Das mit 328 Seiten dickste Buch unseres Verlagsprogramms ist die Vampiranthologie "Ganz schön bissig ..." - die 33 besten Geschichten aus 540 Einsendungen.
Wir standen in der Dorfdisco und hatten gute Laune. Schließlich war Sommer – und wir waren beide nicht mehr nüchtern.
„Na, wie gefällt dir denn der Typ da drüben an der Bar? Der lange Blonde, der gerade herguckt!?“
„Ja – geht so.“
Anne wollte an diesem Abend unbedingt einen Mann für mich finden. Nicht, dass ich etwas dagegen hatte. Es gab da schon jemanden, der mir gefiel. Der aber hatte seine Augen überall – nur leider keinen Blick für mich.
„Jana, er kommt her! Bleib ganz cool!“
Anne war so aufgeregt wie vor einem Blind Date. Ich drehte mich jedoch gelassen um. Tatsächlich. Er lief geradewegs auf uns zu. Nein, er lief auf MICH zu!
„Hi Schnecke! Ich bin Torsten und du bist die absolut süßeste Maus weit und breit! Hab ich gleich gesehen. Wie heißt du?“
„Jana. Zwanzig, Sternzeichen Waage und nicht mehr ganz bei mir. Morgen weiß ich von nichts mehr.“
„Maus, du musst unbedingt mit mir tanzen!“
„Na, wenn ich muss ...“
Torsten war etwa so groß wie ich, so dass ich beim Tanzen meine Arme um seinen Hals schmiegen konnte. Ich fühlte mich wohl und ließ mich anhimmeln.
„Du bist meine absolute Traumfrau. Ich gebe dich jetzt nicht mehr her. Das kommt nicht oft vor, dass man sofort weiß: Die ist es! Vor ein paar Jahren habe ich den Fehler gemacht und meine Frau aller Träume nicht angesprochen – ich hab sie nie wiedergesehen. Das passiert mir nicht noch mal.“
Ich fühlte mich wahnsinnig geschmeichelt. Der Typ war ja total verknallt in mich!
Wie bitterernst er es meinte, sollte ich bald zu spüren bekommen.
Bei Tageslicht sah ich seine Tätowierung. Die war mir im Dunkeln gar nicht aufgefallen: H-A-S-S stand auf den Fingerknöcheln seiner rechten Hand. Torsten bemerkte meinen fragenden Blick und erklärte mir, das sei noch ein Anhängsel aus seiner Vergangenheit. Er folgte dem Strom seiner Clique.
Mir wurde etwas mulmig. Ich versuchte, mir sein früheres Leben vorzustellen: Wie stark muss man hassen, um sich diese Buchstaben auf die Hand zu tätowieren? Aber gut, jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient. Ich wollte sie ihm geben.
Wir waren gerade zwei Monate zusammen, als ich zu ihm nach Hessen zog. Vierhundert Kilometer trennten mich von meiner Familie und meinen Freunden, aber ich war bei Torsten! Und sehr glücklich! Er half mir, einen Job zu finden; endlich einen Job! Die zwei Jahre Jugendarbeitslosigkeit in Brandenburg hatten genug an meiner Selbstachtung gefressen. Jetzt verdiente ich mein eigenes Geld! Torsten brachte mich in seinen Freundeskreis ein: Alles liebe, weltoffene Menschen, mit denen ich mich auf Anhieb gut verstand. Torsten schien überall gern gesehen – und er hob mich in den Himmel. Dieser Mann liebte mich – jeden Tag und jede Nacht; sogar in betrunkenem Zustand. In dem war er bald ständig, als er im Herbst seinen Job verlor.
Torsten wurde unausstehlich. Der Alkohol verwandelte ihn in ein Wesen niederer Art. Ich erkannte ihn nicht wieder.
„Trinke kein Bier mehr, Torsten! Du hast heute schon genug.“ bat ich ihn, als ich bemerkte, dass er mehr Tage im Monat betrunken als klaren Verstandes war. Die Schimpfwörter, die er dann für mich hatte, widerten mich an. Torsten widerte mich an.
