Sandra suchte sich weiter ihren Weg durch das Labyrinth von Kammern. Langsam nahmen auch die Geräusche an Intensität zu. Doch irgend etwas war anders. Die Schritte klangen sehr viel hektischer, so als wäre dort eine wilde Verfolgungsjagd in Gang. Hatte Sandra zuvor nur eine leichte Unsicherheit befallen, so kroch nun langsam die Angst an ihr hoch. Vielleicht war das alles ja doch kein geschmackloser Scherz. Was wäre, wenn in diesem Kubus wirklich Menschen gejagt und getötet wurden? Sandra mochte gar nicht daran denken. Erste Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn.
Nein, dachte sie immer wieder. Sie würde sich nicht den Gegebenheiten dieses Spieles unterwerfen. Sie würde nicht in Panik verfallen. Sie rang mit sich, um nicht ihre Fassung zu verlieren. Immer wieder redete sie sich ein, daß es für eine solche Jagd, wenn es denn eine war, überhaupt keine rationale Begründung gab. Schmerzlich mußte sie feststellen, daß ihre Versuche der Selbstillusionierung immer weniger Früchte trugen, denn mittlerweile blieb die Angst bestehen.
Dem Staccato der Schritte nach zu urteilen, waren die anderen ganz in der Nähe. Während die junge Frau noch überlegte, welchen Weg sie als nächstes einschlagen sollte, wurde mit einem mal hinter ihr die Tür aufgerissen.
Sandra wirbelte herum. Ein spitzer Schrei entfuhr ihr, als sie eine bullige Gestalt langsam auf sich zukommen sah. Während diese Silhouette, wie ein Angetrunkener, weiter auf die junge Frau zu wankte, gab der Unbekannte zahlreiche gurgelnde und zischende Laute von sich. Verdammt! In diesem Halbdunkel ließen sich kaum Einzelheiten erkennen.
Sandras Beine waren eigentlich schon auf der Flucht. Zumindest fühlte es sich so an. Allein ihr Wille hinderte die junge Frau daran, ihr Heil in der Weite zu suchen.
Offensichtlich trug die Gestalt den gleichen Overall, wie sie. Entweder war es ein Gefangener, genau wie sie, oder es war der Jäger. Wenn sie jetzt wegrannte, würde sie es nie erfahren. So schwer es ihr auch viel, sie würde bis zum letzten Moment warten, ehe sie sich davon machte. Sie war sich sicher, daß sie den Fremden problemlos abhängen könnte, wenn es darauf an käme. Doch plötzlich blieb die Gestalt stehen und brach schließlich vor ihren Augen zusammen.
Ohne nachzudenken stürzte Sandra zu dem Unbekannten hinüber, um ihm zu helfen und fast augenblicklich wurde ihr übel.
Der Mann, der vor ihr lag, war über und über mit Blut bedeckt. Es quoll aus einer tiefen Wunde am Hals hervor und hatte seinen Anzug schon vollkommen durchtränkt. Immer noch hielt er eine Hand auf die Wunde gepreßt, um dem Schwall Einhalt zu gebieten. Angsterfüllt blickte er Sandra an, so als wolle er sagen: „Hilf mir, ich will nicht sterben!“
Tränen rannen ihr übers Gesicht, als der am Boden liegende einen letzten, gurgelnden Atemzug tat, sich noch ein mal aufbäumte, um zu erschlaffen.
Eine ganze Zeit lang blickte die junge Frau in die leblosen Augen des Mannes, bevor sie sich zur Seite drehte und übergab.
Es brauchte eine Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatte und einen klaren Gedanken fassen konnte. Es war also alles wahr. Kein dummes Spiel, kein schlechter Scherz, sondern tödliche Realität. Es gab da oben tatsächlich einen Irren, der einen anderen Irren losgeschickt hatte, um Menschen zu jagen und zu ermorden. Doch wie sollte sie den Killer erkennen, wenn sie ihm begegnete. Wahrscheinlich war es am besten, das Weite zu suchen, sobald jemand ihren Weg kreuzte.
Erneut wurde eine Tür aufgerissen. Das Scheppern selbiger kam Sandra wie ein Fanfarenstoß vor.
In der Tür stand wieder eine kräftige, männlich wirkende Silhouette, die einen langen Gegenstand in der Hand hielt.
