Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
Ihr war schnell klar, daĂ sie die Stadt nie hĂ€tten verlassen dĂŒrfen. Bis zu den AuĂenbezirken Chicagos war die I-55 problemlos befahrbar gewesen; in regelmĂ€Ăigen AbstĂ€nden ĂŒberholten sie RĂ€umfahrzeuge, die den Schnee auf den Standstreifen schoben, und obwohl der Asphalt sofort wieder weiĂ ĂŒberpuderte, hatte Britta sich nicht unbehaglich gefĂŒhlt. Dem Wetter zum Trotz fuhr Frank wieder schneller als alle anderen. Weshalb er sich genötigt sah, mit ihrem mickrigen Dodge Neon jede Familienkutsche zu ĂŒberholen, die sich an das Tempolimit hielt, begriff Britta zwar nicht, aber so war er halt -- immer auf dem Sprung.
Sie erinnerte sich, daĂ ihnen aus dem Fond eines Minivans zwei kleine Kinder zugewunken hatten, direkt bevor sie die Abfahrt nahmen; sie hatte zurĂŒckgewunken, wĂ€hrend Frank die Spur mit etwas mehr Elan wechselte, als dem Wagen auf der rutschigen Fahrbahn guttat. Der Neon schlingerte leicht, Frank fluchte, und Britta, zurĂŒckgeholt aus dem warm-weihnachtlichen GefĂŒhl, sah stumm aus dem Fenster. ErfahrungsgemÀà hatte es wenig Sinn, Frank nach dem Ziel zu fragen. Er war derjenige von ihnen mit den Ideen; alles, was von ihr erwartet wurde, war angemessene Begeisterung. Sie seufzte in ihren Schal.
Im Auto war es heiĂ, die Heizung arbeitete auf Hochtouren, und Britta in ihrer dicken Hose mit der Strumpfhose darunter hatte zu schwitzen begonnen, kaum daĂ sie fĂŒnf Minuten gefahren waren. Frank mochte es warm. Umso unverstĂ€ndlicher, daĂ er auf der Amerika-Reise bestanden hatte; sein Weihnachtsgeschenk an sie. Sagte er. Raus aus dem norddeutschen Grisselgrau, einmal richtigen Schnee erleben, richtige Weihnacht! Und wo feierte man Weihnachten gröĂer, bunter, verschneiter als in Nordamerika?
New York war ihm zu platt gewesen, jeder flog nach New York. Aber Chicago! Das war es! Und wollte sie wirklich wieder mit ihrer griesgrĂ€migen Familie um den Tannenbaum hocken und Frohsinn simulieren? Diese Frage, dachte Britta, hatte letztlich den Ausschlag gegeben. Ihr Bruder wĂŒrde mit seiner neuen Freundin kommen, ihre Ă€ltere Schwester mit Kindern und Mann. Alle bemĂŒht, fĂŒr die Feiertage so erfolgreich, so glĂŒcklich wie möglich zu wirken; und dazwischen ihre Eltern, seltsam grau und geschrumpft, mit unmiĂverstĂ€ndlicher, nie ausgesprochener EnttĂ€uschung im Gesicht, deren Grund ihr immer rĂ€tselhaft blieb.
Chicago also.
Sie war geschockt, wie kalt es war. Ihr Wintermantel kam ihr lachhaft vor, unzulĂ€nglich gegen den stĂ€ndigen Ansturm von Eisluft und Schnee. Sie hatte einen Gutteil ihres Einkaufsgeldes fĂŒr eine lange Daunenjacke, Handschuhe und SkimĂŒtze hingelegt, auch wenn Frank sich darĂŒber sehr erheiterte -- âUnterwegs zum Schneemannbauen? In dem Teil siehst du aus wie zwölf!â UngefĂ€hr das erstemal, daĂ er gelacht hatte, seit sie aus dem Flugzeug gestiegen waren. Das Hotel, das das ReisebĂŒro fĂŒr sie gebucht hatte, befand sich in einer unangenehmen Gegend; um zu den SehenswĂŒrdigkeiten zu kommen, muĂten sie sich der primitiven, fĂŒr Britta unĂŒberschaubaren StraĂenbahn anvertrauen, deren Gleise sich auf wenig vertrauenserweckenden Stelzen durch die Innenstadt zogen.
