Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Juni 2002
Schwedentrunk
von Eduard Breimann


„Hier kannst du verrecken und kein Schwein findet dich in diesem Jahrhundert.“
Er hasste Wald und alles was dazu gehörte. Was er nicht mit seinem alten VW erreichen konnte, war ihm lästig und suspekt. Er atmete tief durch und bog die Brennnesseln vorsichtig weg. Sie hingen über dem schmalen Fußweg, der leicht gewunden durch den Wald führte.
„Hier ist schon ewig keiner gegangen. Wie sind die anderen bloß ans Ziel gekommen?“
Weiter hinten, da, wo die flirrende Sonne eine Lichtung aufleuchten ließ, konnte er endlich die verkrüppelten Kiefern erkennen, die er seit zwanzig Minuten suchte.
„Jetzt kann´s nicht mehr weit sein.“
Er seufzte erleichtert und zog ein mehrfach gefaltetes Papier aus der Brusttasche des Hemdes.
Schon gut zwei Stunden lief er durch diese Wälder, die sich ständig in Bewuchs, Dichte und Art veränderten. Über ihm rauschte es gleichmäßig; der steife Südwind orgelte durch die Kiefernwipfel, ließ die Nadeln singen. Die Schritte auf dem weichen, federnden Waldboden waren fast unhörbar.
Seine flache Brust hob und senkte sich schnell. Der Schweiß lief ihm unter den Achseln weg, nässte das Hemd und versickerte im Hosenbund.
Das Laufen machte ihm Probleme; er ging fast nie zu Fuß, hasste jeden Sport. Er war zwar noch jung, hatte gerade mit dem sechsten Semester des Soziologie-Studiums begonnen, aber er besaß die Kondition eines Kettenrauchers, wie seine Kommilitonen spöttisch bemerkten.
„Wozu brauch ich Muskeln?“, fragte er heftig zurück, wenn man ihn wegen seiner dürren Gestalt hänselte. „Für´s Sitzen brauch ich keine Kondition, ich hab meine Kondition im Kopf – und davon 'ne Menge!“
„Sport ist was für geistig verarmte Menschen, mein Junge!“, hatte seine Mama ihn getröstet, als er im Fach Sport „Mangelhaft“ bekommen hatte.
„Mama!“, dachte er. „Wenn du mich hier sehen könntest, du fielst glatt ihn Ohnmacht.“
Das hier, das war mehr, als er sonst im ganzen Jahr lief. Er war schon in der Morgendämmerung losgefahren, hatte den VW im letzten Dorf abgestellt. Kein Mensch war ihm auf den engen Straßen begegnet; hinter leicht bewegten Gardinen hatte er allerdings Beobachter vermutet, die ihn, den Fremden, abwägend und misstrauisch betrachteten.
Suchend drehte er den schmalen Kopf, der auf einem dürren Oberkörper saß. Das schüttere Blondhaar hing nass in der Stirn; das schweißnasse Gesicht sollte von einem zittrigen Ziegenbart etwas männlicher gemacht werden. Seine unruhigen Augen pendelten zwischen Papier, Armbanduhr und Lichtung.
Er musste sich beeilen, wenn er um zwölf Uhr am Ziel sein wollte – das war die dick unterstrichene Forderung des Professors.
Der Professor! Wer mochte dieser Mann sein, der ihn ausgewählt hatte, der ihn für geeignet hielt? Was mochte ihn so beeindruckt haben?
„Wahrscheinlich war es meine letzte Story - auf die hat er sich ja auch bezogen“, dachte er.
So ganz hatte er den Sinn dieses ‚Events’, das Auswahlverfahren und die genau vorgeschriebene Vorgehensweise nicht verstanden.
„Ist ja auch egal!“, dachte er und schob alle Bedenken an die Seite. „Meine letzte Story! Mann war die gut! Was für eine Reaktion! Diese Stubenhocker und Bedenkenträger! Diese Weicheier und Märchen-Schreiberlinge! - Was hab ich die geschockt!“
Er kannte seine letzte Geschichte auswendig, konnte die harten Szenen vor seinem inneren Auge wie einen Film ablaufen lassen.
„Hab da aber auch was rein geschoben, Mann, oh Mann!“
Diese Geschichte, ‚Das Grauen der Nacht’, hatte harmlos angefangen - das machte er immer so, es verlockte auch die Sensibelchen zum Weiterlesen. Aber dann! Zeile für Zeile - ein Schock nach dem anderen!
„Da hat euch rabbit666 wieder mal was zum Verdauen gegeben!“ Er lächelte bei dem Gedanken an seine literarischen Leistungen.
„Rabbit666! Ein tolles Pseudonym! War eine geniale Idee. Kein Schwein weiß, wer ich wirklich bin. Kann schreiben, was ich will, was ich denke und fühle. Gut, dass man anonym bleiben kann im Internet! Erwin Schulze klingt ja auch zu blöd. Rabbit666 ist ein einprägsamer Künstlername“, hatte er entschieden.
Als rabbit666 war er ein Hit, ein Markenzeichen. Keine Story ohne Blut, ohne detaillierte Beschreibung von Gewalt in jeder Form. Früher, bevor er ins Internet rein konnte, hatte er in Schulhefte geschrieben, hatte sich grausige Bilder ausgedacht – und gemalt; die Farbe Rot war ständig aufgebraucht. Die Sachen hatte er hinter den alten Büchern verstecken müssen; Mama war sehr streng – auch heute noch.
Sie putzte fast täglich seinen Schreibtisch, er wusste genau, dass sie alles las, was da rum lag, sogar die Schreibtischfächer und seine Aktentasche durchwühlte.
„Mama passt auf wie ein Schießhund!“, hatte er dem Videoverleiher erklärt, als der sich wunderte, dass er die Videos immer in eine Hülle steckte, die eigentlich zum Film ‚Frau Holle’ gehörte.
„Aber ins Internet, da kommt Mama nicht rein, davon hatte sie zum Glück keine Ahnung. Und mit dem Pseudonym rabbit666 kann sie auch nichts anfangen“, dachte er und hoffte, dass das immer so bleiben würde.
„Mach nur nichts mit diesem Sexzeugs, Junge, sonst ist mir alles egal! Man hört so viel von diesem schrecklichen Schweinkram, den es da im Internet gibt“, hatte sie gesagt. „Sonst muss ich dir das da wegnehmen!“
Dabei hatte sie mit Abscheu und Widerwillen den Bildschirm angesehen, als ob der an all dem Internet-Elend schuld sei.
