Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Juni 2002
Mind Attack
von Gudrun Gülden


Die Gören vor dem Kiosk drückten sich die Nase platt und quetschten ihre dreckigen Pfoten an die Scheiben, hinter denen große Klarsichtdosen mit Süßkram standen. Der Auswahlprozess zog sich zäh wie Zuckersirup in die Länge und Detlev wusste, es würde noch einige „Ähs“ und „Mhms“ dauern, bis er das Taschengeld der Kleinen einkassieren könnte. Aus Angst, das Falsche zu wählen, kippten die Kleinen ihre Entscheidung immer wieder über den Haufen, bis sie sich schließlich für ein paar Cent Zuckerkram kauften. Detlev hatte sich angewöhnt, während den Bestellungen an etwas anderes zu denken. Seine Außenhülle existierte praktisch unabhängig von seinem Inneren. Er wusste, wann er genauer hinhören musste, wann es Zeit war, eine Geldsumme zu murmeln oder irgendeine Bestellung über die Zeitungsauslage zu schieben. Sein Blick hing trübe in den Augen seiner Kunden, die nicht ahnten, dass sein Nicken mechanisch war wie das eines Wackeldackels. Während er kurz darauf Brausebonbons und Weingummischlangen in kleine Tütchen packte, überlegte er, welches Bier er für den Feierabend aus dem Laden mitgehen lassen würde. Angenehm durchströmte ihn der Gedanke, dass er sich später noch ausführlicher mit der Gestaltung dieses Abends beschäftigen könnte.
Er sah zu seiner Wohnung in dem Haus gegenüber hoch. Etwas beunruhigte ihn beim Anblick der Fensterfront, er kam aber nicht drauf, was es war. Die WG-Kumpel waren heute morgen überraschend verreist und er würde diesen Abend alleine in der Wohnung sein, vielleicht war es das. Er hegte für Eddie und Charly ungefähr soviel Sympathie wie für Kopfläuse und er drückte sich vor Begegnungen mit ihnen, aber wenn sie weg waren, ängstigte ihn die Leere der Wohnung. Vor dem Büdchen standen nun mehrere Leute. Er verdrängte das dumpfe Gefühl und kehrte zurück in seine Kiosk-Welt. Schnell hatte er die Kunden bedient, bis auf einen. Hatte er ihn schon einmal gesehen? Ein kleiner Mann, dessen Alter er nicht bestimmen konnte, mit Hut und starker Brille. Das Glas vergrößerte die weit geöffneten Augen, so dass sie nicht in sein Gesicht zu gehören schienen. Er schaute Detlev streng an. Auf einmal fiel Detlev ein, warum er vorhin ein beklemmendes Gefühl bekommen hatte. Sein Schlafzimmerfenster stand auf. Er öffnete nie die Fenster. Wieso war das Fenster auf? Den einzigen Schlüssel für sein Zimmer hing an seinem Hosenbund und er achtete peinlich darauf, dass die Tür während seiner Abwesenheit verschlossen war.
Der Mann zeigte auf eine Rolle Pfefferminz und legt den passenden Geldbetrag hin.
