Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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Juni 2002
“Bitch”
von G. K. Nobelmann


Ihr war schnell klar, daß sie die Stadt nie hĂ€tten verlassen dĂŒrfen. Bis zu den Außenbezirken Chicagos war die I-55 problemlos befahrbar gewesen; in regelmĂ€ĂŸigen AbstĂ€nden ĂŒberholten sie RĂ€umfahrzeuge, die den Schnee auf den Standstreifen schoben, und obwohl der Asphalt sofort wieder weiß ĂŒberpuderte, hatte Britta sich nicht unbehaglich gefĂŒhlt. Dem Wetter zum Trotz fuhr Frank wieder schneller als alle anderen. Weshalb er sich genötigt sah, mit ihrem mickrigen Dodge Neon jede Familienkutsche zu ĂŒberholen, die sich an das Tempolimit hielt, begriff Britta zwar nicht, aber so war er halt -- immer auf dem Sprung.
Sie erinnerte sich, daß ihnen aus dem Fond eines Minivans zwei kleine Kinder zugewunken hatten, direkt bevor sie die Abfahrt nahmen; sie hatte zurĂŒckgewunken, wĂ€hrend Frank die Spur mit etwas mehr Elan wechselte, als dem Wagen auf der rutschigen Fahrbahn guttat. Der Neon schlingerte leicht, Frank fluchte, und Britta, zurĂŒckgeholt aus dem warm-weihnachtlichen GefĂŒhl, sah stumm aus dem Fenster. ErfahrungsgemĂ€ĂŸ hatte es wenig Sinn, Frank nach dem Ziel zu fragen. Er war derjenige von ihnen mit den Ideen; alles, was von ihr erwartet wurde, war angemessene Begeisterung. Sie seufzte in ihren Schal.
Im Auto war es heiß, die Heizung arbeitete auf Hochtouren, und Britta in ihrer dicken Hose mit der Strumpfhose darunter hatte zu schwitzen begonnen, kaum daß sie fĂŒnf Minuten gefahren waren. Frank mochte es warm. Umso unverstĂ€ndlicher, daß er auf der Amerika-Reise bestanden hatte; sein Weihnachtsgeschenk an sie. Sagte er. Raus aus dem norddeutschen Grisselgrau, einmal richtigen Schnee erleben, richtige Weihnacht! Und wo feierte man Weihnachten grĂ¶ĂŸer, bunter, verschneiter als in Nordamerika?
New York war ihm zu platt gewesen, jeder flog nach New York. Aber Chicago! Das war es! Und wollte sie wirklich wieder mit ihrer griesgrĂ€migen Familie um den Tannenbaum hocken und Frohsinn simulieren? Diese Frage, dachte Britta, hatte letztlich den Ausschlag gegeben. Ihr Bruder wĂŒrde mit seiner neuen Freundin kommen, ihre Ă€ltere Schwester mit Kindern und Mann. Alle bemĂŒht, fĂŒr die Feiertage so erfolgreich, so glĂŒcklich wie möglich zu wirken; und dazwischen ihre Eltern, seltsam grau und geschrumpft, mit unmißverstĂ€ndlicher, nie ausgesprochener EnttĂ€uschung im Gesicht, deren Grund ihr immer rĂ€tselhaft blieb.
Chicago also.
Sie war geschockt, wie kalt es war. Ihr Wintermantel kam ihr lachhaft vor, unzulĂ€nglich gegen den stĂ€ndigen Ansturm von Eisluft und Schnee. Sie hatte einen Gutteil ihres Einkaufsgeldes fĂŒr eine lange Daunenjacke, Handschuhe und SkimĂŒtze hingelegt, auch wenn Frank sich darĂŒber sehr erheiterte -- “Unterwegs zum Schneemannbauen? In dem Teil siehst du aus wie zwölf!” UngefĂ€hr das erstemal, daß er gelacht hatte, seit sie aus dem Flugzeug gestiegen waren. Das Hotel, das das ReisebĂŒro fĂŒr sie gebucht hatte, befand sich in einer unangenehmen Gegend; um zu den SehenswĂŒrdigkeiten zu kommen, mußten sie sich der primitiven, fĂŒr Britta unĂŒberschaubaren Straßenbahn anvertrauen, deren Gleise sich auf wenig vertrauenserweckenden Stelzen durch die Innenstadt zogen.
Nach drei Tagen hatte Frank genug von dem Zimmer, der Gegend, der Stadt selbst, und ließ sich von einem Kellner in der Pizzeria (“Chicago ist berĂŒhmt fĂŒr seine Pizzen, Schatz”) einen Geheimtip geben, ein StĂ€dtchen auf dem Land, perfekt fĂŒr Wintersport -- Langlauf, Schlittschuhlaufen, Rodeln in ĂŒberdimensionalen LKW-SchlĂ€uchen einen vereisten Hang hinunter. Er war Feuer und Flamme.
“Du wirst schon sehen, davon werden wir in zehn Jahren noch erzĂ€hlen! Urlaub wie die Einheimischen, was meinst du, wieviel EuropĂ€er sich wohl in so ein Nest verirren!”