Heute las die ganze Welt seine Geschichten; er war wer; er war stark und mächtig. Wer wollte ihm vorschreiben, was er schreiben sollte? Etwa diese Bedenkenträger? Bloß gut, dass es Literaturportale gab, die seine Geschichten bedenkenlos aufnahmen und jede Zensur ängstlich vermieden.
„Meine Fantasie ist beispiellos! Das hat der Professor in der letzten Geschichte auch klar erkannt. Wie mein Protagonist Shock die Weiber auf den Boden wirft, sie mit dem Messer aufschneidet! Hat vielleicht schon mal einer besser beschrieben, wie sich das anhört, wenn das Messer ...? Wohl kaum! Ihre Schreie! Ich kann´s eben realistisch beschreiben – und wer kann das schon? Und dann das Blut! Ich hab´s doch nur so strömen lassen! Die haben so viel Blut drin gehabt, dass es noch in der letzten Zeile wie wild auf den Boden tropfte. – Ha, ha! Ja, das ist lebendige Literatur! Hart ist das Leben, und das muss man auch hart beschreiben – Blödmänner, die das nicht begreifen wollen!“
Wenn diese Schreiberlinge wüssten, dass er eine Einladung von Professor Apparent bekommen hatte!
„Geil“, dachte er. „Das ist ’ne klasse Auszeichnung!“ Er hatte zwar noch nie von diesem Mann gehört, aber das musste nichts heißen.
„Einladung zum Sondertreffen der Literaturfreunde!“ stand quer über dem Blatt.
„Lieber rabbit666, wir brauchen dich bei unserem Treffen! Deine sehr harten, brutalen Erzählungen, besonders natürlich die Geschichte ‚Nacht des Grauens’, haben uns auf dich aufmerksam gemacht.“
Man wolle wortgewaltige Autoren zusammenrufen, die in der Lage wären, auch harte – sehr harte – Details zu beschreiben. Sie sollten bei einem speziellen ‚Event’ Eindrücke sammeln und daraus eine Geschichte entwickeln – mit allen blutigen und brutalen Einzelheiten.
Es würde hart zugehen – also nichts für schwache Nerven. Das war zu beschreiben und möglichst fantasiereich zu ergänzen. Die beste Geschichte würde prämiert, bekäme eine international anerkannte Auszeichnung. Man habe natürlich nur die Besten hierzu eingeladen; die Teilnehmer müssten sich also anstrengen und ihr Bestes geben.
„Ich gebe mein Bestes! Könnt euch auf rabbit666 verlassen!“
Sie hatten ihm einen Anreiseplan mitgeschickt, der Zeit und Ort mit genau beschriebenen Wegemarken enthielt. Treffpunkt war ein „Einsames Haus“.

„Warum muss das Treffen in dieser beschissenen Wildnis stattfinden? Wahrscheinlich gehört das zu dem angekündigten Ereignis. Ist wohl noch geheimer als geheim! Mann, hoffentlich find ich hier jemals wieder raus!“
Der Schweiß lief ihm von der Stirn, die Haare klebten am Kopf; je höher die Sonne stieg, desto heißer wurde es, sogar hier im Schatten der Bäume war die Luft unerträglich dumpf. Erschöpft blieb er stehen, lehnte sich an einen Baumstamm, als er merkte, dass seine Beine zitterten und die Fußsohlen brannten.
Erst nach einem nochmaligen Studium des Plans ging er langsam weiter. Hinter der Lichtung begann ein weiterer schmaler Fußweg, im wuchernden Grün kaum erkennbar. Gut eine halbe Stunde lang arbeitete er sich durch niedriges Gebüsch und erreichte die nächste Wegmarke.
Hier gab es lockeren Mischwald aus Birken, Eichen und Buchen, und dazwischen wucherten Brombeerbüsche und Brennnesseln.
Auch hier gab es nur einen überwachsenen Fußweg, keine sonstigen Markierungen. Er holte noch einmal den Plan heraus, der an dieser Stelle einen geraden Strich bis mitten in den Wald aufzeigte. An der Stelle, an der die Handeintragung endete, stand fett: „Einsames Haus“; sonst gab der Plan nichts her.
Er ging wieder los, verkratzte sich Hände und Arme; lose hängende Zweige schlugen in sein Gesicht. Mit jedem Schritt wurde er wütender – und unsicherer.
„Bin ich hier wirklich richtig? Oder ist das Ganze vielleicht ein Idiotenspaß, will man mich herein legen? Kommilitonen vielleicht? Ist das etwa eine Falle?“
In seinen Ohren brauste es; er vernahm schallendes Gelächter, spitze Schreie und dumpfes Grölen. „Haben wir dich rein gelegt, du Angeber?“
Er blieb stehen, starr vor Schreck, lauschte angestrengt. Nur ein paar dünne Vogelstimmen - etwas weiter weg - und die Blätter rauschten unaufhörlich, gleichmäßig.
„Verdammt, verdammt! Ich fang schon an zu spinnen. Wenn das hier Scheiße ist, dann kann dieser Professor Apparent was erleben, - oder wer sonst dahinter steckt. Ich krieg raus, wer das ist!“

Die kleine grasbewachsene Lichtung, in deren Mitte tatsächlich so etwas wie ein Haus stand, hätte er fast verpasst, denn an einer Abzweigung des Pfades war er ohne Nachdenken auf dem breiteren Weg weiter gegangen.
„Ha, ha! Dass ich nicht lache! ‚Einsames Haus’! Haus nennen die das! Bruchbude würde ich das nennen!“, murmelte er.
Das Dach war mit verwitterten, windzerzausten Holzschindeln bedeckt, die kaum noch Regen abhalten konnten. Die Wände bestanden aus grob geschnittenen Holzbrettern mit fingerdicken Fugen und etlichen großen Astlöchern. Das einzige Fenster war kreuz und quer mit Brettern vernagelt; eine schmale, sehr niedrige Tür ohne Klinke ergänzte das Bild; alles war ohne Farbe, grau und verwaschen.
„Uralt sieht der Mist aus“, murrte er. „Das ist doch bloß ein Schuppen! Verdammt! Ich bin doch richtig hier? Soll das ein Seminarraum sein – oder was?“
Die Tür, aus groben Brettern gezimmert, war nicht verschlossen; es genügte ein leichter Druck. Sie schwang auf, gab einen fast völlig dunklen Raum frei, der leer und kahl im Zwielicht lag. Der Bretterboden war mit Staub bedeckt, keine Fußspur war zu sehen.
Er blinzelte, versuchte etwas zu entdecken; aber da war nichts. Auf der anderen Seite des schmalen Raumes konnte er gerade noch eine Tür erkennen – und die hatte eine Klinke.