Da war er, der Jäger! Er war gekommen, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Genau so, wie er es bei dem Mann getan hatte, der nun mit leblosen Augen vor ihr lag.
Sandra schrie; sie schrie aus Leibeskräften. Dieser Irre hatte auch noch eine Waffe. Sie wirbelte herum. Ihre Augen suchten fieberhaft nach dem nächsten Ausgang. Ihr Handeln war nur von einem einzigen Gedanken geprägt: „Nur weg hier!“
Im nächsten Raum kauerte eine zierliche Person. Als sie aufsah, bemerkte Sandra das die kauernde Frau aus einer Wunde am Kopf blutete.
»Lauf!« Bellte Sandra ihr entgegen. »Er wird gleich hier sein!«
Doch die junge Frau machte keinerlei Anstalten, die Flucht zu ergreifen. Vielleicht noch zu benommen, um an Flucht zu denken, erhob sich die Frau schwerfällig.
Sandra stürzte kurzentschlossen heran und griff der Fremden unter die Arme. Schon konnte sie die Schritte ihres Verfolger hören.
Doch plötzlich sah Sandra, aus dem Augenwinkel heraus, etwas aufblitzen. Instinktiv machte sie einen Satz zurück und sah gerade noch, wie die blitzende Klinge eines mörderischen Messers auf sie zuraste; dann kam der Schmerz!
Sandra fiel und schlug hart auf den stählernen Boden. Der Aufprall raubte ihr den Atem und Sterne tanzten vor ihrem geistigen Auge.
Verschwommen sah sie die fremde Frau näher kommen, die jetzt ein großes Messer in der rechten Hand hielt und Sandra mit eiskaltem Blick musterte.
Aus, jetzt war es vorbei. Diese Geisteskranke würde sie wie einen Truthahn tranchieren.
Die Killerin hob gerade das Messer, als sie kurz zusammenzuckte. Sie verdrehte die Augen etwas, bevor sie förmlich in sich zusammen fiel.
Erst jetzt sah Sandra den Typen, vor dem sie eigentlich geflohen war. Er hielt ein Stahlrohr in der Hand, das offensichtlich von einer der Leitern stammte. Er holte erneut aus und ließ das wuchtige Rohr niedersausen. Sandra schrie erneut, als das schwere Metall den Schädel der zierlichen Frau wie eine Eierschale aufplatzen ließ. Triumphierend sah er auf das leblose Bündel hinab.
»Du schlitzt niemanden mehr auf!« Er spie die Worte förmlich aus. Danach warf er das Metallrohr über die Schulter und reichte Sandra die Hand. »Alles in Ordnung?«
Jetzt dämmerte ihr langsam, daß sie diesem Mann ihr Leben zu verdanken hatte. Doch noch bevor sie Worte des Dankes herausbringen konnte, verlor sie das Bewußtsein.
Als Sandra die Augen wieder öffnete, war es taghell. Sie sprang förmlich auf, Doch sie war nicht mehr in diesem dunklen, metallenen Raum. Sie hatte auch nicht mehr diesen schlecht sitzenden Overall an. Statt dessen lag sie in ihrem Bett. Das war ihre Bettwäsche, ihr Zimmer; nebenan konnte sie sogar hören, wie ihre Mitbewohnerin den Frühstückstisch deckte. Alles war wie immer. Nur ein Traum, dachte Sandra und seufzte erleichtert.
Sie stand auf und watschelte, immer noch etwas benommen, in die Küche. Elke, ihre Mitbewohnerin, grinste sie verschmitzt an. »Na, eine wilde Nacht gehabt?«
»Gute Frage,« Sandra fuhr sich durch die Haare, »Ich kann mich beim Besten Willen an nichts mehr erinnern. Ich weiß nur, daß ich einen höllischen Alptraum gehabt habe.« Elke musterte sie erstaunt. »Du müßtest dich doch zumindest daran erinnern, was dafür verantwortlich war.« sie zeigte auf den rechten Oberarm ihrer Mitbewohnerin.
Ungläubig sah Sandra an sich herab. Sie trug ein ärmelloses Top, das den Blick auf eine häßliche Wunde freigab, die wie eine diagonaler Schnitt, quer über ihren Oberarm reichte.
(c) Olaf Deutz
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