Nach drei Tagen hatte Frank genug von dem Zimmer, der Gegend, der Stadt selbst, und lieĂ sich von einem Kellner in der Pizzeria (âChicago ist berĂŒhmt fĂŒr seine Pizzen, Schatzâ) einen Geheimtip geben, ein StĂ€dtchen auf dem Land, perfekt fĂŒr Wintersport -- Langlauf, Schlittschuhlaufen, Rodeln in ĂŒberdimensionalen LKW-SchlĂ€uchen einen vereisten Hang hinunter. Er war Feuer und Flamme.
âDu wirst schon sehen, davon werden wir in zehn Jahren noch erzĂ€hlen! Urlaub wie die Einheimischen, was meinst du, wieviel EuropĂ€er sich wohl in so ein Nest verirren!â
Er schwelgte in der Vorstellung, der Exot zu sein, der Paradiesvogel, der Fremde, dem alle hinterhersahen und ĂŒber den sie mit einer Mischung aus Ehrfurcht und KopfschĂŒtteln sprachen. Britta sagte dazu wie ĂŒblich nichts. Es hĂ€tte keinen Sinn gehabt, Franks Seifenblase anstechen zu wollen. Er kaufte den Autoatlas, noch bevor sie einen Mietwagen organisiert hatten.
Der Neon war das einzige Fahrzeug, das das MĂ€dchen am Schalter ihnen anbieten konnte; eine hellgrĂŒne BlechbĂŒchse ohne Allradantrieb, ohne Schneeketten, ohne irgend etwas, mit dem man sich in amerikanisches Weihnachtswetter trauen konnte. Frank hatte das nicht gestört, âwir kommen doch aus Deutschland, da *lernt* man das Fahren wenigstens!â
Die Ausfahrt fĂŒhrte sie auf eine ĂberlandstraĂe, die das letztemal vor gut einer Stunde gerĂ€umt worden sein muĂte; Frank warf einen Blick auf die Karte, und mit jeder Abzweigung, die sie nahmen, wurden die StraĂen enger, die Schneewehen am Rand höher. Um sie herum erstreckte sich blĂŒtenweiĂe, glatte Ebene, dann und wann ein Haus, blinkende Weihnachtsbeleuchtung. Langsam wurde es dunkel. Frank hatte schon seit einer Weile nichts mehr gesagt. Etwas von dem Leuchten schien aus seinem Gesicht verschwunden zu sein.
Britta dachte an die eingewickelten Geschenke im Kofferraum, das schmale, lĂ€ngliche KĂ€stchen, das sie in seiner Reisetasche gesehen hatte. Heute war der 24. Sie hatten eine stille, intime Bescherung in ihrem rustikalen Pensionszimmer in den verschneiten Weiten von Illinois geplant, vielleicht mit brennendem Kaminfeuer, einem Tannenzweig, der als Christbaum herhielt, leise im Hintergrund Weihnachtsmusik aus dem Reiseradio. Angestrengt starrte sie nach vorn, versuchte sich einzureden, daĂ sie dort, gleich hinter der nĂ€chsten Biegung, Lichter gesehen hatte, die reflektierenden Buchstaben des Ortsschilds, weiĂ auf dunkelgrĂŒn; aber da war nur Schnee unter einem grauen Himmel, der sich zunehmend tiefer fĂ€rbte, kahle BĂ€ume, dann und wann ein Reh.