„Da geht’s wieder raus. Was soll das alles?“
Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihm, dass ihm noch zwei Minuten blieben.
„Verdammt! Muss mich beeilen!“ Er blickte zur Lichtung zurück, trat hastig vor, spürte einen harten Schlag an seiner Schläfe und stürzte zu Boden. Es wurde dunkel vor seinen Augen; Übelkeit kroch vom Bauch hoch; im Hals spürte er scharf brennenden Mageninhalt hoch steigen. Er würgte und erbrach sich. Dann drehte sich alles um ihn und sein Kopf fiel kraftlos zurück.

Als er das Dämmerlicht wieder sehen konnte, fühlte er einen wüsten Kopfschmerz.
„Verdammt, verdammt! Meine Schläfe.“
Mühsam hockte er sich hin und blickte hoch. Den mächtigen, tief hängenden Türbalken hatte er einfach übersehen. Mit zittrigen Armen drückte er sich vom staubigen Boden hoch, wich dem Erbrochenen aus, duckte sich sehr tief unter dem Türbalken, durchquerte vorsichtig den Raum, fasste die Klinke und drückte; die Tür schwang lautlos auf – wie auf Schienen.
Vor ihm lag ein Raum, in dem ein grob gezimmerter Tisch mit blank gescheuerter weißer Holzplatte den Mittelpunkt bildete.
Auf dem Tisch standen vier leere hölzerne Teller, neben denen Holzgabeln mit recht groben Zinken lagen.
„Der Seminarraum! Der Seminarraum? Jedenfalls bin ich der Erste!“
Es war irrsinnig still – kein einziges Geräusch, außer seinem noch immer pfeifendem Atem.
„Hallo! Rabbit666 ist da!“
Keine Antwort. Graues Licht flutete durch zwei kleine Fenster, ließ Staubkörner erkennen, die nach einer lautlosen Musik tanzten. Völlig verblüfft trat er in den Raum, die Tür bewegte sich hinter ihm langsam, schloss sich mit einem schmatzenden Geräusch.
Er blickte sich neugierig um. Vier grob geschnitzte Stühle standen an den Querseiten des Tisches. Links erhob sich ein rußgeschwärzter Kaminabzug über einer erloschenen Feuerstelle bis zur niedrigen, dunklen Decke.
Auf der russgrauen Fläche über dem Kamin schwebte ein Falke. Sein Schnabel war weit geöffnet; die großen, gelb leuchtenden Augen sahen ihn starr an.
Er machte einen zaghaften Schritt vorwärts, ließ den Falken nicht aus den Augen. Er bewegte seine Augen! Rabbit666 schluckte, schmeckte die Reste der Magensäure. Vorsichtig machte er einen weiteren Schritt. Die Augen blickten starr, unbeweglich. Er musste sich geirrt haben; der Vogel war tot; ein Flügel hing schlaff - wie gebrochen - herunter.
„Scheiße! Die Nerven!“
Unter dem Kaminzug stand ein schmiedeeisernes Gestell. Drei schwarze gusseiserne Töpfe hingen an dem kantigen Eisen. An der Wand, neben dem Kamin, lehnte ein spitzes, langes Eisen, das wohl benutzt wurde, um Holzstücke zu drehen und sie richtig ins Feuer zu drücken.
Ein breites, wandlanges Bord vervollständigte die Einrichtung. Mehrere einfache Tonteller und vier große Tassen mit dicken Henkeln, alle in Erdfarbe, standen ordentlich ausgerichtet auf diesem grob gezimmerten Brett.
„Kann ja wohl kaum der Seminarraum sein!“, dachte er missmutig.
Er blickte sich mehrfach um, schüttelte verwirrt den Kopf, ging bis zum gardinenlosen Fenster und prallte zurück.
„Spinn ich?“ Er hatte doch genau gesehen, dass hinter der windschiefen Bude der Wald begann; wuchtige Eichenäste hatten über dem Dach gehangen und die Schindeln berührt; da war nicht der geringste Platz gewesen - er war so sicher, wie man es nur sein kann.
Und da draußen dehnte sich ein verdreckter, von Wagenradspuren durchzogener, großer Platz, der von flachen, windzerzausten Häusern umsäumt wurde, die alle gleich aussahen.
Weiter hinten, dicht vor den Bäumen, ragte der plumpe Glockenturm einer Holzkirche auf; in der Mitte des Turms sah er ein quadratisches Loch, in dem die Umrisse einer Glocke schwach erkennbar waren.
Zwei Pferdefuhrwerke mit vorgespannten Pferden standen am Rand des Platzes – und wohl ein Dutzend Menschen konnte er mit einem Blick erkennen. Die Pferde hatten einen Futtersack an den Hälsen hängen; ihre Köpfe steckten fast ganz in den groben Säcken.
Die Männer trugen knielange, dunkelbraune Hemden mit einem Ledergürtel, an dem Messer und Beutel hingen. Weite, stirnbedeckende Kapuzen - lilafarbene Hauben - reichten bis auf die Schultern herunter.
Vier Frauen standen in einer Gruppe zusammen. Sie waren mit knöchellangen Hemden bekleidet, deren einzige Verzierung ein ovales Dekollete war. Sie versteckten ihre Haare unter weißen Hauben, die mit einem Kinnband befestigt waren. Auch die Frauen hatten sich Gürtel um die Taille gebunden, an denen Stoffbeutel und große Schlüssel hingen.
An den Wagen werkelten Männer; einer spannte gerade ein Pferd aus, das unwillig den Kopf schüttelte. Andere Männer trugen schwere Holzbündel von einem der Wagen in einen Schuppen.
„Das ist es! Hier spielt also das angesagte Schauspiel“, dachte er benommen, obwohl dies das friedlichste Bild war, das man sich denken konnte.
„Fehlt nur noch das Blut! Na wird schon! Die haben keine Mühen gescheut, um hier was aufzubauen. He, - toll! Sieht aus wie im Mittelalter, echt gut gemacht! Bin gespannt, wann die Metzelei losgeht.“
Er ging beschwingt zur Tür, die auf den Platz führte, und trat vor das Haus. Die Luft war eigentümlich fest und doch weich. Es war nicht so heiß, wie er es in Erinnerung hatte. Die Sonne war weg, über ihm hing eine graue Dunstglocke.
Niemand beachtete ihn; keiner drehte sich zu ihm um. Er ging langsam, zögernd, blickte sich suchend nach dem zuständigen Ansprechpartner um, blickte forschend in die Gesichter der arbeitenden Männer; sie sahen müde, blass und elend aus.