„DU meinst, ich habe genug? ICH sage, wann ich genug habe! Verstanden?“ schrie er mich an. Vor Angst war ich wie gelähmt und ein leichtes Ziel für seine Faust – das saß! Vor Schreck konnte ich mich gar nicht bewegen. Ich war wie gelähmt. Torsten sah mich mit glühenden Augen an. Ich spürte, wie sehr er hassen konnte – immer noch. Wie eine unerschütterliche Dekoration stand ich in seiner Wohnung. Eine Flucht war aussichtslos. Wo sollte ich denn hin? Mir gehörte nichts! Seine Wohnung! Seine Freunde! Der Job ... Ich war gefangen.
„Jana! Das wollte ich nicht! Mir ist einfach die Hand ausgerutscht. Ich liebe dich doch! Du darfst mich nicht provozieren, hörst du, Maus? Ich kann ohne dich nicht leben! Ich brauche dich!“
„Du brauchst eine Therapie! Torsten, du bist Alkoholiker. ICH schaffe es nicht, dir zu helfen.“, hörte ich mich sagen. Meine Hände zitterten immer noch vor Furcht. Er gebärdete sich so unberechenbar. Ich wusste nicht mehr, woran ich bei ihm war.
„Wenn du mich verlässt, bringe ich mich um! Dann bringe ich uns beide um!“ Pure Wut stand in seinen Augen.
Noch nie im Leben empfand ich solch existentielle Angst. Ich musste mich setzen, so sehr zitterten meine Knie.
„Das machst du nicht!“ rutschte mir trotzig heraus. Ich erschrak so vor meiner eigenen Courage, dass ich mir schnell die Hand vor den Mund hielt.
Jetzt sah ich das große Messer, dass Torsten aus dem Messerblock gezogen hatte. Seine Schulter spannte sich an und er stach zu ... in die Luft! Ich hatte mich rechtzeitig auf das Bett gerollt. Meine Rettung. Aber dahinter war nur die Wand – kein Rauskommen! Jetzt saß ich in der Falle.
Das Telefon! Das Klingeln erlöste mich fürs Erste. Erleichtert atmete ich auf, als Torsten den Hörer abnahm.
„Wer stört?“
„ ...“
„Na klar, Angelika“ er reichte mir den Hörer.
„Mutti! Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich freue, dass du anrufst!“ Ich spürte einen Kloß im Hals und war den Tränen nah. Torsten warf mir einen warnenden Blick zu. Mutti sollte nicht merken, was hier gerade geschah. Am liebsten hätte ich sie durch die Leitung gezogen und sie geküsst für ihr Timing. Wer weiß, wie weit Torsten noch gegangen wäre in seiner blinden Wut.
Er blieb in unserem Wohn-Schlaf-Zimmer, während ich mit Mom telefonierte ...
Am nächsten Morgen rief ich sie vom Büro aus gleich noch einmal an. Ich erzählte ihr, wie Torsten sich verändert hatte. Von dem Messerattentat sagte ich nichts – ich war mir nicht sicher, ob Torsten es herausbekäme und die Strafe darauf wollte und konnte ich mir nicht vorstellen. Wir verblieben so, dass sie mich nur noch auf Arbeit anrufen sollte.
Torstens primitiven animalischen Anwandlungen hatte ich es auch zu verdanken, dass sich sämtliche meiner Bekannten und Freunde immer seltener bei uns meldeten. Sie hatten wohl keine Lust auf Torstens vulgäre Ausdrücke. Das Bürotelefon! Eine rettende Idee, wenn ich ungezwungene Gespräche mit meiner Außenwelt führen wollte. Meine Freundinnen hielten es dann so. Ich war froh, wieder jemanden zu haben, dem ich mein Herz ausschütten konnte. Aus der Ferne versprach ich mir zwar keine praktische Hilfe, aber mir war es Trost genug zu wissen: Da ist irgendwo jemand, der dich gern hat, an dich denkt und dir Mut zuspricht. Die Beiden, die die ganze Wahrheit wussten, verstanden es nicht, warum ich nach all dem immer noch mit Torsten zusammen blieb und bei ihm wohnte. Sie ermunterten mich bei jedem Gespräch, eine eigene Wohnung zu suchen. Wie gern hätte ich das auch getan. Wäre es nur so leicht gewesen! Aber ich verstand nur zu gut, dass er mich überall finden würde. So schnell kam ich hier nicht weg - ich hatte ja noch einen Job; einen miesen zwar, aber ich blieb gefangen! Ausweglos. Die Tränen liefen mir vor Ohnmacht und Wut. Wie sollte ich das überstehen? Ich konnte nicht mehr. Mir fehlte die Kraft.