Er schwelgte in der Vorstellung, der Exot zu sein, der Paradiesvogel, der Fremde, dem alle hinterhersahen und ĂŒber den sie mit einer Mischung aus Ehrfurcht und KopfschĂŒtteln sprachen. Britta sagte dazu wie ĂŒblich nichts. Es hĂ€tte keinen Sinn gehabt, Franks Seifenblase anstechen zu wollen. Er kaufte den Autoatlas, noch bevor sie einen Mietwagen organisiert hatten.
Der Neon war das einzige Fahrzeug, das das MĂ€dchen am Schalter ihnen anbieten konnte; eine hellgrĂŒne BlechbĂŒchse ohne Allradantrieb, ohne Schneeketten, ohne irgend etwas, mit dem man sich in amerikanisches Weihnachtswetter trauen konnte. Frank hatte das nicht gestört, “wir kommen doch aus Deutschland, da *lernt* man das Fahren wenigstens!”
Die Ausfahrt fĂŒhrte sie auf eine Überlandstraße, die das letztemal vor gut einer Stunde gerĂ€umt worden sein mußte; Frank warf einen Blick auf die Karte, und mit jeder Abzweigung, die sie nahmen, wurden die Straßen enger, die Schneewehen am Rand höher. Um sie herum erstreckte sich blĂŒtenweiße, glatte Ebene, dann und wann ein Haus, blinkende Weihnachtsbeleuchtung. Langsam wurde es dunkel. Frank hatte schon seit einer Weile nichts mehr gesagt. Etwas von dem Leuchten schien aus seinem Gesicht verschwunden zu sein.
Britta dachte an die eingewickelten Geschenke im Kofferraum, das schmale, lĂ€ngliche KĂ€stchen, das sie in seiner Reisetasche gesehen hatte. Heute war der 24. Sie hatten eine stille, intime Bescherung in ihrem rustikalen Pensionszimmer in den verschneiten Weiten von Illinois geplant, vielleicht mit brennendem Kaminfeuer, einem Tannenzweig, der als Christbaum herhielt, leise im Hintergrund Weihnachtsmusik aus dem Reiseradio. Angestrengt starrte sie nach vorn, versuchte sich einzureden, daß sie dort, gleich hinter der nĂ€chsten Biegung, Lichter gesehen hatte, die reflektierenden Buchstaben des Ortsschilds, weiß auf dunkelgrĂŒn; aber da war nur Schnee unter einem grauen Himmel, der sich zunehmend tiefer fĂ€rbte, kahle BĂ€ume, dann und wann ein Reh.
“Wir sind bald da”, sagte Frank unvermittelt und versuchte ein LĂ€cheln. Dann schoß direkt vor dem Wagen ein heller Schatten ĂŒber die Fahrbahn, Britta schrie auf, und Frank trat ins Pedal; der Neon ruckte kurz und drehte sich dann um die eigene Achse, die Welt draußen verschwamm zu einem weißdunklen Schemen. Im nĂ€chsten Moment traf die Schnauze des Wagens mit dumpfem GerĂ€usch auf etwas Hartes.
Britta kam nicht dazu, erneut zu schreien, als etwas Helles in ihr Gesicht explodierte. Die Welt hielt an. Der Strom heißer Luft aus dem LĂŒftungsgitter versiegte. Es war sehr still.
Brittas Herz hĂ€mmerte. Franks Hand legte sich auf ihren Arm. “Alles in Ordnung?” Auf ihrem Schoß schlaff die Überreste des Airbags.
Britta wollte nicken. Statt dessen fing sie an zu schluchzen. Frank löste seinen Gurt und zog sie an sich, ihr Kopf an seiner Brust. “Es ist alles gut”, sagte er halblaut. “Alles ist gut.” Lautlos rieselten feine weiße Flocken auf die Windschutzscheibe.
Das Auto kĂŒhlte schnell aus; hier konnten sie nicht bleiben. Frank bot an, sich allein auf den Weg zu machen, wĂ€hrend sie sich mit ihrer Daunenjacke auf dem RĂŒcksitz zusammenrollte, aber davon wollte Britta nichts hören. “Es war eine Katze”, beharrte sie. “Wo eine Katze ist, sind auch HĂ€user.”
Sie hatte recht. Vielleicht einen Kilometer weiter, hinter einem kĂŒmmerlichen WaldstĂŒck, lag eine Stadt, oder zumindest eine Ansammlung von HĂ€usern. Die meisten Fenster waren dunkel, nur die Weihnachtsdekorationen auf dem schneeĂŒberzogenen Rasen blinkten manisch. Eine geschlossene Tankstelle, ein Burgerschuppen mit vernagelten Fenstern, dann, fast ein Weihnachtswunder, ein langgezogener GebĂ€udetrakt, dessen Leuchtreklame freie Zimmer versprach -- eins der abgewrackten, pittoresken, uramerikanischen kleinen Familienmotels, wie Britta sie aus unzĂ€hligen Filmen kannte.
The Drop-Inn stand in schiefen, weiß bemĂŒtzten Plastikleuchtbuchstaben auf dem Dach; daneben ein kĂŒnstlicher Tannenbaum. Zweistöckig, in Hufeisenform um den Parkplatz angelegt, verstrahlte das Motel den leicht maroden Charme der End-Sechziger. Es fehlten nur die langgestreckten Straßenkreuzer. Britta schmiegte sich an Franks Schulter. Vielleicht war der Heiligabend doch nicht rettungslos verloren.