Zwei Frauen standen in seiner Nähe, unterhielten sich offensichtlich sehr erregt, zeigten immer wieder zum Wald, der im Hintergrund schwarz zum bleifarbenen Himmel wuchs.
Ihre Stimmen hörten sich eigentümlich dumpf an, als hätte er einen Pfropf im Ohr. Alles klang leise, wie durch Watte gedämpft. Die Sprache hörte sich eigentümlichen an; manche Sätze verstand er nicht.
„Die üben ihren Text. Mann, was für ein Brimborium!“
„Schwedenbande“ – „... morden und brennen ...“ – „... haben meines Knans Haus und Hof zernichtet! Knan und Meuder sind tot!“, hörte er ohne zu begreifen – und manche Worte verstand er überhaupt nicht.
„Kupfer und Zinngeschirr nehmet sie!“, sagte die eine Frau und hob drohend die Faust
„Mägde traktieren sie so, dass der Herrgott sie nicht mehr ansehen kann!“, antwortete die andere.
„Guten Tag! Sagen Sie, meine Damen, wann geht´s denn los? Wo ist Professor Apparent?“
„Sie schlagen Ofen und Fenster ein, Mordbuben und Gesindel sind das!“, sagte die erste Frau und nickte betrübt.
„Haben Sie mich verstanden? Ich möchte wissen, wo der Professor steckt!“
Sie gaben keine Antwort, ignorierten ihn, taten so, als sei er Luft.
„Blöde Weiber! Typische Schauspielermanier!“, murmelte er wütend und ging mit großen Schritten auf die Männer zu, die eines der großen Pferdefuhrwerke abluden.
Sie unterhielten sich stockend, während sie Brennholz auf die Schultern packten. Auch hier hatte er das Gefühl, die Worte durch einen Wattebausch zu hören.
„Die Reuter sind die schlimmsten Mordbuben! Wenn die Schwedenreuter kommen, kommt der Tod!“
„Die üben also tatsächlich noch ihre Texte“, dachte er, und fragte sich beim Näherkommen, warum diese Männer dabei eine so überflüssige Arbeit machten, die offensichtlich anstrengend und schweißtreibend war; das Stück hatte ja noch nicht einmal angefangen.
„Verdammt! Das sind doch Schauspieler! Was soll der Unsinn? Ist das alles noch Übung oder hat die Scheiße schon angefangen – ohne auf mich zu warten?“
„He! Mein Name ist Erwin Schulze, bekannt als rabbit666, wenn euch das mehr sagt. Wisst Ihr, wo der Professor ist?“
„Sie nehmet die Federn aus den Betten und füllet hingegen Speck und anderes, sie finden, hinein“, sagte ein bulliger Mann und hob ein Holzbündel auf die Schulter.
„Und anderes verbrannt sie, ob Stühl, ob Bett, ob Haus!“, rief einer vom Wagen herunter.
„Die üben tatsächlich noch! Dummes Schauspielerpack!“
Niemand sah ihn an, keiner reagierte auf seine Frage. Es reichte ihm!
„Die sollen rabbit666 kennen lernen!“
Er stellte sich mitten auf den Platz, stemmte die Hände in die Seiten und schrie mit sich überschlagender Stimme, dass es von den Häusern in einem hohl klingenden Echo widerhallte.
„Seid Ihr alle schwerhörig? He, Ihr Schauspieler! Ich hab genug von eurem Scheißspiel! Ich bin die Hauptperson, verstanden? Wo ist Professor Apparent? Wer ist hier der Verantwortliche?“
Nicht einer auf dem Platz reagierte, drehte sich um oder machte den Eindruck, als habe er etwas gehört. Er schnaufte wütend und genervt.
Schräg hinter sich hörte er plötzlich ein helles Lachen. Vor dem hohen, schmalen Tor der Kirche, das man wahrlich nicht Portal nennen konnte, stand ein Pfarrer, der seiner jugendlichen Begleiterin über das blonde Haar strich.
Das Mädchen war wie die anderen Frauen gekleidet, es fehlte nur die weiße Haube; das blonde, lange Haar wurde in einem Zopf gebändigt, den sie sich schmucklos um den Kopf geschlungen hatte.
Ihr Gesicht! Er starrte in dieses Gesicht, als erblicke er ein Wunder. Große Augen. Hohe Backenknochen. Eine schmale, gerade Nase. Ein voller, geschwungener Mund.
„Mann, die is’ vielleicht ´ne Wucht! Weiß schon, wie ich die in meiner Story beschreibe; geil, geil!“
Der Pfarrer, groß und mit breiten Schultern, trug eine braune, schmuddelige Soutane. Ein derber Strick, mit einem großen Knoten um den Bauch gebunden, zeigte die enorme Leibesfülle, die dieser Diener Gottes mit sich herum trug.
„Gut, dass du das Lachen gefunden hast, mein Kind! In dieser Zeit! Der gütige Gott bewahre uns! Geh, mein Kind! Gott und die Jungfrau Maria werden dich beschützen.“ Er lächelte das Mädchen an und gab ihm einen leichten Schubs.
„He! Den kann ich sogar verstehen“, dachte er erstaunt.
Sie kam direkt auf ihn zu. Bei jedem Schritt wuchs seine Erregung. Er war zwar schon immer leicht entflammbar gewesen, aber die hier, die ließ ihn lichterloh brennen. Er musste gleich ran gehen, da war er sich sicher.
„Hallo, hübsches Mädchen! Darf ich dich was fragen?“
Sie ging sehr dicht an ihm vorbei, hätte ihn fast gestreift, blickte stur an ihm vorbei, als sei er Luft. Verblüfft, aber auch ein wenig beleidigt schaute er ihr nach.
„Mann, oh Mann! Na warte! Die wird meine Qualitäten noch kennen und schätzen lernen. Ich werd’ schon an die ran kommen! Egal, was dieser Professor dazu sagt - ist mir doch scheißegal!“, stöhnte er, stiefelte los, folgte ihr in einigem Abstand.
Er stoppte, als das Mädchen plötzlich stehen blieb. Sie drehte sich um, starrte ihn mit weit geöffneten Augen an, riss den Mund auf, als wollte sie aufschreien.
„He! He! Ich tue dir nichts! Brauchst keine Bange zu haben, Kleine. Du gefällst mir nur! Ich bin rabbit666. Hast du schon was vor, wenn wir hier fertig sind? Könnte dir eine von meinen irren Geschichten erzählen, wenn du weißt, was ich meine.“
Während er sprach und nur Augen für das Gesicht des Mädchens hatte, ging sie langsam rückwärts, als wollte sie vor ihm fliehen.
