10 FedEx LastzĂŒge vor den Luken, und das schon seit Stunden.Gespenstische Stille in der Ladehalle, keine Gabelstapler, keine Arbeiter und keine Paletten mit fertiger Ware. Was war hier los?
Dee Ann Garrison rauschte durch die leere Halle, schob die PlastiktĂŒr zur Seite und befand sich in der QualitĂ€tskontrolle. Und wieder: was war hier los? Frauen und MĂ€nner in weissen Kitteln. Sie standen um einige GerĂ€te herum, wĂ€hrend ein anderer wild auf die Tasten eines Computers einhĂ€mmerte.
Eine der Frauen wandte sich ihr zu: âDee Ann, wir haben ein Problem. Der Barcode auf den Fibrillatoren stimmt nicht mit dem auf den Ladepapieren ĂŒberein. Wir können nicht beladen. Die Software spinnt.â
âMary, wenn der Typ ĂŒbereinstimmt, dann lass das Zeug verpacken. Achte nicht auf den Barcode. Wollt ihr Ăberstunden schieben? Wir haben Quartalsende, brauchen den Umsatz, und die LastzĂŒge mĂŒssen raus. F*ck the Barcode, lets get the show on the road!â
Mary drehte sich zu ihren Mitarbeitern und klatschte in die HĂ€nde. âAlle Mann zur Packstation. Packt das Zeug ein und dann in die LastzĂŒge damit. Oder wollt ihr wieder Ăberstunden schieben?â
Sie wandte sich um, doch Dee Ann war verschwunden. Sie war auf dem Weg zur Datenverarbeitung. Was fĂŒr Pfeifen, alles muss man hier selbst machen. Dee Ann liebte ihren Job. Krisen zu managen gab ihr den Kick. Das Adrenalin musste spritzen, und sie war in ihrem Element. Sie hatte das Unternehmen und sich nach oben gemanaged. Jetzt war sie COO, Chief Operations Officer. Nichts waren die anderen im Vorstand; nichts ohne sie. Dee Ann wurde etwas schwindelig und wartete einen Moment, dann ging es wieder, und bald darauf stand sie neben den Programmierern.
Der Buick schlĂ€ngelte sich auf der vierspurigen Freeway 183 an riesigen LastzĂŒgen vorbei und bog auf die 360 ab. Eine Meile noch bis Grapevine, dann lenkte Joe Garrison seinen Wagen auf die Ausfahrt. Weiter bis zum Westchester Circle, dort zum zweiten Haus auf der rechten Seite. Joe stieg aus, holte seine Tasche aus dem Fond, ging ins Haus, in sein Labor, einen kleinen, weissge-strichenen Raum, ausgestattet mit einem KĂŒhlschrank, einem Tisch und einem Mikroskop. Er öffnete die KĂŒhlschranktĂŒr, zog ein paar Glasplatten aus der Tasche heraus und legte sie in ein Fach. Im Wohnzimmer flĂ€zte er sich aufs Sofa, schenkte sich einen Merlot ein und dachte, was nun?
Hier sass er nun, ein Schimmelpilzexperte. Vor einer Stunde hatte er in Dallas in den Klassen der Richardson Schule am Wandbelag herumgekratzt, um diesen in seinem Labor zu untersuchen. Raumluftanalyse. Was fĂŒr ein Job. Er dachte an Dee Ann, die eine halbe Million Dollar im Jahr machte, sich in ihrer Firma aufrieb, um ihren Lebensstil zu halten. Man sah es ihr an, mit ihrer Salatkur hielt sie es nicht mehr lange durch.
Mit ihrem Job hatte sie sein Chemiestudium finanziert. Er wusste, sie liebte ihn, aber er war so viel jĂŒnger als sie. Er hatte sich einer Vasektomie unterziehen mĂŒssen. In ihrer jetzigen Lebensphase seien Kinder nur hinderlich, hatte sie gemeint. Sein Herz machte ein paar extra SchlĂ€ge. Joe fĂŒhlte sich beklommen. Was war das?
Joe ging zu seinem Schreibtisch, setzte sich und fuhr seinen Computer hoch. Er musste seine Internetseite endlich zum laufen bringen
âInnenraumallergene wie Schimmelpilze haben sich in den letzten Jahren zu einem VolksĂ€rgernis entwickelt. Sie machen uns krank, sie sind die Auslöser zahlreicher Beschwerdenâ.