“Ich besorg uns ein Zimmer”, meinte Frank nicht unvergnĂŒgt. Er lachte. “Dann können wir auch gleich fragen, wo zum Teufel wir sind.”
Sie gingen auf das SeitengebĂ€ude zu, neben dessen TĂŒr ein Schild mit der Aufschrift “Office” angebracht war; kein Weihnachtsschmuck hier, dafĂŒr brannte Licht, und im Fenster hing ein Pappschild, auf das jemand sĂ€uberlich “vacancy” geschrieben hatte. Britta nahm an, daß fĂŒr den Fall der FĂ€lle auf der RĂŒckseite “no vacancy” stand. Optimismus nannte man das wohl.
Das Scheppern der TĂŒrglocke lockte einen Ă€lteren Mann aus dem Hinterzimmer. Sein Gesicht hellte sich auf, als er sie sah.
“Hi folks”, polterte er und grinste. “Need a room?”
Wie ĂŒblich hĂŒstelte Frank erst wieder zwanghaft herum, bevor er die ZĂ€hne auseinanderbekam. “Yes please. My wife and I have had an accident. Our car is...” Er suchte nach Worten. “It’s broken. It’s somewhere back there...” Er gestikulierte vage. Der Mann lachte gutmĂŒtig.
“Schon in Ordnung, das kommt schon nicht weg. Jedenfalls nicht bei diesem Wetter. You guys okay?”
“Yes”, sagte Frank zaghaft. Der Mann schob ein Formularbuch ĂŒber die Theke und deutete auf die Spalte, die Frank auszufĂŒllen hatte; dann nahm er einen SchlĂŒssel mit rotem PlastikanhĂ€nger von dem Brett hinter ihm. Unterdessen versuchte Frank, Konversation zu machen.
“Wir sind in den Flitterwochen”, erzĂ€hlte er; aus seinem Mund klang das Wort wie “Hannimuhn”. Es hörte sich fast entschuldigend an. Der Mann grinste wieder und zwinkerte Britta zu, die prompt rot anlief.
“That so?” Das Grinsen wurde wenn möglich noch breiter. “Great. Dann stört euch der LĂ€rm ja nicht.”
Frank sah von seinem Formular auf. “Der LĂ€rm?”
Der Motelbesitzer warf ihm den SchlĂŒssel hin. “Ihr seid nicht die einzigen.” Er nahm das Buch und klappte es zu, ohne einen Blick hineingeworfen zu haben. “Nice romantic hideaway, this is.”
Sein Blick wanderte wieder zu Britta. “Number 17. To your left. Enjoy your stay. Oh, and happy holidays.”
“Was fĂŒr ein ekelhafter Kerl”, zischte Britta, als sie durch den kniehohen Schnee stapften. Zimmer 17 lag im Erdgeschoß; auf dem Parkplatz vor ihrer TĂŒr stand ein rostiger dunkler Wagen, und die VorhĂ€nge des benachbarten Raums waren zugezogen. Frank wirkte ernĂŒchtert. “HĂ€tte der uns nicht wenigstens ein Zimmer ohne Nachbarn geben können? Die Bude ist doch wohl kaum ausgebucht.”
“Vielleicht ist es wegen der Heizung”, spekulierte Britta. “Wenn beide Seiten heizen, verteilt sich die WĂ€rme gleichmĂ€ĂŸiger. Sonst hast du rechts und links nur kalte WĂ€nde.”
Frank sah unbeeindruckt aus, obwohl niemand eine funktionierende Heizung mehr schĂ€tzte als er. Im Innern ihres Zimmers war es eisig (“Machen die sich hier keine Gedanken um ihre Leitungen?” murmelte Frank und drehte das altertĂŒmliche Thermostat auf); der Raum war grĂ¶ĂŸer, als Britta erwartet hatte, kahl und sauber. Ein Doppelbett, vor dem Fenster Tisch und Stuhl, an der RĂŒckseite des Raums die TĂŒr zum Bad. Kein Kamin; nicht einmal ein Fernseher. Britta konnte ein GefĂŒhl der EnttĂ€uschung nicht unterdrĂŒcken. Das Zimmer war etwa so romantisch wie eine Wartehalle. Sie setzte sich aufs Bett, das quietschend unter ihr nachgab. Von der Tagesdecke stieg ein muffiger Geruch auf. Frank, unverĂ€ndert bei der Heizung, rieb sich die HĂ€nde.
“Ich hol dann erstmal unser GepĂ€ck”, meinte er zögernd, als hoffe er, daß Britta ihm die Aufgabe abnehmen wĂŒrde.
“Wieso hast du dem Mann erzĂ€hlt, wir wĂ€ren auf Hochzeitsreise?”
“Oh, das...” Er grinste und zuckte die Achseln. “Macht es ein bißchen romantischer. Außerdem bekommt man auf die Art die besten Zimmer.” Britta sah sich stumm um. “Und ĂŒberhaupt”, fĂŒgte Frank verteidigend hinzu, “die Leute in diesen KĂ€ffern sind so altmodisch, soll ich denen vielleicht die *Wahrheit* sagen?”