„Warte! Mann, seh ich etwa wie ein Verbrecher aus?“
Er schwieg irritiert, als sie die Hand hob und wie anklagend auf ihn zeigte. Dann begriff er, dass sie gar nicht ihn ansah, sondern an seinem Kopf vorbei, zur Kirche starrte.
Er drehte sich um und erblickte mindestens einen Haufen Reiter, die aus dem Wald quollen, ihre Pferde auf den Dorfplatz drängten.
„Es geht los!“, rief er dem Mädchen zu. „Endlich! Wurd´ ja auch Zeit! Bis nachher! Muss aufpassen, dass ich nichts versäume!“
Die Reiter trugen Metallhelme, an denen bunte Federbüsche herab hingen, eiserne Brustpanzer, die bis auf den Schoß reichten, und Hosen, die unter dem Knie bauschig zusammengebunden waren.
Alle hielten Waffen in den Händen. Er sah lange, klobige Schwerter, stachelige Kugeln an langen Ketten und Lanzen mit Spitzen und Haken. Fast alle Reiter trugen einen Schild, den sie an den Körper pressten. Die Pferde drängten nervös vorwärts, blieben aber auf Distanz zum führenden Reiter..
Der war wohl der Anführer; er trug als Einziger einen roten Überwurf auf der Schulter. Mit hartem Riss zog er die Zügel an und hielt direkt neben dem Pfarrer, der reglos vor der Kirche stand und die Fremden anstarrte.
Der Mann sprach kein Wort, bückte sich, griff in die langen, grauweißen Haare des Pfarrers, zog ihn mit einem heftigen Ruck zu sich heran und gab seinem Pferd die Sporen.
Das Pferd warf den Kopf hoch, wieherte laut und galoppierte erschrocken los. Der Reiter hielt den Pfarrer an den Haaren, schleifte ihn neben dem Pferd mit sich. In der Platzmitte ließ er ihn los; der Körper schlug schwer auf, überschlug sich, Staub wirbelte hoch.
Die Menschen auf dem Platz bewegten sich nicht, sagten nichts, wirkten wie gelähmt. Aus den Häusern strömten die Dorfbewohner, Männer vornweg, dahinter ihre Frauen. Kinder klammerten sich ängstlich an ihre Mütter, schauten mit weit geöffneten Augen auf das Schauspiel.
Die Reiter stiegen ab, führten ihre Pferde an den Zügeln mit sich, blickten sich ständig sichernd um und blieben neben dem Pfarrer stehen.
„Na Klasse!“, murmelte rabbit666.
Ein lautes Kommando und ein Reiter schritt steifbeinig zum Pferdewagen, wühlte in den Holzbündeln und hielt lachend ein gabeliges Holz hoch, das ihnen wohl passend erschien, denn einige Soldaten nickten beifällig.
Das nächste Kommando ließ einen anderen Soldaten zu einem kleinen Haus laufen. Er griff sich den Melkkübel, der an einem Eisenhaken hing, ließ sich auf die Knie fallen und tauchte ihn in die offene Jauchegrube. Den überschwappenden Eimer trug er unter dem Gejohle seiner Kameraden zu der Gruppe, die sich rund um den Pfarrer aufgestellt hatte.

Die Dorfbewohner standen noch immer steif, rührten sich nicht, sprachen kein Wort. Rabbit666 steckte die Hände in die Taschen, ging auf die Soldaten zu und lachte voller Vorfreude; er liebte solche Szenen, die auf seinen Leihvideos wie echt aussahen - die knallharten Videos, die er so liebte, waren voll davon. Da hatte er schon manch gute Anregung bekommen.
Die Soldaten beachteten ihn nicht, taten so, als sei er nicht da. Der Reiter mit dem roten Umhang beugte sich herunter, betrachtete den Pfarrer ausgiebig.
„Hör zu, Pfaff! Du sagst den Herren hier, wo vergraben seien deine golden Kelch, Monstranz und all die anderen gut Schätz. Wir trinken aus deinem Becher Wein – mit dir - und du brauchst den Schwedentrunk nicht zu fürchten.“
Der Pfarrer, das konnte rabbit666 gut sehen, stierte mit großen Augen die Soldaten an, schüttelte langsam den Kopf. Rabbit666 war begeistert, das Stück fing gut an, die Spannung wuchs.
„Mist! Wo hab ich bloß meinen Kopf gehabt? Nicht ein Stück Papier dabei! Dachte, es gäb hier was zum Schreiben. Muss mir den ganzen Murks merken.“
„Nun, so mag es beginnen!“, sagte der Soldat mit dem Umhang und zeigte auf den Melkkübel.
Zwei Soldaten knieten sich neben den Pfarrer, rissen seinen Mund auf, quetschten das Holz hinein, schufen eine weite Öffnung, durch die man die wenigen Zähne sehen konnte. Mit dicken Stricken banden sie ihm die wild schlagenden Arme und Beine zusammen.
Rabbit666 lachte grell und laut auf; der Pfarrer sah mit seinem aufgesperrten Mund und den wild bewegten Augen einfach zu komisch aus.
Routiniert goss der Soldat, der den Kübel geholt hatte, langsam, stetig zunehmend, treffsicher, die Jauche in den Mund des Pfarrers. Die Brühe lief ihm über das Gesicht, in die verzweifelt rollenden Augen.
„Nun, Pfaff? Schmecket dir der Trunk? Zeigest du uns deine Schätz?“
Der Pfarrer schüttelte leicht den Kopf.
„Weiter!“
Die Befragung wiederholte sich mehrmals. Immer wieder schüttelte der Pfarrer den Kopf, allerdings von Mal zu Mal deutlich schwächer. Die Soldaten schrieen, lachten, machte sich gegenseitig die Zuckungen des Mannes vor, seine vergeblichen Bemühungen, dem erstickenden Zeugs zu entkommen.
„Das muss ich mir merken! Einfach Spitze!“, rief rabbit666 und klatschte begeistert Beifall.
Die Soldaten hörten nicht auf, bis der Pfarrer die Augen schloss, die Glieder noch einmal konvulsivisch streckte. Der Kübel war leer.
Rabbit666 sah aus den Augenwinkeln das blonde Mädchen, das mit großen Schritten auf den Holzwagen zulief. Aber die Szene vor ihm fesselte ihn so, dass er nicht weiter auf sie achtete.