âWir sind bald daâ, sagte Frank unvermittelt und versuchte ein LĂ€cheln. Dann schoĂ direkt vor dem Wagen ein heller Schatten ĂŒber die Fahrbahn, Britta schrie auf, und Frank trat ins Pedal; der Neon ruckte kurz und drehte sich dann um die eigene Achse, die Welt drauĂen verschwamm zu einem weiĂdunklen Schemen. Im nĂ€chsten Moment traf die Schnauze des Wagens mit dumpfem GerĂ€usch auf etwas Hartes.
Britta kam nicht dazu, erneut zu schreien, als etwas Helles in ihr Gesicht explodierte. Die Welt hielt an. Der Strom heiĂer Luft aus dem LĂŒftungsgitter versiegte. Es war sehr still.
Brittas Herz hĂ€mmerte. Franks Hand legte sich auf ihren Arm. âAlles in Ordnung?â Auf ihrem SchoĂ schlaff die Ăberreste des Airbags.
Britta wollte nicken. Statt dessen fing sie an zu schluchzen. Frank löste seinen Gurt und zog sie an sich, ihr Kopf an seiner Brust. âEs ist alles gutâ, sagte er halblaut. âAlles ist gut.â Lautlos rieselten feine weiĂe Flocken auf die Windschutzscheibe.
Das Auto kĂŒhlte schnell aus; hier konnten sie nicht bleiben. Frank bot an, sich allein auf den Weg zu machen, wĂ€hrend sie sich mit ihrer Daunenjacke auf dem RĂŒcksitz zusammenrollte, aber davon wollte Britta nichts hören. âEs war eine Katzeâ, beharrte sie. âWo eine Katze ist, sind auch HĂ€user.â
Sie hatte recht. Vielleicht einen Kilometer weiter, hinter einem kĂŒmmerlichen WaldstĂŒck, lag eine Stadt, oder zumindest eine Ansammlung von HĂ€usern. Die meisten Fenster waren dunkel, nur die Weihnachtsdekorationen auf dem schneeĂŒberzogenen Rasen blinkten manisch. Eine geschlossene Tankstelle, ein Burgerschuppen mit vernagelten Fenstern, dann, fast ein Weihnachtswunder, ein langgezogener GebĂ€udetrakt, dessen Leuchtreklame freie Zimmer versprach -- eins der abgewrackten, pittoresken, uramerikanischen kleinen Familienmotels, wie Britta sie aus unzĂ€hligen Filmen kannte.
The Drop-Inn stand in schiefen, weiĂ bemĂŒtzten Plastikleuchtbuchstaben auf dem Dach; daneben ein kĂŒnstlicher Tannenbaum. Zweistöckig, in Hufeisenform um den Parkplatz angelegt, verstrahlte das Motel den leicht maroden Charme der End-Sechziger. Es fehlten nur die langgestreckten StraĂenkreuzer. Britta schmiegte sich an Franks Schulter. Vielleicht war der Heiligabend doch nicht rettungslos verloren.
âIch besorg uns ein Zimmerâ, meinte Frank nicht unvergnĂŒgt. Er lachte. âDann können wir auch gleich fragen, wo zum Teufel wir sind.â
Sie gingen auf das SeitengebĂ€ude zu, neben dessen TĂŒr ein Schild mit der Aufschrift âOfficeâ angebracht war; kein Weihnachtsschmuck hier, dafĂŒr brannte Licht, und im Fenster hing ein Pappschild, auf das jemand sĂ€uberlich âvacancyâ geschrieben hatte. Britta nahm an, daĂ fĂŒr den Fall der FĂ€lle auf der RĂŒckseite âno vacancyâ stand. Optimismus nannte man das wohl.
Das Scheppern der TĂŒrglocke lockte einen Ă€lteren Mann aus dem Hinterzimmer. Sein Gesicht hellte sich auf, als er sie sah.
âHi folksâ, polterte er und grinste. âNeed a room?â
Wie ĂŒblich hĂŒstelte Frank erst wieder zwanghaft herum, bevor er die ZĂ€hne auseinanderbekam. âYes please. My wife and I have had an accident. Our car is...â Er suchte nach Worten. âItâs broken. Itâs somewhere back there...â Er gestikulierte vage. Der Mann lachte gutmĂŒtig.