Joe hielt inne und horchte in sich hinein. Verdammt, schon wieder ein extra Schlag, eine Extrasystole. Da stimmt was nicht. Er rief die Webseite von Intelihealth auf. âArrhythmien sind ein Sammelbegriff fĂŒr eine Anzahl von Typen von unregelmĂ€ssigen HerzschlĂ€gen, von denen der ventrikulĂ€re vorzeitige Herzschlag harmlos, jedoch auch AusprĂ€gung eines ernsteren Problems sein kann. Er kann VorlĂ€ufer von Typen ventrikulĂ€rer Arrhythmien sein, die behandlungsbedĂŒrftig sind: VentrikulĂ€re Tachykardien und ventrikulĂ€re Fibrillationen.â
Joes Herz raste. Er stand auf und blickte nervös um sich. O Gott, auch das noch. Das muss ich unbedingt kontrollieren. Ich brauche frische Luft. Dee Ann hatte ihm aufgetragen, sich um die WĂ€sche zu kĂŒmmern. Nichts einfacher als das. Rein in die Waschmaschine und danach in den Trockner. Aber was sollte das? Er musste raus. Joe hatte das GefĂŒhl, ihm fiele die Decke auf den Kopf.
Joe griff nach dem Korb mit der WÀsche, trug ihn in seinen Wagen. Auf dem Weg zum nÀchsten Waschsalon hatte er sich wieder etwas beruhigt. Macht der Gewohnheit, Joe grinste, als er die WÀsche in die Maschine stopfte. Er setzte sich neben eine farbige Frau. Gemeinsam blickten sie auf den Fernseher.
Lokalnachrichten. Waschmaschinen brummten, summten, vibrierten. Trockner klickten, stampften. Die Kinder der Frau tobten um die Waschmaschinen herum, dann wurde es hell im Raum, Barbara war wieder da. Wie ein Komet, Joe starrte sie bewundernd an. Nein, nicht wie ein Komet, der kam regelmĂ€ssig. Joes Herz raste wieder, dann schlug es langsamer, unregelmĂ€ssig jedoch. Das konnte nicht gut gehen. Barbara war einfach zu viel fĂŒr ihn. Waren ihre BrĂŒste echt? Er tippte auf Silikon, sie bewegten sich kaum, als sie sich bĂŒckte, die WĂ€sche aus dem Korb nahm und sich wieder vorbeugte, um sie in die Maschine zu stopfen. Joe betrachtete ihr GesĂ€ss. Die Sonne geht auf. Ich halts nicht aus. Wenn ich hier weiter rum sitze, bekomme ich eine Fibrillation.
Joe ging nach draussen, an die frische Luft. Er blickte zurĂŒck. Links neben dem Waschsalon war eine Tanzschule. Rechts davon ein EisenwarengeschĂ€ft. Und im Waschsalon blickte Barbara hoch und lĂ€chelte ihn durchs Fenster an. Joe lĂ€chelte zurĂŒck und ging wieder hinein. âDu bist Barbara nicht war? So haben dich wenigstens einige Leute genannt.â
âDas ist richtig. Und du bist Joe? Einige meiner Freund kennen dich. Bist du nicht der Schimmelpilzexperte? â
Joe lachte verlegen. âRichtig, der bin ich. Auf Pilze verstehe ich mich.â
Barbara trat nĂ€her an ihn heran. Sie war kleiner als er und berĂŒhrte ihn fast. âAuch Candida albicans?â flĂŒsterte sie. âKannst du nicht auch meinen Körper untersuchen?â
Joe schluckte und blickte zur Seite. âIch glaube, ich kann meine Maschine leeren.â Joe holte die WĂ€sche aus der Maschine und warf sie in den Trockner. Ein paar MĂŒnzen hinterher, auf den Knopf gedrĂŒckt und er begann zu rummsen.
Joe wandte sich um. Barbara rĂŒhrte sich nicht von der Stelle. Sie lĂ€chelte. Eine Wucht, einfach eine Wucht, dachte er. Sieht sie nicht aus wie Jennifer Lopez?