Hinter ihm ertönte ein schriller Schrei; das Mädchen mit dem langen Zopf hatte sich einen armdicken Knüppel vom Wagen geholt, schwang ihn über ihrem Kopf und stürmte auf die Soldaten zu.
„Der Gottesmann! Sündige Schwedenbande! Lasset ihn leben; er ist unser Heiliger!“
Die Soldaten lachten, fingen das Mädchen mühelos ab, rissen ihr den Knüppel aus der Hand, schlugen ihr mit den Schwertergriffen auf den Kopf und warfen das besinnungslose Mädchen wuchtig auf den Boden.
Als wäre das ein Signal gewesen, sprangen die Männer des Dorfes los, liefen brüllend zum Holzwagen, zerrten Knüppel aus dem Gewirr und stürzten sich auf die Soldaten. Die Pferde wichen zurück, schnaubend gaben sie das Kampffeld frei.
„Schwedische Galgenvögel!“
„Ergreifet sie!“
„Schlaget sie tot!“, schrieen die Männer und drangen auf die Soldaten ein, die ihre Schwerter gezogen hatten.
Rabbit666 trat ein paar Schritte zurück, ruderte begeistert mit den Armen und feuerte die angreifenden Bauern an.
„Zeigt denen mal, was 'ne Harke ist. Ich will was sehen! Los, los!“

Was nun kam, übertraf alles, was rabbit666 jemals gesehen, geschrieben, geträumt hatte.
Die Soldaten hatten leichtes Spiel; sie tanzten leichtfüßig über den Platz, drehten sich blitzschnell, holten weit aus, schlugen den anstürmenden Männern mit ihren Schwertern die Gliedmaßen ab.
Knüppel, an denen noch die Arme hingen, fielen in den Dreck. Wenn die Männer zu Boden stürzten, hieben sie ihnen die Köpfe ab, stachen mit den Lanzen in die Leiber.
Es war ein irrsinniges, grausames Gemetzel. Die Schreie der Getroffenen, das Brüllen der Soldaten ließ rabbit666 fast schwindelig werden.
Das Blut spritzte, Gliedmaßen lagen auf dem Boden, die Söldnerschar schrie und lachte bei der Ausübung ihres gut gelernten Handwerks, als sei dies das größte Vergnügen, als hätten sie nur auf diesen sinnlosen Angriff gewartet.
Und rabbit666 staunte, vor allen Dingen über die unwahrscheinlichen Tricks, mit denen hier gearbeitet wurde.
„Perfekt! Perfekt!“
Als alle Männer des Dorfes leblos auf dem Boden lagen, rannten die Soldaten los, griffen sich die fliehenden Kinder, erschlugen sie im Laufen, lachten dabei grell und kreischend.
Und in diesem Augenblick, bei diesem unglaublichen Ereignis, verstand rabbit666 plötzlich, dass hier etwas nicht stimmen konnte.
Bis zu diesem Moment hatte er an Tricks, an Effekte und an ein gelungenes Brutaldrehbuch geglaubt. Ganz plötzlich dämmerte ihm die Erkenntnis, dass dies wirklich kein Theater sein konnte, dass hier ein fürchterliches Gemetzel stattfand. Sein Verstand weigerte sich, aber was er sah, hörte und empfand, das war stärker.
Es war blutiger Ernst, im wahrsten Wortsinn, das begriff er mit fassungslosem Staunen. Da floss Blut in Strömen und versickerte im aufgewühlten Boden; abgetrennte Gliedmaßen und Köpfe lagen herum, als wären sie Teile von Schaufensterpuppen. Rabbit666 befiel ein Schwindel, ihm wurde schlecht vor Angst.
“Ich bin in Lebensgefahr - in allergrößter Lebensgefahr! Mann, das ist kein Video; ich bin mitten drin! Ich bin im Krieg; es geht um mein Leben!“
Mit einem irren Schrei, voller Angst und Panik, stürmte er los, stolperte über abgetrennte Arme und Beine, stemmte sich schreiend hoch, rannte vorwärts, stürzte erneut über einen leblosen Rumpf und fiel auf den Rücken.
Er starrte in den bleigrauen Himmel, hörte das Gejohle näher kommen und verlor fast den Verstand.
Mit einem jubelnden Aufschrei griffen sich die Söldner die Frauen, die vergeblich zu flüchten versuchten, rissen ihnen die Kleider herunter und fielen über sie her.
„Tut mir nichts! Lasst mich leben! Ich bin auf eurer Seite! Ich mache alles, was ihr wollt! Hört ihr? Ich bin rabbit666, ich bin Gast von Professor Apparent! Lasst mich leben!“
Niemand antwortete. Er hörte, dicht neben seinem Kopf, den gellenden Schrei einer Frau. Dieser nicht enden wollende Schrei, ausgestoßen in höchster Todesangst, riss ihn hoch.
„Weg! Weg! Ich muss weg, solange sie noch die Weiber haben!“, dachte er in panischem Entsetzen, stolperte blindlings los.
Erfiel erneut, schlug mit dem Gesicht auf den Boden. Lag quer über den Beinen des blonden Mädchens. Sie lag regungslos, mit weit aufgerissenen Augen, starrte in den grauen Himmel.
„Hilfe!“, flüsterte sie, aber sie sah ihn dabei nicht an.
„Mach, dass du wegkommst!“, brüllte er. „Weg! Hau ab!“
Er stieß sie hart an, stützte sich auf ihre Brust, rappelte sich auf und rannte weiter, auf die Bäume zu.
Hinter dem ersten Baum blieb er stehen, schnappte nach Luft, suchte verzweifelt nach ausreichender Deckung. Er krümmte sich, spürte ein so starkes Seitenstechen, dass er sich beim Atmen die Fäuste in die Seiten drücken musste; die Luft pfiff nur so aus dem angstgeweiteten Mund.
Er sah rüber zu der Stelle, an der sich das Mädchen soeben hochstemmte. Es taumelte, wankte und dann waren sie schon bei ihr. Sie lachten und grölten. Rabbit666 lief der Angstschweiß den Nacken herunter. Er stierte und gaffte gebannt.
Es war nicht zu sehen, was sie mit ihr machten. Es dauerte sehr lange, er hörte ihre Schreie, die dann plötzlich aufhörten. Die Männer gingen auseinander, zogen sich die Hosen stramm und ihr Lachen klang wie das Gelächter des irren Schlächters, das er im letzten Video so genossen hatte. Ein Soldat trug ihren Kopf auf der Lanze und streckte ihn wie ein Siegeszeichen hoch in den Himmel.