âSchon in Ordnung, das kommt schon nicht weg. Jedenfalls nicht bei diesem Wetter. You guys okay?â
âYesâ, sagte Frank zaghaft. Der Mann schob ein Formularbuch ĂŒber die Theke und deutete auf die Spalte, die Frank auszufĂŒllen hatte; dann nahm er einen SchlĂŒssel mit rotem PlastikanhĂ€nger von dem Brett hinter ihm. Unterdessen versuchte Frank, Konversation zu machen.
âWir sind in den Flitterwochenâ, erzĂ€hlte er; aus seinem Mund klang das Wort wie âHannimuhnâ. Es hörte sich fast entschuldigend an. Der Mann grinste wieder und zwinkerte Britta zu, die prompt rot anlief.
âThat so?â Das Grinsen wurde wenn möglich noch breiter. âGreat. Dann stört euch der LĂ€rm ja nicht.â
Frank sah von seinem Formular auf. âDer LĂ€rm?â
Der Motelbesitzer warf ihm den SchlĂŒssel hin. âIhr seid nicht die einzigen.â Er nahm das Buch und klappte es zu, ohne einen Blick hineingeworfen zu haben. âNice romantic hideaway, this is.â
Sein Blick wanderte wieder zu Britta. âNumber 17. To your left. Enjoy your stay. Oh, and happy holidays.â
âWas fĂŒr ein ekelhafter Kerlâ, zischte Britta, als sie durch den kniehohen Schnee stapften. Zimmer 17 lag im ErdgeschoĂ; auf dem Parkplatz vor ihrer TĂŒr stand ein rostiger dunkler Wagen, und die VorhĂ€nge des benachbarten Raums waren zugezogen. Frank wirkte ernĂŒchtert. âHĂ€tte der uns nicht wenigstens ein Zimmer ohne Nachbarn geben können? Die Bude ist doch wohl kaum ausgebucht.â
âVielleicht ist es wegen der Heizungâ, spekulierte Britta. âWenn beide Seiten heizen, verteilt sich die WĂ€rme gleichmĂ€Ăiger. Sonst hast du rechts und links nur kalte WĂ€nde.â
Frank sah unbeeindruckt aus, obwohl niemand eine funktionierende Heizung mehr schĂ€tzte als er. Im Innern ihres Zimmers war es eisig (âMachen die sich hier keine Gedanken um ihre Leitungen?â murmelte Frank und drehte das altertĂŒmliche Thermostat auf); der Raum war gröĂer, als Britta erwartet hatte, kahl und sauber. Ein Doppelbett, vor dem Fenster Tisch und Stuhl, an der RĂŒckseite des Raums die TĂŒr zum Bad. Kein Kamin; nicht einmal ein Fernseher. Britta konnte ein GefĂŒhl der EnttĂ€uschung nicht unterdrĂŒcken. Das Zimmer war etwa so romantisch wie eine Wartehalle. Sie setzte sich aufs Bett, das quietschend unter ihr nachgab. Von der Tagesdecke stieg ein muffiger Geruch auf. Frank, unverĂ€ndert bei der Heizung, rieb sich die HĂ€nde.
âIch hol dann erstmal unser GepĂ€ckâ, meinte er zögernd, als hoffe er, daĂ Britta ihm die Aufgabe abnehmen wĂŒrde.
âWieso hast du dem Mann erzĂ€hlt, wir wĂ€ren auf Hochzeitsreise?â
âOh, das...â Er grinste und zuckte die Achseln. âMacht es ein biĂchen romantischer. AuĂerdem bekommt man auf die Art die besten Zimmer.â Britta sah sich stumm um. âUnd ĂŒberhauptâ, fĂŒgte Frank verteidigend hinzu, âdie Leute in diesen KĂ€ffern sind so altmodisch, soll ich denen vielleicht die *Wahrheit* sagen?â
Feuchtkalte Winterluft wehte herein, als er die TĂŒr hinter sich zuzog. Britta streckte sich auf dem Bett aus und schloĂ die Augen. Durch die dĂŒnne Wand drangen GerĂ€usche aus dem Nachbarzimmer, Stimmen; jemand lachte, konnte gar nicht aufhören. Britta fĂŒhlte sich mĂŒde.