Detlevs Magen zog sich zusammen. Er hielt die gewölbte Hand vor den Mund und kontrollierte seinen Atem, denn er litt unter schrecklichem Mundgeruch, als hätte er verfaulte Krähen gegessen, besonders wenn er gestresst war. Was meistens der Fall war. Ihn ängstigten viele Situationen des täglichen Lebens. Traf er Leute im Treppenhaus, so fürchtete er indiskrete Fragen von ihnen, mied Augenkontakte und grüßte nie. Beim Einkauf geriet er stets in solch eine Verwirrung, dass er nach einer Weile aus Verlegenheit um sich griff und die merkwürdigsten Dinge nach Hause brachte. Beim Betrachten der gefüllten Regale vergaß er seine Wünsche und mutierte zu einer leeren Hülle, kaufte Schuhcreme statt Käse, Möbelpolitur statt Milch. Er fuhr weder Straßenbahn, U-Bahn noch mit den Lift in die fünfte Etage, in der sich die Wohnung befand. Am meisten fürchtete er, die Nähe seiner Wohn- und Arbeitsstätte zu verlassen. Er fragte sich, wo das enden sollte. Wahrscheinlich damit, dass er im Bett verhungerte. Sein Leben war eine einzige Fortsetzung von Einschränkungen. Was, wenn er seine Arbeit verlöre. Er dachte mit Grauen an die Strecke bis zum Arbeitsamt. Aus panischer Angst, rausgeschmissen zu werden, hängte er sein Herz nicht so sehr an den Job und war der festen Überzeugung, dass eine leichte Nachlässigkeit bei der Verrichtung seiner Pflichten unauffälliger war als übertriebener Ehrgeiz.
Es fiel ihm schwer, im Kiosk zu bleiben. Gedanken an das geöffnete Fenster schwirrten in seinem Kopf herum. Was, wenn seine Wohngenossen zu einer geheimen Sekte gehörten, die ihn als Mitglied wollten und ihm jetzt Böses antun würden? Vielleicht hatten sie den Wohnungsschlüssel an nicht vertrauensvolle Personen weitergegeben. Was, wenn sie auch nur im Auftrag handelten? Es war schon merkwürdig, wie sie damals zusammengekommen waren. Sie wussten zu viele Details aus seinem Leben. Sie wussten von den schrecklichen Dingen, die Detlev angetan wurden. Es passte alles zu gut zusammen. Wo waren sie jetzt? Warum waren sie zusammen weggefahren? Eine Stimme flüsterte ihm zu: „Es ist nicht gut in deine Wohnung zu gehen. Dort wird Schreckliches passieren.“
Feierabend. Es dämmerte bereits und man spürte die erste Herbstfrische in der Abendluft. Detlev bewegte sich wie in Trance. Die Straße überquerte er immer an der Ampel. Der Hauseingang lag dunkel und schmutzig vor ihm, wie das Tor zu einer finsteren Welt. An die Hauswand hatte jemand gesprüht: „Du kriegst Krebs“. Die Lampen im Hausflur funktionierten nicht. Detlev stolperte über eine hervorragende Metallkante einer Stufe und fiel vornüber. Ihn plagte weniger der Schmerz als die Verzweiflung über sein Pech. Wieder kamen ihm Gedanken, die nicht seine eigenen zu sein schienen: „Das ist jetzt nur der Anfang. Warte nur, bis du in der Wohnung bist. Niemand kann Dir dort helfen, niemand wird dich hören.“ Ihm fiel ein, dass er vergessen hatte, Bier aus dem Kiosk mitzunehmen. Doch zurückgehen mochte er jetzt auch nicht mehr, außerdem war die Abendschicht schon da und er konnte ja schlecht vor Zeugen Bier klauen.
Er sperrte die Wohnungstür mit einem mulmigen Gefühl auf. Sollte er die Tür von innen verschließen? Dann wäre sein Fluchtweg blockiert, falls ihm jemand in der Wohnung auflauerte. Er zog die Tür sorgfältig ins Schloss und entschied, zunächst in die Küche zu gehen. Er ging durch den langen Flur, entlang an den Zimmern von Eddie und Charly. Er versuchte die Türen zu öffnen, aber sie waren abgeschlossen. Er blieb stehen, hielt den Atem an und machte kein Geräusch. Stille. Langsam ging er weiter, rechts von ihm lag der Gemeinschaftsraum, ein schmuddeliger Raum mit alten Matratzen, leeren Bierdosen und Kippen auf dem Boden. Detlev hasste diesen Raum. Er schaute vorsichtig um die Ecke. Die Vorhänge waren zugezogen und es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Es roch modrig, zudem strahlte der Raum eine unnatürliche Wärme aus. Ihm war auf einmal, als sei er zum ersten Mal in dieser Wohnung. Er wusste nicht mehr, was er hier wollte und fürchtete, sein Gedächtnis zu verlieren. Er wich von dem Raum zurück und ging weiter Richtung Küche. „Ruhig Blut“, beruhigte er sich, „nicht aufregen, es ist alles gut.“
In der Küche blendeten ihn die hellen Möbeloberflächen. Auf dem Boden schimmerte eine kleine Wasserlache. Die Flüssigkeit wirkte unheilvoll, Detlev grübelte über ihre Herkunft. Er fühlte sich außer Stande etwas zu essen. Bleiern hingen seine Arme herunter, es war ihm unmöglich, den Kühlschrank zu öffnen. Wahrscheinlich war er eh leer.