An einem Wochenende besorgte ich Unmengen Rotwein – mit nur einem Ziel: Torsten loszuwerden. Ein verzweifelter Versuch. Ich wusste nicht, ob der Rotwein ausreichte, Torstens Gedanken zu betäuben ohne ihn aggressiv zu machen. Meine Nerven lagen blank. Aber mir schien, es gäbe nichts mehr zu verlieren.
Ich erinnere mich nicht, wie viele Flaschen wir tranken. Aber als ich merkte, es würde nicht mehr viel fehlen, bis Torsten die kritische Grenze erreicht hatte, sagte ich ihm ins Gesicht „Es ist aus!“
„Das glaubst du doch selbst nicht, Mausi!“ antwortete er nur müde lächelnd. Er nahm mich nicht ernst!
„Doch, Torsten! Wir haben schon lange nichts mehr gemeinsam. Ich liebe dich nicht mehr. Dir bin ich doch egal. Wir brauchen uns nicht mehr.“ Ich hatte seinen Stolz getroffen.
„Stimmt! Ich brauche dich nicht. Aber du brauchst mich, Baby!“
Arrogantes Arschloch, dachte ich. Entweder reichte der Rotwein nicht aus, um ihn aggressiv zu machen oder er war schon über den Berg. Seine Reaktion war mir unheimlich.
„Wir werden ja sehen, wann du wieder ankriechst bei mir! Ich helfe dir sogar eine Wohnung zu finden ...“ lallte er.
Wie bitte?! So einfach war das? Ich konnte es gar nicht richtig fassen, dass ich dieses gemeine Scheusal so leicht loswerden sollte. Ich fühlte mich, als hätte ich gerade mein Leben zurückgewonnen. Diese einmalige Chance konnte ich nicht ungenutzt lassen.
Es dauerte auch nicht lange, bis ich etwas Bezahlbares gefunden hatte, die mir auch gefiel. Torsten half mir sogar, meine Sachen in die neue Wohnung zu bringen. Jetzt wusste er zwar, wo ich wohnte, aber vielleicht würde er ja sein Leben ohne mich besser in den Griff bekommen. Irgendwie redete ich mir das ein. Es hatte auch allen Anschein so. Wir telefonierten hin und wieder. Dann kam es mir so vor, als glaubte er gar nicht, dass wir getrennt waren. Er bildete sich vielleicht ein, wir würden nur getrennt wohnen. Möglicherweise bezweckte er, mich eifersüchtig oder neidisch machen, als er mir von seiner „neuen, superscharfen Braut“ berichtete und mir von dem tollen neuen Super-Job vorschwärmte. Mit seiner superscharfen Braut, die ihn – selbstredend - geändert hatte, plante er sogar Urlaub in Italien zu machen!
Alles deutete darauf hin, dass der Horror für mich ein Ende hätte. Ich fühlte mich wieder frei. Frei! Jetzt konnte ich wieder lachen. Aber ich musste raus hier – Abstand gewinnen. Ich sehnte mich nach einer Pause.
Der Heimaturlaub tat mir gut. Zusammen mit meinem Bruder und meiner Mutter vergnügte ich mich auf dem Volksfest, das gerade stattfand. Es war wieder Sommer. Bei dieser ausgelassenen, fröhlichen Stimmung vergaß ich die Geschehnisse im letzten Jahr; zumindest ließ ich sie weit hinter mir.
„Torsten ist hier!“ Mario würde keine Witze damit machen. Wieso sollte denn Torsten über vierhundert Kilometer weit fahren? Er wollte doch mit seiner neuen Flamme in Italien sein. Ich wusste die Antwort. Mich beschlich ein ungutes Gefühl.
„Ich habe Torsten gesehen. Hast du gewusst, dass er auch hier ist?“ Meine Mutter bestätigte also die furchtbare Neuigkeit. Das Unvermeidliche nahm seinen Lauf:
„Es war wirklich nicht schwer, dich zu finden, Zarte!“ Diese Stimme! Mein Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen. Zitternd drehte ich mich um. Torsten! Da stand er. Die nackte Angst kroch in mir hoch.