âBarbara, bist du mit Jennifer Lopez verwandt? Du siehst ihr Ă€hnlich.â
Barbara kicherte. âMeinst du? Mein Grossvater vĂ€terlicherseits kommt aus Mexiko.â
Eine zeitlang sagten sie nichts und blickten sich an. Barbara errötete und senkte den Kopf. Es schien, als habe sie ihre eigene ImpulsivitÀt erschreckt. Das Rummsen der Trocker, das Surren der Waschmaschinen, das GeplÀrre des Fernsehers und das Toben der Kinder verschmolzen zu einer Kulisse, die beide einschloss und ihre Gedanken verstummen liess. Verdammt, diese Palpitationen!
âGib mir deine Nummer. Ich ruf dich an.â
Barbara kramte in ihrer Jackentasche und zog eine Visitenkarte heraus. âHier hast du sie. Du bist verheiratet, nicht wahr?â
âIch kanns nicht leugnen.â Joe blickte auf die Karte. Barbara Gonzales, Web Designerin.
âWas, Web Designerin? Vielleicht kannst du mir helfen.â Danach verging die Zeit wie im Fluge.
Dee Ann stieg in den Lift und blickte auf die Uhr. Neun Uhr abends. Wieder spĂ€t geworden. Dee Ann hatte sich noch den 10-Q Report, den Vierteljahresbericht angesehen. Umsatzsteigerung 50 % und Gewinnsteigerung 60 %. Dee Ann war zufrieden. Zum GlĂŒck hatten sie die FedEx LastzĂŒge noch rechtzeitig vom Hof bekommen. Das hatte dem Umsatz gut getan. Der Lift hielt in der Tiefgarage. Dee Ann stieg in ihren Lexus und fuhr Richtung Fort Worth. Die AbenddĂ€mmerung war hereingebrochen. Dee Ann schaltete das Radio ein und liess sich von den sanften KlĂ€ngen der Smooth Jazz Radio Station einfangen. Der Verkehr war verhalten. Sie schaltete um auf Cruise Control und nahm den Fuss vom Gashebel.
Die AktionĂ€re wĂŒrden zufrieden sein. Sie hatten die Voraussagen um 7 cents ĂŒbertroffen. Nur schade, dass Joe sich von ihrer Begeisterung so wenig anstecken liess. Er schien niedergeschlagen. Was war nur mit ihm? Dee Ann verspĂŒrte einen scharfen Schmerz in ihrer Brust. Sie fĂŒhlte sich nicht wohl. Was war das? Angina? Ich muss kĂŒrzer treten. Der Schmerz liess nach, der Lexus schnurrte ĂŒber die Freeway und liess BĂŒrotĂŒrme, die Lichtflut von Dallas hinter sich.
Weisse Punkte tauchten am Himmel auf, verĂ€nderten langsam ihre Position. Flugzeuge, die mit aufgeblendeten Scheinwerfern den Flughafen ansteuerten. Dee Ann zĂ€hlte sie. Es waren zweiundzwanzig. Die unteren verschwanden, doch am oberen Rand tauchten schon wieder neue auf. Ein grandioser Anblick. Zur linken musste das Delaney Weingut liegen. Etwa 5 Hektar Chardonnay. Dee Ann sah es nicht. Es war zu dunkel. Wein in Texas. Dee Ann lĂ€chelte. Well, Texas hatte alles, was es brauchte. Donât mess with Texas. Der Wagen bog auf die 360.
Als Dee Ann zu Hause die TĂŒr öffnete, sah sie den gedeckten Tisch. Joe kam aus der KĂŒche und begrĂŒsste sie mit einem Kuss. Was fĂŒr ein Schatz. Er war unbezahlbar. Doch irgend etwas ging in ihm vor.
âJoe, was ist? Du wirkst niedergeschlagen. Wie kann ich dir helfen?â
âIrgendetwas stimmt mit meinem Herzen nicht. Es hat Extrasystolen. Das macht mich verrĂŒckt. Vielleicht steckt mehr dahinter.â
Dee Ann wirkte wie vom Schlag getroffen. Extrasystolen? Arrhythmien? LinksventrikulÀre Hypertrophie? Kardiomyopathie? Die Begriffe wirbelten ihr im Kopf herum.
âWeisst Du, was wir tun? Wir stellen auf Deiner Bettseite einen Elektrokardiographen und einen Defibrillator auf. Wir schliessen dich am Elektrokardiographen an und falls etwas schief geht, setze ich den Defibrillator ein.â
âWas? Das ist nicht notwendig. Die Extrasystolen können doch ganz harmlos sein.â
âDas wissen wir nicht, mein Lieber. Wir wollen lieber vorsichtig sein. Morgen machst du einen Termin beim Kardiologen. Danach werden wir weiter sehen.â
So ein Unsinn. FĂŒr Joe war der Tag gelaufen.