Es blieb ihm nur eins übrig. Er musste zum Zentrum seiner Ängste – in sein Zimmer. „Du bekommst jetzt die Quittung für Dein Tun. Irgendwann musste es ja dazu kommen.“ , schoss es ihm durch den Kopf. Schon einmal hatten sie ihn entführt, morgens waren sie gekommen, getarnt als Sanitäter. Sie hatten ihn gegriffen und gefesselt, vier Männern gegen ihn. Jetzt waren sie bestimmt wieder da. „Sie warten dort auf dich. Sie werden dich ans Bett schmieden und diesmal wirst du nicht entkommen. Sie werden dich der Länge nach durchsägen, aber so, dass du nicht gleich stirbst, sondern viel Schmerzen erleiden wirst. So, wie sie es prophezeit haben.“ Detlev wunderte sich nicht über seine Gedanken. Die Furcht vor dem Foltertod war das erste Gefühl nach dem Aufwachen und das letzte vorm Einschlafen. Die Angst begleitete ihn, wie ein folgsamer Hund seinem Herrn. Nur dass dieser Hund einer von der üblen Sorte war, einer mit blutunterlaufenen Augen und Geifer in den Lefzen. Egal, er hatte keine Wahl. Er näherte sich seinem Zimmer, das am Ende des Ganges lag. Die Tür war mit Alufolie verkleidet, so wie auch das Innere des Zimmers samt Fenster. Detlev hoffte, sich auf diese Art vor bösen Einflüssen zu schützen.
Er blieb vor der Tür stehen. Er schloss kurz die Augen. Wie ein Blitz tauchte das Bild von Völkers auf. Völkers war der Anführer, der Drahtzieher der Organisation. Er hatte ihn damals einer systematischen Gehirnwäsche unterzogen. Detlev riss die Augen auf und lehnte sich gegen die Wand. Lange hatte er Gedanken an seinen Peiniger unterdrücken können. Wieso jetzt? „Die Stunde der Abrechnung. Du hättest ihn nicht verraten dürfen.“
Detlev zögerte. Er hatte eine Telefonnummer von der psychologischen Nothilfe. Aber wo? Verdammt, sie war in seinem Zimmer. „Jederzeit“, hatte der junge Mann damals gesagt, aber Detlev wollte das Grauen so schnell wie möglich hinter sich lassen und hatte sich nicht mehr gemeldet.
Flucht nach vorne. Detlev holte den Zimmerschlüssel, den er an einer festen Kette am Hosenbund trug. Er schloss auf und griff an die Türklinke. Die Tür sprang auf und schob sich mit leisem Quietschen nach vorne.