Feuchtkalte Winterluft wehte herein, als er die TĂŒr hinter sich zuzog. Britta streckte sich auf dem Bett aus und schloß die Augen. Durch die dĂŒnne Wand drangen GerĂ€usche aus dem Nachbarzimmer, Stimmen; jemand lachte, konnte gar nicht aufhören. Britta fĂŒhlte sich mĂŒde.
Fröhliche Weihnachten, dachte sie.


SpĂ€ter, als sie im Schlafanzug auf dem Bett hockten und auf dem Tisch Franks WeltempfĂ€nger Country-Christmassongs dudelte, kehrte etwas von dem weihnachtlichen GefĂŒhl zurĂŒck. Frank hatte aus seinem Koffer eine Flasche Sekt gezaubert, und sie aßen sich durch ein FesttagsmenĂŒ aus Keksen, Schokolade und zerbröselten Erdnußflips. Es war lustig. Wenn man es aus dem richtigen Blickwinkel betrachtete, war es sehr lustig. Etwas, wovon man noch in zehn Jahren erzĂ€hlen wĂŒrde.
Nach dem zweiten Glas Sekt versuchte Frank, von ihrem massiven, kantigen Zimmertelefon aus die Pannennummer des Autoverleihs zu erreichen. Britta sah gespannt zu, wie seine Stirn sich krĂ€uselte, der Blick sich in konzentrierte Tiefen verlor, aber er sagte nichts, blieb stumm, bis er den Hörer wieder auf die Gabel fallen ließ.
“Keiner da”, meinte er traurig ernĂŒchtert. Britta schenkte ihm umgehend nach. Die Flasche zitterte leicht in ihren HĂ€nden, und sie hatte die ganze Zeit ein Kichern im Rachen. “Nur ein Scheiß-Anrufbeantworter.”
Er sah sie an. “Du, ich hab kein Wort verstanden. Rein gar nichts.”
Vom Radio her quĂ€kten Westerngitarren “Rudolph the Red-Nosed Reindeer” mit gefĂŒhlvollem Jodeln im Hintergrund, wĂ€hrend durch die Wand zum Nachbarzimmer dezent, aber vernehmbar das rhythmisch-elastische Quietschen von Bettfedern drang. Franks Hundeblick war der letzte Tropfen. Britta ließ sich rĂŒcklings auf den Überwurf fallen und strampelte vor Lachen mit den Beinen. Frank sah von ihr zum Telefon und wieder zurĂŒck; dann leerte er schwungvoll sein Sektglas.
“Ist auch egal. Ist schließlich Weihnachten.”
Auf einmal tat er Britta leid. Sie wußte, wie wichtig es ihm war, daß die Dinge ihre Ordnung hatten. Sobald der Sektrausch verflog, wĂŒrde er sich die ganze Nacht unruhig neben ihr in den Laken wĂ€lzen und an VersicherungsformalitĂ€ten und Eigenbeteiligung denken. Sie streckte die Hand aus.
“Gib mir den Kasten. Wie war die Nummer?”
Normalerweise hÀtte ihr das einen mitleidigen Blick eingetragen -- was bildete sie sich ein, sie mit ihrem Realschulenglisch? --, aber diesmal stellte Frank nur stumm den Telefonapparat auf der Bettdecke ab und reichte ihr einen Computerausdruck. Nach kurzem Zögern tippte Britta die Nummer der Emergency Hotline ein. Am anderen Ende begann es zu lÀuten. Britta wartete. Hatte Frank nicht etwas von einem Anrufbeantworter gesagt?
Unvermittelt wurde der Hörer abgenommen. Eine barsche MÀnnerstimme bellte etwas UnverstÀndliches in ihr Ohr. Brittas Hand verkrampfte sich um den Hörer.
“Hello?” sagte sie. “Ähm... Avis?”
Sie fĂŒhlte Franks Blick in ihrem Nacken. Nervös begann sie, am Spiralkabel herumzuziehen. “Hello?”
Durch die Leitung hörte sie ein Krachen, als wĂŒrden Möbel umgestoßen. Etwas klirrte, dann, inmitten des Getöses, ein Laut, der sich anhörte wie ein Wimmern. Sehr langsam begannen sich ihre Nackenhaare aufzustellen. Die Autovermietung war das nicht; oder sie hatten in der Avis-Zentrale gerade einen sehr schlechten Abend. “*Hello?*”
Das schneidende GerĂ€usch zu dicht an der Muschel ausgestoßenen Atems verriet ihr, daß der Mann wieder am Apparat war. “Listen”, sagte er.
Der Rest war ihr unklar; hatte er wirklich verlangt, daß sie besser ihren Arsch zu ihm zurĂŒckbewegte? Hatte sie ihn falsch verstanden, oder hatte er sie als “bitch” bezeichnet, als Schlampe, als Hure? Erst, als sie mit Ă€ußerster Vorsicht den Hörer zurĂŒck auf die Gabel legte, merkte sie, daß sie vergessen hatte zu atmen.
Franks Gesicht war ein einziges Fragezeichen. “Und? War jemand da?”
Sie sah ihn an. Konnte er den LĂ€rm am anderen Ende ĂŒberhört haben? Sie hatte das GefĂŒhl, daß man das hölzerne Krachen bis ins Nachbarzimmer gehört haben mußte. Und die Stimme. Die tiefe, kratzige, unmöglich intime Stimme, wie ein Insekt tief in ihrem Gehörgang. Ihr Mund war trocken.