Am nÀchsten Tag kam ein UPS Laster vorbei. Der Fahrer karrte einen Karton ins Haus.
âBring ihn ins Schlafzimmer,â meinte Joe mĂ€rrisch und zeigte ihm den Weg, unterschrieb und drĂŒckte dem Fahrer 5 Dollar in die Hand.
Dee Ann war besorgt, als sie abends spĂ€t ins Haus kam. Auch vorher schon, den ganzen Tag ĂŒber hatte sie an Joe gedacht..
âHallo Schatz, was haben wir hier? Warum öffnest Du nicht den Karton? Das ist unser neuestes Modell GST2000. Es ist ein Defibrillator mit integriertem Elektrokardiographen. Ein phantastisches GerĂ€t.â Dee Anns Augen glĂ€nzten. âUnser VerkaufsknĂŒller. Die KrankenhĂ€user reissen sich darum.â
âKönnen wir das nicht spĂ€ter machen. Das Essen wird kalt.â
Als Joe sich spÀter schlafen legte, öffnete sie den Karton, holte das GerÀt heraus, stellte es an seiner Bettseite auf und schloss es an. Anschliessend spritzte sie ihm Gel auf die Brust und presste die SaugnÀpfe mit den Ableitungskabeln auf seinen Körper.
Der Bildschirm zeigte die P, T und U Wellen, das GerĂ€t fiepte den Herzschlag. Dee Ann konnte ihre Besorgnis nicht verbergen, als sie sich hinlegte. Immer wieder drehte sie sich zu Joe herĂŒber und betrachtete die Kurven auf dem Bildschirm.
Joe wartete, bis Dee Ann eingeschlafen war. Das verdammte Fiepen ging ihm auf den Nerv. Wie sollte er da zu Schlaf kommen? Er lÀste die Ableitungskabel von dem GerÀt und schaltete den Ton ab. Der Monitor zeigte nur noch eine flache gerade Kurve. Beruhigt drehte sich Joe zur Seite und schlief ebenfalls ein.
Dee Ann hatte einen schrecklichen Traum. Ihr war, als sei Joes Herzkurve flach geworden. Erschreckt wachte sie auf und drehte sich zum Monitor. Flatline! Joes Herzkurve war flach geworden!
Entgeistert sprang sie aus dem Bett, rannte auf Joes Seite und schaltete die Energie fĂŒr die Schockpaddel ein. Sie drĂŒckte die Paddel auf Joes Brust. Sein Körper zuckte, er schlug die Augen auf. Dee Ann sah es nicht, starrte auf den Bildschirm. Die Linie blieb flach. Dee Ann erhöhte die Energie von 100 auf 200 Joule und setzte die Paddel wieder auf Joes Brust.
Was war das? Joe wusste nicht, wie ihm geschah. Es musste ein Traum sein, ein schlimmer Traum. Sein Körper verkrampfte sich. Die Linie blieb flach. Dee Anns Herz raste. Sie war verzweifelt. 360 Joule. Paddel auf Joes Brust. Er versuchte seinen Mund zu öffnen, zu schreien. Sein Körper zuckte einen halben Meter in die Höhe. Nichts, die Linie blieb flach. Mary Ann wurde schwarz vor Augen. Sie fiel auf den Boden und regte sich nicht mehr.
Verwirrte richtete sich Joe auf und blickte zur anderen Seite des Bettes. Dee Ann war fort. Verstört riss er die SaugnÀpfe von seiner Brust, schob den Defibrillator zur Seite und stieg aus dem Bett. Er schrie auf. Vor ihm, auf dem Boden, lag Dee Ann.
Als Joe einige Wochen spÀter mit einigen Glasplatten in der Tasche auf der 183 nach Hause fuhr, lÀchelte er zufrieden. Seine Beschwerden waren abgeklungen und nun ganz verschwunden. Ein Reklametafel zog links an ihm vorbei: Reverse Vasectomy, Call 1-800-344-0632.
Seine Webseiten waren fertig. âLuftreinigungsservice Incorporatedâ, das klang gut. Webdesign: Barbara Garrison, das klang noch besser.
(c) Klaus Eylmann
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