Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
Ich hing total erschöpft quer in meinem Lieblingssessel. Jeder einzelne Muskel tat mir weh. Mein Herz raste und mein Kopf dröhnte.
Seit Dienstag schon konnte ich nur noch eines hören und das tat ich dann auch von morgens bis in die Nacht: das „Requiem“ von Mozart - als Entscheidungshilfe quasi.
Der Entschluss war gefasst. Aber das Hin und Her bis dahin hatte alle meine Kräfte gekostet.
Aber jetzt war es mir absolut klar:
Er musste sterben! Freitag schien mir ein guter Tag dafür zu sein.
Es war noch nicht einmal so, dass ich meinen Mann hasste für das, was er getan hatte.
Aber meine rosarote Brille, durch die ich ihn noch bis vor kurzem angesehen habe, war gründlich zerbrochen und ein Blick ohne Liebe auf einen Menschen in diesem Alter kann wahrhaftig tödlich sein.
Und seit ich von diesen Geschichten wusste, beobachtete ich ihn, wie man ein etwas ekliges Insekt beobachtet.
Heute morgen im Bad zum Beispiel. Als Peter versuchte, mit der spitzen Nagelschere die Haare, die sich aus seinen Nasenlöchern kräuselten, abzuschneiden und sich dabei die Spitze der Schere in die Nasenwand bohrte. Das Blut tropfte über seine Hände, auf seinen nackten, von grauem Fell bedeckten Oberkörper und ins Waschbecken. Er stand da wie hypnotisiert. Schliesslich flüsterte er mit vorwurfsvoller Stimme: „Jetzt tu doch endlich etwas!“
Ich gab ihm blutstillende Watte und sagte, dass ich heute abend zu unserer Tochter fahren und auch über das Wochenende dort bleiben würde. „Ich warte aber noch, bis du zuhause bist“, setzte ich hinzu.
Das gehörte nämlich zu meinem Plan.
Er sah mich mit einem etwas abwesendem Blick an und nickte nur.
Überlegte er schon, welcher seiner reichen Tussis, die er als Tennislehrer kennen lernte und wie ich seit kurzem wusste, auch ausserhalb der Tennisstunden intensiv betreute, er sich heute widmen würde?
Er zog sich wie immer sehr sorgfältig an, kämmte liebevoll sein Resthaar und warf noch einen wohlwollenden Blick auf sein Spiegelbild.
Seine Unterhose hatte er, obwohl der Wäschekorb direkt daneben steht, achtlos in die Badewanne geworfen
Fasziniert sah ich zu, wie eine dicke schwarze Fliege, die anscheinend im Duschvorhang gedöst hatte, im Sturzflug herunter kam und mit einer taumeligen Schleife auf dem schmuddeligen Wäschestück landete. Gründlich inspizierte sie die gelben Tröpfelspuren auf der Vorderseite. Ich verscheuchte sie mit einer lahmen Handbewegung.
„Also, bis heute abend“, sagte mein Mann betont munter und ging beschwingten Schrittes davon.
Die ganze Sache wäre ja nicht aufgeflogen, wenn nicht gerade Ferienzeit gewesen und an diesem Dienstag morgen mein Fax ausgestiegen wäre.
Da ich dringend einen Artikel an die Redaktion schicken musste, blieb mir nur eins – schnell ins Büro von Peter zu gehen, um von dort den Fax abzuschicken.
Was ich dann allerdings in dem Faxgerät entdeckte, riss den scheinbar sicheren Boden unter meinen Füssen auf und stürzte mich in schwärzesten Abgrund.
Eine Rosemarie teilte ihm da per Fax folgendes mit:
Hallöchen, mein Prachtstück,
die ganzen Ferien machen mir ohne dich keinen richtigen Spass.
Deine stürmische Nähe fehlt mir sehr. Komm doch jetzt gleich sofort auch nach Stockholm. Es wird dich absolut nichts kosten. Ich freue mich darauf, dich so richtig verwöhnen zu können. Bussy, bussy Mit sehnsüchtigen Grüssen Rosi
Meine Knie wurden so weich, dass ich mich setzen musste.
Ich lies meinen Kopf auf die Schreibtischplatte sinken und hatte dabei das Gefühl, dass ich jetzt wahrscheinlich gleich sterben würde.
Das klappte aber einfach nicht.
Statt dessen entdeckte ich, dass unter meinen verheulten Augen eine Ansichtskarte von Florenz lag.
Ich drehte sie ahnungsvoll um. Auf der Rückseite verriet eine gewisse Martha , dass sie ihn als Liebhaber sehr vermisse und ihm auch die Reise bezahlen würde, wenn er nächstes Mal wieder mitginge. Ohne ihn wäre es einfach fad. Sie wäre dann auch sehr grosszügig, wie er ja bereits wisse. Tausend Küsschen Martha
Aha. „wieder“ mitginge...
