über die Augäpfel zurückgezogen, die im Lichtstrahl der Taschenlampe wie trübe Geleebällchen aussahen. Die Schatten der aufgebrachten Insekten, die im Lichtkegel der Taschenlampe auf chaotischen Bahnen umeinanderrasten, verliehen ihnen den irritierenden Anschein von Lebendigkeit. Die Oberlippe ihres Mannes war hochgezogen und entblößte ein paar Zähne, als würde er auch im Tod noch Freude über ihre Demütigung empfinden.
„Werden sehen, wer zuletzt lacht“, grollte Fran und begann die Wäscheleine um die Leiche zu wickeln. Curts Überreste waren so leicht, als wären sie aus Pappmaschee gemacht.
Ein paar Minuten später saß Fran wieder im Führerhaus. Ihre Hüfte dröhnte jetzt lauter als der Dieselmotor des Fahrzeugs. Zu ihrer Überraschung hatte sie es nun mit weniger Insekten zu tun; nur noch fünf Biester krochen träge auf ihrer Taucherbrille herum. Unter der Baggerschaufel pendelte Curts vertrocknete Mumie an der Wäscheleine hin und her, und Fran schlug den kürzesten Weg zum Geräteschuppen ein.
Die metallene Oberfläche des Schredders warf ein verbogenes Abbild des Mondes zurück. Fran hob die Schaufel, und die Überreste ihres Mannes tauchten im Sichtfeld der Windschutzscheibe auf. Sie brachte ihn so nahe wie möglich an den Fülltrichter des Schredders heran und stellte dann den Motor ab. Aus der Tasche holte sie einen Karabinerhaken, eine zweite Wäscheleine - auch eine von den guten - und einen Saitenschneider hervor.
„Wir werden sehen, wer zuletzt lacht“, sprach sie noch einmal in die Feuchtigkeit hinter ihrer Staubmaske. Jetzt waren kaum noch Fliegen da.

Officer Craddock war voller Mitgefühl für die gehbehinderte alte Dame, der er die schlimme Nachricht überbringen musste. Gottseidank hatte sie sehr gefasst reagiert.
„Wissen Sie, Officer“, hatte sie gesagt, „ich bin zu alt, um mich noch über solche Dinge aufzuregen. Lasst die Toten ihre Toten begraben, sage ich. Curt ist, wo auch immer er nun ist, und ich glaube nicht, dass er sich noch viele Gedanken um seine sterblichen Überreste macht. Ich weiß nicht, wieviel Zeit ich hier noch habe, und ich will sie nicht damit verschwenden, mich verletzen zu lassen. Ist mir egal, ob Sie mich für herzlos halten.“
„Ich verstehe“, sagte der Officer, der kein Wort verstanden hatte. „Was soll nun geschehen? Wollen Sie Anzeige erstatten?“
„Gegen ein paar ungezogene Bengel, die Sie sowieso nie erwischen?“ Die Augen der alten Dame funkelten. „Ach, zum Teufel mit ihnen. Ich für mein Teil will noch einmal Paris sehen, bevor ich auch tot und begraben bin wie mein lieber Curt. Übermorgen geht es los.“
„Oh“, machte der Officer. „Mit dem Zug?“
„Nein“, antwortete Mrs. Schlesinger. „Ich denke, ich werde fliegen.“ Sie lachte. „Ich hatte ein Problem mit Fliegen, aber ich glaube, ich bin darüber hinweg.“

(c) Frank Hoese, Juni 2002

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