“Nein. Nur das Band.”
Frank schien erleichtert. Wenigstens war sie nicht klĂŒger als er. “Mit dieser komischen Frauenstimme? Klang die nicht, als wĂ€re sie besoffen?”
Er begann, die Tonbandstimme nachzuĂ€ffen, und von ihm hörte sie sich wirklich angeheitert an: “If you want to listen to this message again, press bla bla bla.” Er wollte sich ausschĂŒtten vor Lachen. Britta lĂ€chelte mĂŒhsam.
“Ja. Genau die. Du hast recht, die muß einen in der Kiste gehabt haben.”
Sie nahm einen Schluck aus ihrem Sektglas, als mĂŒsse sie sich einen schlechten Geschmack aus dem Mund spĂŒlen.
Frank nahm das Telefon und stellte es mit Schmackes auf dem Nachttisch ab. “Und jetzt”, verkĂŒndete er, “...Bescherung!”
Als sie in ihrer Reisetasche nach den eingewickelten Geschenken fischte, bemerkte Britta, daß es im Nebenraum still geworden war. Die haben ihre Bescherung schon hinter sich, dachte sie grimmig. Aus-beschert.
Franks HĂ€nde waren leer, aber sein Gesicht leuchtete. Mit jedem Geschenk, das er auswickelte, brach er in moderate, wohldosierte FreudenstĂŒrme aus, aber Britta konnte sehen, daß er nicht ganz bei der Sache war. Sie dachte wieder an das schmale KĂ€stchen, das Einwickelpapier, das er mit Sicherheit nicht selbst ausgesucht und mit Tesafilm um die kleine Schachtel fixiert hatte. Ihr Herz schlug etwas schneller. Endlich, dachte sie. Endlich hat er...
“Der neue Le CarrĂ©!” Frank drehte sich zu ihm um und drĂŒckte ihr einen Kuß auf die Wange. “Du bist ein Schatz. Genau das richtige fĂŒr ein eingeschneites Feierwochenende.”
Auch das Polohemd war genau das richtige, wie auch die CD und die Survival-Taschenlampe, nur eine Minute die Kurbel drehen und fĂŒr eine halbe Stunde Licht. Britta wĂŒnschte sich, er wĂŒrde es nicht so lĂ€cherlich spannend machen. Aber Frank tat, als wĂ€re er ein ZehnjĂ€hriger am Geburtstagsmorgen. Endlich stellte er die neuen Sachen neben dem Bett auf den Boden, fegte das zerrissene Papier vom Bett und zog, mit gespanntem LĂ€cheln -- Überraschung! -- das KĂ€stchen aus der Hosentasche. Britta tat, als hĂ€tte sie im Leben nicht damit gerechnet.
“Frank! Nein! Du hĂ€ttest nicht-”
“Nun mach doch erstmal auf”, sagte Frank mit einem Hauch NervositĂ€t. Stumm löste Britta die Tesastreifen vom Juwelierpapier. Ein Armband vielleicht, oder eine kleine Halskette -- kein Ring, das wohl nicht, es sei denn, Frank, dieser Schlumpf, hatte den Juwelier um eine irrefĂŒhrende Verpackung gebeten, um die Überraschung noch ein bißchen...
Es war eine Uhr.
Eine lange Minute lang starrte Britta auf das SchmuckstĂŒck in seiner luxuriösen Verpackung. Keine billige Uhr, das sah man -- das schmale Goldarmband, das flache matte Ziffernblatt, auf dem schlanke Zeiger die Zeit zu Hause in Hamburg anzeigten, alles sagte, daß Frank eine Menge Geld fĂŒr sie ausgegeben hatte. Aber es war und blieb eine Uhr. Stumm sah Britta auf.
“Hier”, Frank griff um sie herum, um ihr etwas zu zeigen, “guck mal... die Unterseite. Da.”
Seine Freude war fast greifbar. Britta fĂŒhlte sich kĂŒhl und leer, weit, weit weg. Sie guckte.
Auf dem Stahlboden der Uhr, neben den Daten ĂŒber Wasserfestigkeit und dem Herstellerstempel, war in winzigen, fein ziselierten Buchstaben etwas eingraviert. Britta mußte die Augen zusammenkneifen, um es lesen zu können.
Britta & Frank.
Das war alles. Franks Gesicht war rot vor Aufregung.
“Siehst du? Auf die Art weißt du immer, daß wir zusammen sind. Daß wir zusammen*gehören*.” Er grinste. “Und es bleibt trotzdem unser kleines Geheimnis. Keiner muß etwas davon wissen.”
Er sah aus, als erwarte er halb, sie in ohnmĂ€chtigem Freudentaumel auffangen zu mĂŒssen. Britta schwieg. Sie drehte die Uhr zwischen den Fingern. Sie wußte nicht, was schlimmer war -- die BanalitĂ€t des Geschenks oder die Tatsache, daß Frank tatsĂ€chlich der Meinung war, sich etwas Tiefes dabei gedacht zu haben.