Fröhliche Weihnachten, dachte sie.
Etwas spĂ€ter schreckte Britta aus dem Schlaf, unverheult; neben ihr hob Frank schlaftrunken den Kopf vom Kissen, das Haar an seinem Hinterkopf gerade wie ein Ausrufezeichen. Durch die dĂŒnne Wand die Stimmen von vorher, aber kein Lachen diesmal, und auch die Bettfedern blieben stumm; Britta wuĂte nicht, was sie geweckt hatte, bis sie den Laut hörte -- das dĂŒnne, hohe Winseln, wie ein Hund, der Angst hat.
Aber das nebenan war kein Hund. Es sprach in Wörtern.
âPleaseâ, sagte es, âplease noâ, und Britta begriff, daĂ es eine Frau war, die dort winselte. Dann die MĂ€nnerstimme, tief und drohend, und seltsam vertraut. Britta spĂŒrte, wie ihr Magen sich zusammenzog. Nebenan fiel polternd ein Stuhl um; um ein Haar hĂ€tte sie sich in die Hose gemacht.
âWas zum Henkerâ, brummte Frank, nur halb wach. Er wĂ€lzte sich auf die Seite und warf einen Blick auf den Wecker. Stöhnend lieĂ er sich zurĂŒcksinken. âDie haben sie ja wohl nicht mehr alle.â
Der Mann brĂŒllte etwas, das wie ein Befehl klang, aber eine andere MĂ€nnerstimme fiel ihm ins Wort, und erneut krachte Holz auf Linoleum. Die Frau schrie auf.
Britta kniff die Augen zu, als könnte sie das Geschehen im Nachbarzimmer so aussperren. Vor ihren Lidern tanzten rote Kreise. Die Frau schwieg jetzt, nur die beiden MĂ€nner tauschten SĂ€tze, die man nicht im Wortlaut verstehen muĂte, um ihren Sinn zu erfassen. Schritte scharrten ĂŒber den Boden. Britta kam die Situation seltsam unwirklich vor, wie ein Fernsehspiel, das in einem verlassenen Raum unbeachtet blaues Licht an die WĂ€nde flackert, Ton ohne Bild; wenn da nicht die Stimme gewesen wĂ€re, die Stimme, die sie als âbitchâ bezeichnet hatte, und der sie nichts entgegenzusetzen gehabt hatte auĂer einem kĂŒmmerlichen âhello?â.
Die Frau schrie wieder, ein spitzer, gellender Ton. Ruckartig schlug Frank die Decke zurĂŒck.
âDas warâs. Jetzt reicht es mir aber.â Er schwang die Beine aus dem Bett; zerknĂŒlltes Geschenkpapier raschelte unter seinen Sohlen. Britta klammerte sich an ihrer Decke fest.
âFrankâ, sagte sie, ânicht -- bleib hier! Geh da nicht rĂŒber!â
Energisch stieĂ Frank den FuĂ ins Hosenbein. Ein ReiĂverschluĂ ratschte. Britta hörte das leise Rascheln, mit dem er sich den Pulli ĂŒber den Kopf zog.
âOder laĂ uns die Polizei rufen! Bitte! Du muĂt doch nicht-â Die Hysterie in ihrer Stimme Ă€ngstigte sie.
âDie Polizei?â Frank lachte. âWeiĂt du die Nummer? Und was glaubst du, wie lange es dauert, bis die hier sind, bei dem Wetter?â Er nahm den ZimmerschlĂŒssel. âWenn ĂŒberhaupt jemand da ist, in diesem Kaff. Um drei Uhr morgens. Zu Weihnachten.â
â*Frank!*â
Aber er war schon bei der TĂŒr. âIch bin sofort zurĂŒckâ, sagte er.