Seine Angst wuchs ins Unermessliche, als die Gruppe auf ihn zukam; er fühlte, wie sich seine Blase entleerte, dann fiel er in Ohnmacht, war lange nicht bei Bewusstsein.
Als er aufwachte, sah er Nebelschwaden vor den Augen, glaubte an einen Traum und tastete den Boden ab. Moos und Blätter, Nadeln und sandiger Boden. Das war nicht die weiche Bettdecke, nicht das flauschige Oberbett, das nach Waschmitteln duftete.
Die Erinnerung setzte schlagartig ein und er schrie, konnte nicht aufhören mit dem Schreien. Dann sah er die Lanze, die vor ihm im Boden steckte; sie berührte seine Stirn. Langsam, das Grauen ahnend, blickte er hoch. Das blonde Mädchen sah ihn aus weit geöffneten Augen an; aus dem Hals tropfte es und als er warme Nässe auf seinem Gesicht spürte, riss es ihn zur Seite.
Er erbrach sich, stemmte sich stöhnend und zitternd auf die Knie, stierte zum Platz, auf dem verstreut Leichen und Leichenteile lagen.
Die Söldner befestigten Bettbezüge, gefüllt mit Beute, an den Pferdesätteln. Einige Männer streiften umher, suchten wohl nach Überlebenden. Er wagte es nicht, noch einmal zu dem Kopf zu sehen.
„Ich muss hier raus! Ich muss raus, raus, raus! Ich muss das Haus wiederfinden!“

Es gab nur diesen einen Fluchtweg für ihn. „Wo man rein kommt, muss man auch raus können!“, dachte er und blickte sich gehetzt um, suchte das nächste Haus – es war nur wenige Meter entfernt.
Mühsam kroch er auf den Knien durch die dornigen, wild ineinander verflochtenen Büsche, blickte sich ständig um. Stickige, modrige Luft stieg aus dem Boden, er roch Blut und Tod.
Mit einem verwegenen Sprung hechtete er über die kleine, vom Platz einsehbare Lichtung und zog sich an der Wand hoch. Die Hintertür stand offen, im Haus war es halbdunkel. Er kroch in den Raum, fand die Tür auf der Rückseite und riss sie auf. Aus einer völlig dunklen Kammer strömte der Geruch von geräuchertem Fleisch.
Er kroch zurück ins Gebüsch, nur unter dem dichten Blätterdach fühlte er sich sicher. Es dauerte ewig, bis er am nächsten Haus ankam. Er lauschte lange, versuchte die Stimmen und klatschenden Geräusche zu orten, bevor er sich ins Freie wagte.
Auch hier führte die Tür in ein Kämmerchen, aber es hatte ein Fenster, und er konnte ein niedriges Holzbett erkennen. Er fiel auf den Rücken, total erschöpft und hoffnungslos.
„Diese Riesenscheiße! Mann, was ist das bloß? Träume ich? Spinne ich? Schweden? Wo gibt´s hier Schweden? Ob die Schauspieler durchgedreht sind? Jedenfalls ist das hier lebensgefährlich!“
Als sich sein Atem beruhigt hatte, rappelte er sich auf, schlich aus dem Haus, kroch wieder in die Büsche, ignorierte die Risse und Kratzer auf seiner Haut.
„Verdammte Scheiße! Langsam Erwin, langsam. Wie war das noch, als du angekommen bist? Das war doch ungefähr in der Platzmitte.“
Alles lief durcheinander, die Gedanken ließen sich nicht ordnen. Nur ein Gedanke war klar: „Ich muss das verdammte Haus finden!“
Auch die nächsten Häuser enttäuschten ihn. Es wurde langsam dunkel unter den Brombeerranken, nur auf dem großen Platz war es noch einigermaßen hell.
Er robbte vor und schielte um die Ecke des nächsten Hauses auf den Dorfplatz. Die bepackten und gesattelten Pferde standen immer noch da; aber alle Reiter waren weg.
„Die suchen mich!“ In neuer Panik kroch er hastig zurück ins Gebüsch, legte sich auf den Rücken, lauschte, hörte Lachen, fremdartige Laute und dann roch er es.
„Verdammte Scheiße! Die fackeln die Häuser ab! – Oh mein Gott! Mama hilf mir! Die verbrennen meinen Ausgang. Lieber Gott, hilf mir!“
Er vergaß alle Ängste, sprang auf und hastete zum nächsten Haus. Wieder nichts!
Weiter!
Das nächste Haus.
Gelbgraue Rauschschwaden wälzten sich über das Hausdach. Weiter oben flackerte es; der Bleihimmel hatte einen Rotstich bekommen.
„Scheiße! Da kann ich nicht mehr rein! – Egal, ich muss!“
Er riss die Tür auf. Dunkelheit. Geschmack von Rauch. Schemenhafte Umrisse von Möbeln. An der unsichtbaren Wand die glänzenden Augen des Falken!
„Oh, mein Gott! Das ist es! Das muss es sein!“
Er stolperte vorwärts, fiel über ein Stuhlbein, erreichte die rückwärtige Wand und griff, tastete, wischte in der Dunkelheit über die glatte Fläche der Tür. Keine Klinke!
Mit den Handflächen fuhr er über die Bretter, ließ keinen Zentimeter aus, suchte das Schloss. Die Tränen liefen und er schmeckte das Salz auf Lippen und Zunge.
„Die muss doch ein Schloss haben, verdammt!“ Aber da war nur eine glatte Fuge, in der eigentlich das Türschloss sein musste.
Draußen hörte er Schritte, polternde und rücksichtslos zutretende Schritte, dumpfes Gelächter.
„Verflucht, verflucht! Sie kommen! Sie kommen!“
Dann erinnerte er sich. Er hastete zum Kamin, ertastete das Kamineisen, stürzte zur Tür zurück, suchte erneut die Fuge, fand sie endlich, steckte das spitz geschmiedete Eisen hinein und riss es mit einem heftigen Ruck.
Nichts!
Die vordere Eingangstür quietschte und rötliche Flammenzungen erhellten den Raum.
Er steckte das Eisen etwas höher in den Spalt.
Ein Ruck.
Leises Knarren.
Mit einem Seufzer glitt die Tür ihm entgegen. Er warf das Eisen hinter sich; es fiel klirrend auf den Boden – es war ihm egal.
Er stürzte durch die Tür und zog sie hinter sich zu. Mit großen Schritten stürmte durch das verfallene Haus, roch die frische, klare Luft.
Es war sehr dunkel, nur die Umrisse der Bäume waren zu erkennen. Mit einem verzweifelten Hechtsprung erreichte er den Rand der Lichtung und das schützende Brombeergebüsch.