“Britta & Frank”, Himmelherrgott. Sie waren doch keine SchĂŒler mehr! FĂŒr seine “geheime Botschaft” hatte er sich die unpersönlichsten Worte ausgesucht, die man finden konnte, ohne erst Lexika zu wĂ€lzen. Kein noch so kitschiges “in ewiger Liebe”, nicht einmal eine Jahreszahl -- genausogut hĂ€tte sie die Uhr auf dem Flohmarkt gefunden haben können, was fĂŒr ein Zufall, einer der Namen auf der RĂŒckseite war ihrer...
Britta war nicht einmal sicher, ob das nicht sogar Absicht gewesen war. Seine Art, sich ein kleines HintertĂŒrchen offenzulassen. Niemand konnte anhand dieses Geschenks irgendwelche RĂŒckschlĂŒsse ziehen. Brittas gab es viele. Franks auch. Selbst in ihrer Firma waren sie nicht die einzigen.
“Und?” Frank zog sie an sich. “Freust du dich?” Er fing an, ihr Ohr zu kĂŒssen, ihren Haaransatz. “Wenigstens ein bißchen?”
Mit einer heftigen Bewegung stieß sie ihn von sich. “Laß das. Ich dachte, du... wir...”
Er sah sie an, die Freude aus seinem Gesicht verschwunden. Ein ZehnjĂ€hriger, dem man sein Geschenk weggenommen hat. Britta erwiderte seinen Blick, ihr Kopf leer, die Worte fort. Sie holte tief Atem und sagte dann doch nichts. Sie wußte nicht mehr, ob sie wĂŒtend oder traurig sein sollte; beides hatte sie lĂ€ngst ĂŒber. Sie wollte nicht mehr. Das, dachte sie, war das einzige, was feststand.
“Britta”, sagte Frank verletzt.
“Ach, hör doch auf.” Sie ließ die Uhr auf die Tagesdecke fallen. Ein Gedanke schoß ihr durch den Kopf, und wider Willen mußte sie lĂ€cheln. “Wieder mal typisch fĂŒr dich, das muß ich dir lassen. Du hast doch von Anfang an nichts anderes getan als Zeit zu schinden. Die Alte noch ein Weilchen hinhalten.”
“Ich habe dich nicht hingehalten!” sagte Frank heftig, und Britta, die eigentlich seine Frau gemeint hatte, zuckte leicht zusammen.
“Du”, fuhr Frank fort, der Zeigefinger anklagend auf ihrer Brust, “hast genau gewußt, was Sache war. Ich habe dir nie irgendwelche Versprechungen gemacht. Dir nicht, und Melanie auch nicht. Ich habe immer mit offenen Karten gespielt, immer! Ist es meine Schuld, daß Melanie nicht loslassen kann? Sie weiß, daß ich dich liebe. Sie weiß auch, daß ich es mir nie verzeihen könnte, wenn ihr etwas zustĂ¶ĂŸt. Ihre emotionalen Erpressungsversuche...” Er hob die Schultern und schĂŒttelte den Kopf. “Was soll ich denn machen? Meinst du, ich leide nicht unter der Situation? Glaub mir, ich wĂŒrde so gern einfach die TĂŒr hinter mir zumachen und weggehen, zu dir, in dein Leben! Aber Melanie... sie sagt, sie braucht mich. Ohne mich hĂ€tte ihr Leben keinen Sinn. Und sie wĂŒrde Ernst machen, das kannst du mir glauben.”
Alles schon tausendmal gehört, in tausendundeiner Stimmung -- Frank wĂŒtend, verzweifelt, melancholisch, sanft, beschwichtigend, hilflos, traurig. Und immer Melanie. Die arme, ungeliebte Melanie, die Tabletten immer im Ärmel. Britta hatte nicht das GefĂŒhl, diese Beschwörung noch einmal hören zu können. Ihre GefĂŒhle hatten ein Ă€hnliches Schicksal erlitten wie der grĂŒne Neon in seinem Straßengraben; ein plötzliches Schlingern, und dann eine harte Mauer, verdeckt unter harmlosem, scheinbar weichem Schnee.
“Ach, Scheiße”, sagte sie leise.
Sie gingen schlafen, jeder auf seiner Seite, ein Raum zwischen ihnen, in dem noch jemand hĂ€tte Platz finden können. Britta hatte sich die Decke bis ans Kinn gezogen. Sie wartete auf Franks tiefe, ruhige AtemzĂŒge; sie hatte noch ein paar TrĂ€nen, die sie loswerden mußte, trotz allem. Das letzte, was sie wollte, waren gerĂŒhrte Tröstungsversuche. Auf dem Nachttisch tickte die gravierte Uhr die Sekunden in Hamburg weg.


Etwas spĂ€ter schreckte Britta aus dem Schlaf, unverheult; neben ihr hob Frank schlaftrunken den Kopf vom Kissen, das Haar an seinem Hinterkopf gerade wie ein Ausrufezeichen. Durch die dĂŒnne Wand die Stimmen von vorher, aber kein Lachen diesmal, und auch die Bettfedern blieben stumm; Britta wußte nicht, was sie geweckt hatte, bis sie den Laut hörte -- das dĂŒnne, hohe Winseln, wie ein Hund, der Angst hat.
Aber das nebenan war kein Hund. Es sprach in Wörtern.
