Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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Juni 2002
Worte des Löwen
von Hanno Erdwein


Knorrige Finger umklammern den Lenker. Merlins Augen starren
durch die Windschutzscheibe, ohne etwas bewußt wahrzunehmen. Die
Bewegungen der Füße, der Hände geschehen automatisch. Neben ihm
seine Frau. Augen geschlossen. Ganz ergeben in diese Fahrt. Zu
beiden Seiten das Panorama des Safariparks. Dschungelbiotop,
Sawanne, dann sandgelber Wüstenstrich. "wie lang müssen wir noch
fahren?" Frau Merlins Augen blicken gequält zu ihm auf. Er zuckt
die Schultern und drosselt das Tempo. Vor ihm quert eine Gruppe
Antilopen die Piste. Seine Rechte läßt für Augenblicke den Lenker
los und tätschelt ihr beruhigend das Knie. "Nicht mehr lange,
Liebste. Wir haben es bald geschafft."

Es begann kurz nach seinem siebzigsten Geburtstag. Schmerzen
in der Brust. Atemnot. Todesangst. Unterschiedliche
Fachärzte diagnostizierten einhellig das Gleiche:
Bronchialkrebs. Lebenserwartung höchstens ein halbes Jahr.
Vier Monate, bis die Schmerzen unerträglich sein würden.
Metastasen hatten bereits von anderen Organen Besitz
ergriffen. Drei Wochen später kam seine Frau mit einem
ähnlich lautenden Befund nach Hause. Ihr gaben die Auguren
aufgrund eines weit fortgeschrittenen Mammakarzinoms auch
nur noch wenige Monate zu leben. Da saßen sie sich am Tisch
gegenüber, der Lebenskünstler Conrad Merlin, der nie eine
Chance ausließ, sich einen Spaß zu gönnen, und die ehemals
attraktive Viviane. Lange sahen sie sich in die Augen,
führten stumme Zwiesprache über das Bißchen Zukunft, das
ihnen blieb. "Ich mag nicht leiden", brach sie das Schweigen
und wich seinem forschenden Blick aus. "Wenn ich Schmerzen
bekomme, nehm ich was und mach ein Ende." Er biß sich auf
die Lippen, trommelte einen Marsch auf die Tischplatte,
strich sich nachdenklich über den Schnauzbart und nickte
schließlich: "Denke ebenso. Bin weiß Gott nicht wehleidig.
Aber die Art von Höllenpein mag auch ich nicht ertragen."
Sprang auf und schritt federnd durch den Raum. Immer noch
ein stattlicher Mann. Graue Löwenmähne. Muskulös und kein
Gramm zuviel. Eine Schande, daß in solch einem Körper
bereits der Tod wohnt! So sah ihn Viviane und fröstelte.
Sein Auge streifte ihr schmales Gesicht, die immer noch
reizvollen Züge, die ihn vor fünfzig Jahren zu jeder
Dummheit verleiten konnten. Sie ist immer noch schön. Sie
hat kleine schlanke Finger und dichtes Kastanienhaar, wenn
auch gefärbt. Ihr Mund ist nicht welk und die Brust ...
verdammter Krebs! ... die Brust ist die einer jungen Frau.
Dies denkend biß er sich so heftig auf die Lippen, bis er
Blut schmeckte. Dann stieß er mit dem Fuß den Stuhl zurecht
und nahm rittlings Platz. "Beide sind wir nicht willens, zu
leiden", griff er den faden wieder auf. "Das heißt, wir
müssen uns freiwillig auf die Reise machen, diesen Planeten
zu verlassen." Vivianes grüngrauer Blick sagte ja.

Enorm, welche Lebenskraft eine befristete Zeit mobilisiert.
Merlin kapitalisierte alles, was sie besaßen. Daheim häufte er
die Bündel Banknoten und Wertpapiere vor Viviane auf: "Der
Gegenwert einer Weltreise, meine Liebste." Augensterne glühten
ihn an: "Und wann fahren wir?" Er zog Tickets aus der Tasche:
"Sofort!"

London, New York, Tokio. Dann quer durch Asien, den Nahen
Osten nach Afrika. Pyramiden, Monumente, Grabkammern. Was
sie in ihrem langen, durch Arbeit ausgefüllten Leben
versäumt hatten, holten sie binnen weniger Wochen nach. "Und
jetzt noch das Großwild!", schlug sie vor. Er nickte und
mietete einen komfortablen Jeep.

Vor ihnen die staubige Piste. Ab und an eingetrockneter
Tierkot. Fern recken Giraffen lange Hälse in den Mittag. Es
ist heiß trotz eingeschalteter Aircondition. "wie lange
noch", kommt es flüsternd von ihren Lippen. "Nicht mehr
lange, Liebste." Sein vom grauen Schnauzbart markierter Mund
ist eine schmale Linie. Und da sind sie. Eine ganze Familie.
Ducken sich gelbäugig ins kniehohe Steppengras. Viviane
macht eine Handbewegung und Conrad stopt den Wagen. Er
greift ihre Hand und sie betrachten die herrlichen Tiere,
die Großkatzen, wie sie sich träge in der Sonne räkeln.
Dabei äugen sie zu ihnen herüber. Schau nie einem Wildtirr
ins Auge, heißt es in jedem FAchbuch. Der Blick soll
magische Kraft besitzen. Na und?! Conrad und Viviane schauen
den Löwenn seelenruhig in ihre Katzenaugen. Es sind
sonnendurchglühte Blicke, Spiegelungen heißer Tage und
schwüler Nächte. Nun aber hebt der Löwenmann den Kopf und
beginnt eine lange dahingrollende Rede. Sie wird verstanden,
auch von Conrad und Viviane. Es sind Worte zwischen den
Worten, Bilder innerhalb von Bildern und Gedanken über allen
gedanken. Und das wird ringsum durchaus verstanden. Die
Löwenfamilie knurrt beifällig. Conrad und Viviane nicken.
"Das ist es", meint sie und löst den haltegurt. Er steigt
aus, kommt um den wagen herum und hilft ihr. "Gehn wir
denn?", fragt sie. "Ja", bestätigt er, "wir gehen jetzt."

Parkwächter finden nach Tagen den verlassenen Jeep. Nicht weit
davon erschreckt sie ein grausiger Fund. Zwei von Raubtierzähnen
zerrissene Körper werden als Conrad und Viviane Merlin
identifiziert. Die Schlagzeilen beherrschen einige Tage die
Weltpresse. Dann geht man zur Tagesordnung über.

© Hanno Erdwein, Bonn

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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