Mit einem gequälten Quieken fiel er auf den Boden und wurde ohnmächtig. Als er erwachte, starrte er in einen schwarzen Himmel voller Sterne, die durch die Blätter blinkten.
Kein Geräusch war zu hören – oder doch? Über ihm rauschten die Flügel eines großen Nachtvogels – ein heiserer Schrei. Er lachte, brüllte, lachte und grölend. Er konnte nicht mehr aufhören, krallte die Hände in den Boden, riss Blätter und Nadel hoch, rieb sie sich ins Gesicht.
„Das war es! Das war es!“
Er wusste plötzlich, was da draußen, in diesem eigentümlichen Dorf gefehlt hatte. Da hatte kein Vogel gesungen, nicht ein einziger Vogel. Da war totale Stille gewesen, wenn die Menschen nicht sprachen.
Er lauschte angestrengt, hörte den Ruf der Nachtvögel, lachte erneut und dann liefen ihm die Tränen pausenlos, es wollte nicht aufhören. Er hatte unendliches Mitleid mit sich, er musste jetzt einfach weinen.
„Mann, was hab ich erlebt! Ob mir das einer glaubt? Das war Krieg! Aber ich hab´s wie ein Mann durchgestanden!“

In der Dunkelheit verrannte er sich, lief kreuz und quer durch die Wälder. Er machte nur Pausen, wenn die Seitenstiche zu schlimm wurden.
Dann sah er, noch weit weg, zwischen den Bäumen den Schein einer Lampe. Auf sie lief er zu, hastete vorwärts und blieb erst stehen, als er unter der Straßenlampe stand. Sie warf ihr Licht auf eine schmale Straße aus Asphalt.
„Asphalt! Zivilisation! Alles klar! Ich bin in Sicherheit!“
Er dachte nicht über die Richtung nach, lief einfach los; es war egal, wohin die Straße führte; sie würde ihn schon irgendwann in bewohnte Gegenden bringen.
Dann sah er die ersten Häuser, dunkel und tot lagen sie da. Aber es waren moderne Häuser mit Pkws vor der Tür. Der Ort lag still da, kein Mensch war zu sehen.
Sein Wagen stand noch am gleichen Platz. Als er den Zündschlüssel drehte, ging das Radio an; eine unbekannte Frauenstimme sang von Liebe und Tod. Und da musste er schon wieder weinen. Er hatte kein Taschentuch dabei und wischte die Tränen mit dem Ärmel weg.

Sein Kopf schmerzte unerträglich, es hämmerte und pochte in der linken Schläfe. Als er sein Haus betrat, zog er die Schuhe aus und schlich ins Bad. Lange sah er sein Spiegelbild an, studierte und befühlte jeden Riss, jede kleine Wunde. Schmale Blutbahnen, verkrustet und schwärzlich glänzend, liefen vom Kopf über die Stirn, bis an den Hals.
„Verdammt! Das ist das Blut von diesem Mädchen, oder?“
Vorsichtig tastete er seinen Kopf ab und zuckte zusammen, als er an der Schläfe eine schorfige Wunde fand.
„Mein eigenes Blut ist das! Ich bin verletzt!“
Er wusch sich Schmutz und Blut aus dem Gesicht. Dann schlich er in sein Zimmer.
Er setzte sich vor den PC und drückte den Einschaltknopf. Es dauerte ewig, bis er sich einwählen konnte. Die Seite seines Literaturportals hatte er als Startseite festgelegt, er war sogleich drin.
Dann sah er sich seinen Posteingang noch einmal an. Hektisch klickte er alle Posteingänge an. Es gab keine Email von einem Professor Apparent! Er kontrollierte jede Nachricht der letzten vierzehn Tage, schaute in den Ordner für gelöschte Nachrichten, suchte sogar im Papierkorb des PCs.
„Aber die war doch da! Verdammt nochmal! Ich spinn doch nicht!“
Er griff an seine Hemdenbrusttasche – sie hing herausgerissen lappig herunter.
Erschöpft lehnte er sich zurück, überlegte angestrengt, wo er den Plan und die Email-Nachricht verloren haben könnte. Er fand keine Lösung. Sein Kopf schmerzte, und es pochte an der Schläfe. Er tastete über die Stelle, an der ihn der Türbalken getroffen hatte.
„Die Schweine haben mich herein gelegt! Aber was war das dann? Wie können die das gemacht haben? Scheißegal! Ich reagiere einfach nicht drauf! Aber Stoff für meine nächste Geschichte, Freunde, den hab ich!“
Er rief sein Textprogramm auf und schrieb die Ãœberschrift:
„Der Schwedentrunk!“
Alles andere würde er am nächsten Tag schreiben; er war todmüde.

Erst nach einer Woche fand Erwin Schulze, alias rabbit666, den Mut, sich in seinen Wagen zu setzen und in das stille Dorf zu fahren. Er stellte den Wagen auf dem gleichen Platz ab, der diesmal sehr belebt war, ging durch das Gebüsch am Straßenrand und suchte den Weg durch die Wälder.
Er hatte keine große Mühe, obschon er dieses Mal ohne Plan suchen musste. Bei den verkrüppelten Kiefern blieb er stehen. Er zitterte und seine Beine waren wie Gummi. Dann ging er weiter, durchquerte den Mischwald und fand endlich die Lichtung.
Da stand das verfallene, windschiefe Haus, das eigentlich nur die Bezeichnung Bruchbude verdiente.
Er zog die Tür auf und schielte zum niedrigen Türbalken. Der muffig riechende Raum war immer noch völlig leer. Auf dem Boden lag das Erbrochene, überall war dicker Staub, nicht eine Fußspur war darin zu erkennen.
„Wie kann das sein, verdammt?“
Noch einmal nahm er allen Mut zusammen, bückte sich unter dem dicken Türbalken und betrat den Raum. Im Dämmerlicht sah er die Tür an der Rückwand und die matt leuchtende Klinke. Seine Hand brauchte ewig, um sie zu ergreifen und nach unten zu drücken.
Die Tür ächzte und quietschte, als er sie mit der Schulter aufdrückte. Etwas stemmte sich von außen dagegen; nur mühsam ließ sich die Tür ein Stück weit öffnen.
Brennnesseln und Brombeergebüsch quollen durch die Öffnung in den Raum, wucherten draußen an der Tür, hatten ein richtiges Bollwerk geschaffen. Unmittelbar dahinter erhoben sich kräftige Eichenbäume. Die Lichtung, auf der das Haus stand, war wirklich sehr klein.


© Eduard Breimann

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