Mir wurde schlecht.
Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so gedemütigt gefühlt.
Plötzlich bekamen einige der Dinge, die mich in letzter Zeit so irritiert hatten, einen Sinn.
Ich wusste jetzt, dass ich es mir nicht einbildete, wenn mich gewisse Damen vom Tennisclub mit einem herablassenden Lächeln und leicht verächtlichem Gesichtsausdruck begrüssten, wenn sie mich auf irgendeiner Vernissage trafen, von der ich als Kulturjournalistin unseres Tagblattes berichten musste.
Das eifrige Getuschel und das plötzliche Schweigen, wenn ich zu ihnen trat – es hatte also seinen Grund. Das Wort „Witwentröster“, das ich bei einer dieser
Gelegenheiten aufschnappte, bekam auf einmal eine tiefere Bedeutung für mich.
Das war also er – mein Mann!
Ich würde diesen feinen Damen immer wieder begegnen und sie würden sich immer wieder über mich lustig machen. Ich könnte ihnen in diesem Kaff und in meiner Funktion als Journalistin nicht ausweichen.
Das konnte und wollte ich nicht ertragen, und die einzige Möglichkeit, dieser für mich grausamen Situation ein Ende zu bereiten, war, ihn umzubringen.
Das war mir am nächsten Tag klar.
Vor ein paar Wochen war meine Grossmutter gestorben - so wie sie es sich immer gewünscht hatte: im Schlaf.
Sie war 94 geworden. Ich hatte sie sehr gemocht und sie hat mir auch ein perfektes Abschiedsgeschenk gemacht: in ihrem Nachttisch fand ich 6 Packungen eines starken Schlafmittels und 4 Packungen mit einem den Blutzucker senkenden Mittel.
Da ich es selten schaffe, etwas wegzuwerfen, was noch brauchbar sein könnte, hatte ich alles aufgehoben.
Plötzlich schien mir alles ganz einfach und klar zu sein. Ich musste unwillkürlich lächeln...
So würde es perfekt klappen.
Wie gesagt, ich hasste ihn nicht.
Wir hatten eine wundervolle Liebesgeschichte miteinander. Er war wirklich ein einfühlsamer Lover und ein guter Tänzer dazu.
Als wir uns kennen lernten, war es beim Tanzen. Mit ihm zu „When a man loves a women“ zu tanzen, war Erotik pur.
Er hatte einen sanften Tod verdient.
Und mit diesen Tabletten wird es ein sanfter, schmerzloser Tod sein, dachte ich.
Es wurde Abend und bald würde er nachhause kommen.
Obwohl ich da noch nicht ahnen konnte, was tatsächlich passieren würde, hatte ich Herzklopfen und ich zitterte am ganzen Körper.
Meine eiskalten Hände flatterten. Ich konnte sie einfach nicht unter Kontrolle bringen.
Dabei war doch alles genau geplant.
Es konnte überhaupt nichts schief gehen.
Die Tabletten hatte ich in einer halbvollen Flasche Cola aufgelöst.
Da er die Flasche immer an den Mund nahm und direkt aus der Flasche trank, würde er den bitteren Geschmack nicht so schnell spüren. Ich hatte auch noch etwas Süssstoff hinzugefügt und bei dem Geschmackstest, den ich machte, schmeckte das Gesöff nicht viel scheusslicher, als normalerweise auch.
Ich war zufrieden.
Jetzt hörte ich, wie Peter sein Auto in die Garage fuhr. Dann klappte das Garagentor zu und pfeifend kam er zum Haus herüber.
Er pfiff es viel zu hoch und so falsch, wie das wahrscheinlich nur mein Peter konnte.
Aber ich erkannte es sofort.
Es war „When a man loves a women“. Es war „unser Lied“!
Mein Herz machte ein paar wilde extra Schläge. Eine Welle von sentimentalen Gefühlen überschwemmte mein Urteilsvermögen.
Ich konnte es nicht tun.
Nicht jetzt, wo er dieses Lied pfiff.
Vielleicht würde doch alles wieder gut werden.
Langsam stand ich auf und ging in die Küche. Langsam schraubte ich den Verschluss der halbleeren Colaflasche ab und langsam hielt ich sie übers Waschbecken, um sie auszuschütten.
In diesem Moment stand er schon neben mir.
„Spinnst du eigentlich, das Cola wegzuschütten. Die Flasche ist ja noch halbvoll.“
Damit riss Peter mir grob die Flasche aus der Hand und mit einem unbeschreiblich seltsamen Gefühl sah ich ihm zu, wie er die Flasche ansetzte und sie leer trank.
„Bä“, sagte er, „Bitter!“
„Ja“, sagte ich, „das ist es wirklich.“
(c) Renate Eckert
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