“Please”, sagte es, “please no”, und Britta begriff, daß es eine Frau war, die dort winselte. Dann die MĂ€nnerstimme, tief und drohend, und seltsam vertraut. Britta spĂŒrte, wie ihr Magen sich zusammenzog. Nebenan fiel polternd ein Stuhl um; um ein Haar hĂ€tte sie sich in die Hose gemacht.
“Was zum Henker”, brummte Frank, nur halb wach. Er wĂ€lzte sich auf die Seite und warf einen Blick auf den Wecker. Stöhnend ließ er sich zurĂŒcksinken. “Die haben sie ja wohl nicht mehr alle.”
Der Mann brĂŒllte etwas, das wie ein Befehl klang, aber eine andere MĂ€nnerstimme fiel ihm ins Wort, und erneut krachte Holz auf Linoleum. Die Frau schrie auf.
Britta kniff die Augen zu, als könnte sie das Geschehen im Nachbarzimmer so aussperren. Vor ihren Lidern tanzten rote Kreise. Die Frau schwieg jetzt, nur die beiden MĂ€nner tauschten SĂ€tze, die man nicht im Wortlaut verstehen mußte, um ihren Sinn zu erfassen. Schritte scharrten ĂŒber den Boden. Britta kam die Situation seltsam unwirklich vor, wie ein Fernsehspiel, das in einem verlassenen Raum unbeachtet blaues Licht an die WĂ€nde flackert, Ton ohne Bild; wenn da nicht die Stimme gewesen wĂ€re, die Stimme, die sie als “bitch” bezeichnet hatte, und der sie nichts entgegenzusetzen gehabt hatte außer einem kĂŒmmerlichen “hello?”.
Die Frau schrie wieder, ein spitzer, gellender Ton. Ruckartig schlug Frank die Decke zurĂŒck.
“Das war’s. Jetzt reicht es mir aber.” Er schwang die Beine aus dem Bett; zerknĂŒlltes Geschenkpapier raschelte unter seinen Sohlen. Britta klammerte sich an ihrer Decke fest.
“Frank”, sagte sie, “nicht -- bleib hier! Geh da nicht rĂŒber!”
Energisch stieß Frank den Fuß ins Hosenbein. Ein Reißverschluß ratschte. Britta hörte das leise Rascheln, mit dem er sich den Pulli ĂŒber den Kopf zog.
“Oder laß uns die Polizei rufen! Bitte! Du mußt doch nicht-” Die Hysterie in ihrer Stimme Ă€ngstigte sie.
“Die Polizei?” Frank lachte. “Weißt du die Nummer? Und was glaubst du, wie lange es dauert, bis die hier sind, bei dem Wetter?” Er nahm den ZimmerschlĂŒssel. “Wenn ĂŒberhaupt jemand da ist, in diesem Kaff. Um drei Uhr morgens. Zu Weihnachten.”
“*Frank!*”
Aber er war schon bei der TĂŒr. “Ich bin sofort zurĂŒck”, sagte er.
Ein Schwall Eisluft quoll in den Raum, als er die ZimmertĂŒr hinter sich zuzog. Britta rollte sich unter der Decke zusammen, den Kopf zwischen den Ellbogen. Sie konnte das Blut in ihren Ohren pulsieren hören. Die Frau war jetzt stumm, aber der eine Mann, nicht der von ihrem TelefongesprĂ€ch, schien einen ĂŒberraschten Laut auszustoßen; und dann die Explosion. Britta preßte die HandflĂ€chen auf die Ohren, daß es schmerzte.
Schlagartig war es still.
Britta zögerte, bevor sie die HĂ€nde vom Ohr nahm. Langsam kam sie unter der Decke hervor. Das Zimmer war eiskalt, vollkommen ausgekĂŒhlt; Rauhreif glitzerte an den Fensterscheiben. Britta erschauerte.
“Frank?”
Kein Laut. Der Raum nebenan hĂ€tte genausogut leer sein können. Britta streckte die Hand nach der Nachttischlampe aus. Der Schalter fĂŒhlte sich an wie aus Eis. Sie knipste ihn ein paarmal hin und her, aber nichts geschah.
Mit klappernden ZĂ€hnen, die Decke um sich gehĂŒllt, sammelte Britta ihre Kleider auf und begann sich anzuziehen. Ihre Jeans fĂŒhlte sich an, als hĂ€tte sie sie in den KĂŒhlschrank gehĂ€ngt. Ihre Schuhe waren starr und hart. Sie knotete ihre SchnĂŒrsenkel mit Fingern, die sie nicht mehr fĂŒhlen konnte. Nach kurzem Überlegen griff sie die Taschenlampe, die sie Frank geschenkt hatte, und drehte die Kurbel.
Die Decke unverĂ€ndert um die Schultern, trat Britta vor die TĂŒr. Sterne glitzerten in einem schwarzen, kristallklaren Himmel. Die Neonröhren ĂŒber dem Gang waren erloschen. Nirgendwo das leiseste GerĂ€usch. Das dumpfe Klacken ihrer Sohlen auf dem Betonboden kam ihr unverhĂ€ltnismĂ€ĂŸig laut vor. “Frank?” Sie flĂŒsterte fast.
Das Fenster des Nachbarzimmers war dunkel. Einen Moment stand sie unschlĂŒssig davor, die Unterlippe zwischen den ZĂ€hnen. Sie versuchte, einen Blick ins Innere zu werfen; vergebens. Der Raum war dunkler als der Nachthimmel ĂŒber ihr.