„Ich ... ich denke, du bist im Urlaub mit ...“
„ ...Sabine und ich haben uns im gegenseitigen Einvernehmen getrennt“ sagte er in einem bissigen Ton.
„Warum bist du hier?“ fragte ich. Seine Gegenwart widerte mich an. Ich wollte seine Antwort gar nicht hören, überhaupt nicht mit ihm sprechen. Er sollte mich einfach nur in Ruhe lassen!
„Ich bringe mich um und dich nehme ich mit“, sagte er, als rede er gerade über das Wetter.
„Mensch, Jana! Wir suchen dich überall! Komm, wir fahren.“ Mutti und Mario waren wie aus dem Nichts aufgetaucht und zogen mich weg. Torsten würdigten sie nicht eines Blickes. Ich ließ mich weiterziehen und wandte mich dabei zu Torsten um. Er stand regungslos da. Seine Augen sahen kalt aus. Fast wie tot.
Auf der Heimfahrt erblickte ich im Schminkspiegel einen roten Ford Sierra. Torsten, schoss es mir sofort durch den Kopf. Hier fuhren nicht mehr viele Wagen dieser Art herum. Torsten hatte einen roten Ford Sierra! Ich verfiel sofort wieder in Panik und verdrehte mir fast den Kopf nach dem Wagen. Ich konnte aber den Fahrer nicht erkennen – auch das Nummernschild nicht...
„Geh vom Gas, damit der hinter uns überholt, bitte!“, drängte ich meine Mutter, die neben mir auf dem Fahrersitz saß. Sie tat es, obwohl sie nicht recht wusste, warum ich das von ihr verlangte.
Ein hiesiges Nummernschild! Nicht Torsten! Mein T-Shirt war klitschnass geschwitzt. Ich kam mir vor wie eine Irre. Ich sah Torsten überall. Langsam verlor ich den Verstand.
Am nächsten Tag stattete ich meinen Freundinnen, die ich noch in der Heimat besaß, einen Besuch ab. Es tat gut, alte Bekannte wiederzutreffen. Sie waren mir so vertraut und lenkten mich einen Tag lang ab. Kein Torsten...
Als ich wieder bei meiner Mutter ankam, erzählte sie mir aufgeregt, Torsten wäre in der Zwischenzeit hier gewesen. Hier in meinem Elternhaus! Er war wieder da.
„Und? – Was wollte er?“ fragte ich angespannt.
„Nur wissen, ob du da bist. Aber das konnte ich ja ruhigen Gewissens verneinen.“ Mutti hatte keine Ahnung, was sie von der ganzen Sache halten sollte. Ich jedoch fühlte, dass ich durch Zufall dem Schicksal entkommen war; dem Schicksal, das Torsten mir zugedacht hatte – er hatte sich in einem nahen Waldstück erhängt. In der Zeitung stand:
Wir trauern um meinen lieben Sohn, Bruder und unseren Enkel
Torsten
der am 25. September 2000 im Alter von 24 Jahren durch einen tragischen Unfall von uns ging.
Mir wurde schwarz vor Augen und ich taumelte. Nein! Nein, das glaube ich nicht! Er hat das alles nur inszeniert! Ich soll nur denken, dass Torsten tot ist. Das ist er aber nicht! Er gibt nicht so einfach auf. Niemals!
„Es ist nicht vorbei – es wird nie vorbei sein!“ Ich heulte. Ich heulte vor Verzweiflung, vor Ohnmacht. Was konnte ich denn glauben? Was würde mir Torsten als nächstes antun? Ich sah immer noch rote Ford Sierra herumstehen. Überall. Ich wurde fast wahnsinnig.
„Ich kann nicht mehr! Ich halte das nicht mehr aus...“ meine Stimme versagte.
„Hey Jana, beruhige dich.“ Meine Freundin umarmte mich und hielt mich fest. „Komm, setz dich erst mal. Doch, es ist vorbei! Es ist endlich vorbei.“
Gewidmet einer sehr lieben Freundin, die durch die Hölle gegangen ist.
(c) Anke Modemann
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