Im ersten Moment stockte Detlev der Atem, denn etwas sehr Unerwartetes bot sich seinen Augen. Sein Zimmer war verändert, so dass er es zunächst nicht erkannte. Die Möbel waren verrückt, es war aufgeräumt und geputzt. Selbst die Fenster waren gereinigt und jemand hatte eine weiße Gardine aufgehängt, die sich leicht im Wind aufbauschte. Wieder glitt Detlev in ein diffuses Gefühl der Unwirklichkeit, vor Grauen wusste er kaum noch, wer er war und woher er kam. Verstört blieb er auf der Schwelle zu seinem Raum. Es schien niemand außer ihm in der Wohnung zu sein, sein Zimmer war gut zu überschauen. Höchstens im Gemeinschaftsraum...den hatte er vorhin nicht genauer inspiziert. Detlevs erster Impuls war, die Wohnung zu verlassen, aber er fürchtete sich gleichermaßen vor der Außenwelt wie vor seiner Wohnung. Er hatte auch keine Freunde, zu denen er hätte gehen können und der Kontakt zu seiner Familie war schon lange eingeschlafen. Er schloss das Fenster und setzte sich auf die Bettkante. Er war verwirrt. Nach einer Weile legte er sich aufs Bett und starrte an die Decke. Er wusste, dass er jetzt nichts tun konnte. Einfach abwarten. Einfach hier liegen und nichts tun. Keine Situation in seinem Leben konnte so schlimm sein, dass er die Hoffnung verlieren würde. Hoffnung auf Freiheit.
Er dämmerte in einen unruhigen Schlaf hinüber. Er träumte sehr lebhaft, plötzlich wachte er auf. Sein Zimmer hatte sich verändert, es erinnerte ihn an sein Jugendzimmer. Detlev entdeckte einen Fernseher, der wie ein Bild an seiner Wand aufgehängt war. „Wer hat das getan?“, dachte Detlev bestürzt. „Schau dir die Sondervorstellung an.“, tönte eine tiefe Stimme. Es war, als hätten sie ihm einen Chip ins Hirn gepflanzt und inzwischen volle Kontrolle über ihn und seine Gedanken. Er war verwirrt und spürte eine starke Abneigung gegen den Bildschirm. Plötzlich begann die Mattscheibe an zu flimmern. Detlev erstarrte vor Furcht.
Es war nur ein dunkles Bild zu sehen, mit Konturen eines Menschen, der im Bett lag. Detlev erkannte sich selbst. Er sah, wie er sich im Schlaf hin und her warf. Schnitt. Eine andere Szene. Im Keller von Völkers, Detlev am Bett festgebunden. Vor seinen Augen werden Eddie und Charly abgeschlachtet. Schnitt. Völkers sitzt mit Detlevs Mutter in der Küche. Er gibt ihr einen Briefumschlag. Detlev sieht, wie seine Mutter Geld aus dem Umschlag nimmt. Detlev kommt in die Küche, die Mutter versteckt das Geld. Schnitt. Ein Partykeller. Detlev als 15jähriger, er kotzt auf den Teppich. Die Mutter kommt und drückt das Gesicht des Jungen in das Erbrochene. Schnitt. Detlev mit einem Schulranzen, er klaut der Mutter Geld aus der Handtasche. Schnitt. Detlev mit kurzen Lederhosen, er geht auf den Dachboden. Er sucht den Vater, der Kleine weint und ruft angstvoll „Papa, Papa“, er sieht den Vater am Strick hängen. Schnitt. Detlev im Schlafanzug hinter einem Sessel. Die Mutter auf dem Sofa mit Onkel Wolfgang. Der Vater kommt nach Hause. Schnitt. Eine Schwarz/Weiß-Aufnahme. Ein junges Paar in einem Holzschuppen, der Mann bedrängt die Frau, dringt in sie ein, sie sagt: „Pass auf“, er stöhnt, sie schaut besorgt. Rauschen. Der Film war zu Ende.
Am nächsten Morgen verschlief Detlev den Wecker. Er wachte spät auf und schaute sich benommen im Zimmer um. Von dem Fernseher war keine Spur zu sehen. Er seufzte tief. Würde er je die Geheimnisse seiner Geschichte begreifen? Wer waren die Gebieter seiner Ängste, waren sie real oder nur ein Hirngespinst? Eins war ihm klar. Der Spuk war noch lange nicht vorbei.

(c) Gudrun Gülden

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