Einem bizarren Impuls folgend klopfte sie, obwohl sie wußte, daß das Zimmer leer war. Unter ihrer Hand schwang die TĂŒr mit leisem Widerwillen nach innen. “Hello?” hörte Britta sich sagen. Keine Antwort.
SpĂ€ter war sie dankbar, nicht eingetreten zu sein, bevor sie die Lampe anknipste. Der blasse, flackernde Strahl erhellte etwas, das aussah wie ein abstraktes GemĂ€lde. Rote Schlieren ĂŒberzogen die WĂ€nde des Raums, von der Fußleiste bis zur Decke, rannen in dĂŒnnen FĂ€den ĂŒber das Linoleum, dazwischen grobere Brocken von Gewebe, Haar, briefmarkengroße Fetzen von etwas Dunklem, bei dem es sich, wie sich hinterher herausstellen sollte, um Schuhleder handelte.
Die Lampe verlosch, als sie den Boden traf; ein Zeitpunkt, zu dem Britta sich bereits, das eigene Erbrochene dampfend auf der Brust ihres Mantels, durch den Schnee am Rand des Parkplatzes kÀmpfte.


Der Beamte ist sehr geduldig. Er wird nicht mĂŒde, ihr dieselben Fragen immer wieder zu stellen, vor allem die, wie sie in das AbbruchgebĂ€ude gelangt ist. HĂ€tte er sie 24 Stunden frĂŒher gefragt, wĂ€re die Antwort ihr leichtgefallen; jetzt, nachdem sie das Motel bei Tageslicht gesehen hat, das eingesunkene Dach, die leeren Fenster, den zersprungenen Zement, die offiziellen Fahrzeuge die einzigen Wagen auf dem Parkplatz, weiß sie es selbst nicht. Die Leuchtschrift, die sie einen Abend vorher angelockt hatte, gibt es nicht mehr. Der schneebeladene Baum vor dem OfficegebĂ€ude, an den sie sich erinnert, ist nicht mehr als ein Stumpf. Sie hat die Polizeibeamten aus Zimmer 18 kommen und kotzen sehen, die Techniker mit ihren Halogenlampen und GerĂ€ten, aber niemand kann ihr sagen, was passiert ist. Wo Frank steckt.
“Unser Auto”, erklĂ€rt sie zum zwanzigstenmal. Ihr Englisch ist nicht besser geworden; sie fĂŒhlt sich fahrig und verhuscht, fremd in ihrem eigenen Körper. “Ein Unfall. Wir haben das Licht gesehen... Der Mann an der Rezeption sagte, wir wĂ€ren nicht die einzigen, und gab uns ein Zimmer.”
Der Polizist wechselt einen Blick mit seinem Kollegen.
“Lady, das Drop-Inn steht seit zwanzig Jahren leer. Da *war* kein Mann an der Rezeption. Heck, da war keine *Rezeption*.”
Britta weint in ihren Kaffee. “Aber wir waren da!”
Der zweite Beamte geht vor ihr in die Hocke, wie vor einem verĂ€ngstigten Kind. “Vielleicht hat sich jemand... einen Scherz mit ihnen erlaubt”, meint er, nicht an Britta gewandt. Der andere Polizist zuckt die Achseln.
“In dem Schuppen? Wohl kaum. Kein Mensch geht freiwillig da hin.” Er pult sich in den ZĂ€hnen. “Schon gar nicht zu dieser Jahreszeit.”


Die Zeitungen stĂŒrzen sich mit Gusto auf die Geschichte des unglĂŒckseligen deutschen PĂ€rchens, das in einem Motel ĂŒbernachtet haben will, das es nicht mehr gibt. Bereits im April 1978 hat der Besitzer des Drop-Inn sich in einer Nacht- und Nebelaktion abgesetzt, bevor die GlĂ€ubiger ihn zu fassen bekommen konnten; das Motel war tief verschuldet, ohne nennenswerte Besucherzahlen seit den Weihnachtsmorden im Dezember davor -- ein KleinstadtmĂ€dchen mit ihrem verheirateten Liebhaber, untergetaucht, auf der Suche nach ein bißchen Romantik zum Fest der Liebe, bis unerwartet ihr Bruder in der TĂŒr steht, bewaffnet mit einer abgesĂ€gten Schrotflinte, einem beachtlichen Alkoholpegel und einem unerschĂŒtterlichen Glauben an die Familienehre.
Nichts davon erklĂ€rt das Verschwinden des Deutschen; und noch weniger, wie seine Überreste an die WĂ€nde des Todeszimmers gelangten, weniger zerstĂŒckelt als vielmehr versprĂŒht. Wie ein rohes Ei in einem Mixer, sinniert die Chicago Sun-Times.
Ein RĂ€tsel, nennen es die Zeitungen genĂŒĂŸlich, ein Mysterium. FĂŒr Britta ist es eine Weihnachtsgeschichte, die sie nicht gehen lĂ€ĂŸt. Schnee haßt sie; und wenn um den 24.12. herum nachts das Telefon geht, zieht sie den Stecker heraus und öffnet eine Flasche Wodka. Die Stimme am anderen Ende könnte schrecklich vertraut sein.
(c) Gudrun K. Nobelmann

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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