Ein Schwall Eisluft quoll in den Raum, als er die ZimmertĂŒr hinter sich zuzog. Britta rollte sich unter der Decke zusammen, den Kopf zwischen den Ellbogen. Sie konnte das Blut in ihren Ohren pulsieren hören. Die Frau war jetzt stumm, aber der eine Mann, nicht der von ihrem TelefongesprĂ€ch, schien einen ĂŒberraschten Laut auszustoĂen; und dann die Explosion. Britta preĂte die HandflĂ€chen auf die Ohren, daĂ es schmerzte.
Schlagartig war es still.
Britta zögerte, bevor sie die HĂ€nde vom Ohr nahm. Langsam kam sie unter der Decke hervor. Das Zimmer war eiskalt, vollkommen ausgekĂŒhlt; Rauhreif glitzerte an den Fensterscheiben. Britta erschauerte.
âFrank?â
Kein Laut. Der Raum nebenan hĂ€tte genausogut leer sein können. Britta streckte die Hand nach der Nachttischlampe aus. Der Schalter fĂŒhlte sich an wie aus Eis. Sie knipste ihn ein paarmal hin und her, aber nichts geschah.
Mit klappernden ZĂ€hnen, die Decke um sich gehĂŒllt, sammelte Britta ihre Kleider auf und begann sich anzuziehen. Ihre Jeans fĂŒhlte sich an, als hĂ€tte sie sie in den KĂŒhlschrank gehĂ€ngt. Ihre Schuhe waren starr und hart. Sie knotete ihre SchnĂŒrsenkel mit Fingern, die sie nicht mehr fĂŒhlen konnte. Nach kurzem Ăberlegen griff sie die Taschenlampe, die sie Frank geschenkt hatte, und drehte die Kurbel.
Die Decke unverĂ€ndert um die Schultern, trat Britta vor die TĂŒr. Sterne glitzerten in einem schwarzen, kristallklaren Himmel. Die Neonröhren ĂŒber dem Gang waren erloschen. Nirgendwo das leiseste GerĂ€usch. Das dumpfe Klacken ihrer Sohlen auf dem Betonboden kam ihr unverhĂ€ltnismĂ€Ăig laut vor. âFrank?â Sie flĂŒsterte fast.
Das Fenster des Nachbarzimmers war dunkel. Einen Moment stand sie unschlĂŒssig davor, die Unterlippe zwischen den ZĂ€hnen. Sie versuchte, einen Blick ins Innere zu werfen; vergebens. Der Raum war dunkler als der Nachthimmel ĂŒber ihr.
Einem bizarren Impuls folgend klopfte sie, obwohl sie wuĂte, daĂ das Zimmer leer war. Unter ihrer Hand schwang die TĂŒr mit leisem Widerwillen nach innen. âHello?â hörte Britta sich sagen. Keine Antwort.
SpĂ€ter war sie dankbar, nicht eingetreten zu sein, bevor sie die Lampe anknipste. Der blasse, flackernde Strahl erhellte etwas, das aussah wie ein abstraktes GemĂ€lde. Rote Schlieren ĂŒberzogen die WĂ€nde des Raums, von der FuĂleiste bis zur Decke, rannen in dĂŒnnen FĂ€den ĂŒber das Linoleum, dazwischen grobere Brocken von Gewebe, Haar, briefmarkengroĂe Fetzen von etwas Dunklem, bei dem es sich, wie sich hinterher herausstellen sollte, um Schuhleder handelte.
Die Lampe verlosch, als sie den Boden traf; ein Zeitpunkt, zu dem Britta sich bereits, das eigene Erbrochene dampfend auf der Brust ihres Mantels, durch den Schnee am Rand des Parkplatzes kÀmpfte.
Der Beamte ist sehr geduldig. Er wird nicht mĂŒde, ihr dieselben Fragen immer wieder zu stellen, vor allem die, wie sie in das AbbruchgebĂ€ude gelangt ist. HĂ€tte er sie 24 Stunden frĂŒher gefragt, wĂ€re die Antwort ihr leichtgefallen; jetzt, nachdem sie das Motel bei Tageslicht gesehen hat, das eingesunkene Dach, die leeren Fenster, den zersprungenen Zement, die offiziellen Fahrzeuge die einzigen Wagen auf dem Parkplatz, weiĂ sie es selbst nicht. Die Leuchtschrift, die sie einen Abend vorher angelockt hatte, gibt es nicht mehr. Der schneebeladene Baum vor dem OfficegebĂ€ude, an den sie sich erinnert, ist nicht mehr als ein Stumpf. Sie hat die Polizeibeamten aus Zimmer 18 kommen und kotzen sehen, die Techniker mit ihren Halogenlampen und GerĂ€ten, aber niemand kann ihr sagen, was passiert ist. Wo Frank steckt.
âUnser Autoâ, erklĂ€rt sie zum zwanzigstenmal. Ihr Englisch ist nicht besser geworden; sie fĂŒhlt sich fahrig und verhuscht, fremd in ihrem eigenen Körper. âEin Unfall. Wir haben das Licht gesehen... Der Mann an der Rezeption sagte, wir wĂ€ren nicht die einzigen, und gab uns ein Zimmer.â
Der Polizist wechselt einen Blick mit seinem Kollegen.
âLady, das Drop-Inn steht seit zwanzig Jahren leer. Da *war* kein Mann an der Rezeption. Heck, da war keine *Rezeption*.â
Britta weint in ihren Kaffee. âAber wir waren da!â
Der zweite Beamte geht vor ihr in die Hocke, wie vor einem verĂ€ngstigten Kind. âVielleicht hat sich jemand... einen Scherz mit ihnen erlaubtâ, meint er, nicht an Britta gewandt. Der andere Polizist zuckt die Achseln.
âIn dem Schuppen? Wohl kaum. Kein Mensch geht freiwillig da hin.â Er pult sich in den ZĂ€hnen. âSchon gar nicht zu dieser Jahreszeit.â
Die Zeitungen stĂŒrzen sich mit Gusto auf die Geschichte des unglĂŒckseligen deutschen PĂ€rchens, das in einem Motel ĂŒbernachtet haben will, das es nicht mehr gibt. Bereits im April 1978 hat der Besitzer des Drop-Inn sich in einer Nacht- und Nebelaktion abgesetzt, bevor die GlĂ€ubiger ihn zu fassen bekommen konnten; das Motel war tief verschuldet, ohne nennenswerte Besucherzahlen seit den Weihnachtsmorden im Dezember davor -- ein KleinstadtmĂ€dchen mit ihrem verheirateten Liebhaber, untergetaucht, auf der Suche nach ein biĂchen Romantik zum Fest der Liebe, bis unerwartet ihr Bruder in der TĂŒr steht, bewaffnet mit einer abgesĂ€gten Schrotflinte, einem beachtlichen Alkoholpegel und einem unerschĂŒtterlichen Glauben an die Familienehre.
Nichts davon erklĂ€rt das Verschwinden des Deutschen; und noch weniger, wie seine Ăberreste an die WĂ€nde des Todeszimmers gelangten, weniger zerstĂŒckelt als vielmehr versprĂŒht. Wie ein rohes Ei in einem Mixer, sinniert die Chicago Sun-Times.
Ein RĂ€tsel, nennen es die Zeitungen genĂŒĂlich, ein Mysterium. FĂŒr Britta ist es eine Weihnachtsgeschichte, die sie nicht gehen lĂ€Ăt. Schnee haĂt sie; und wenn um den 24.12. herum nachts das Telefon geht, zieht sie den Stecker heraus und öffnet eine Flasche Wodka. Die Stimme am anderen Ende könnte schrecklich vertraut sein.
(c) Gudrun K. Nobelmann
Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr Dieser Text enthält 32257 Zeichen.