Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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Juli 2002
Berts große Liebe
von Lutz Schafstädt


Amor muss immer zwei Pfeile verschießen, damit aus einer kleinen Schwärmerei das große Liebesglück erwachsen kann. Zumindest besagen dies die romantischen Vorstellungen über die geheimnisvollen Mechanismen sich anbahnender Beziehungen. Leider aber geht Amor zuweilen etwas unkonzentriert zu Werke. Dann kann es geschehen, dass er eines seiner Ziele verfehlt. Oder er trifft ungenau. Oder, und nur so kann es in Berts Fall gewesen sein, er feuert auch den zweiten Pfeil auf den gleichen Probanden ab. Ein bedauerliches Versehen, ausgelöst durch eine schlechte Schussposition und einen Bert, der sich unkontrolliert bewegt, mit seinem Körper plötzlich die Flugbahn versperrt und im nächsten Augenblick die doppelte Dosis Liebesstimulanz zu verkraften hat.

Bert stand in der Tankstelle. Nur eine Kasse war geöffnet und eine kleine Schlange hatte sich davor gebildet. Aus Satzfetzen verstand er, dass es Probleme mit dem Kartenterminal gab, weil irgendeine Leitung zusammengebrochen wäre. So etwas kann dauern, dachte er und entschied, in der Zwischenzeit noch etwas in den Zeitungen zu blättern. Er schlenderte gerade zu den Regalreihen hinüber, als er jemanden rufen hörte: “Katja, kannst du mal mit abkassieren!“
Eine viertel Drehung auf der Schuhspitze genügte und Bert stand vor der zweiten Kasse.
„Die Drei“, sagte er und nahm zunächst keine Notiz von seinem Gegenüber. Er war noch damit beschäftigt, sich darüber zu freuen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein, und nun alle anderen Wartenden hinter sich zu lassen.
„Und diesen Kaugummi noch“, nahm er eine bunte Packung aus den aufgetürmten Auslagen und legte sie auf die Wechselgeldschale. Er kramte in der Jackentasche nach seiner Geldbörse, zog mehrere Scheine heraus und zählte Münzen in seine Hand.

Jetzt erst bemerkte er, dass die junge Frau hinter dem Verkaufstisch verbissen mit der Kasse kämpfte. Fast im Sekundentakt warf sie nervös ihr halblanges, brünettes Haar zurück. Immer wieder führte sie die Kaugummipackung am Scanner vorbei, der auch ordnungsgemäß piepste, aber den angezeigten Betrag einfach nicht mit dem der Tanksäule summieren wollte. Nach einem erneuten vergeblichen Versuch blickte sie zu Bert auf. „Einen Moment bitte“, sagte sie hilflos lächelnd. Ihre unruhigen Augen baten eindringlich um Nachsicht.

Bert war verblüfft von diesem Blick voller gefühlsgeladenem, unverblümtem Flehen. Sympathie durchflutete ihn. Aufmerksam beobachtete er jede ihrer Bewegungen, als sie zu ihrem Kollegen hinüberging und ihn um Hilfe bat. Die pure Anmut, dachte Bert. Die prall sitzenden Jeans und das Trikot mit dem Tankstellenlogo hoben ihre weiblichen Formen hervor.
Der schmale Mund mit den konzentriert zusammengepressten Lippen, die flackernde Unsicherheit in ihren Augen, gaben ihrem Gesicht fast kindliche Züge, als sie sich erklären ließ, wie mit dem Druck auf zwei kleine Tasten das Problem behoben werden konnte.

Bert war davon fasziniert beobachten zu können, wie die Anspannung von ihr wich und sichtbarer Erleichterung Platz machte.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte sie freundlich. „Das macht siebenundvierzig dreißig.“
Ich muss irgendetwas Nettes sagen, schoss es Bert durch den Kopf, während er das Geld herüberreichte.
„Sie sind wohl heute den ersten Tag hier?“, fragte er im Plauderton und mit breitem Grinsen. „Na, aller Anfang ist schwer. Sie werden die Tücken der Technik schon noch meistern.“
„Ja“, sagte sie.
Bert sah, wie ihr das Blut in die Wangen stieg und sie plötzlich schon wieder ganz aufgeregt war und ihr eine Münzen aus der Hand auf den Boden fiel und sie sich herunterbeugte und das Haar ihr danach bis über die Stupsnase hing und mit verlegener Geste hinter ein Ohr gestrichen wurde. Er schrieb diese Reaktion dem Eindruck zu, den er eben auf sie gemacht hatte und jubelte innerlich.
„Viel Spaß dann noch im neuen Job“, verabschiedete er sich fröhlich strahlend. An der automatischen Tür blieb er kurz stehen. In der Hoffnung, dass sich ihre Blicke noch einmal begegnen würden, schaute er zurück. Doch der nächste Kunde war schon an der Reihe. Dem euphorischen Gefühl in seinem Bauch tat das keinen Abbruch.

Katja aus der Tankstelle ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Bert war sich klar, dass es dafür keine vernünftigen Argumente gab, schließlich kannten sie sich überhaupt nicht. Aber warum sollte das so bleiben?
Schon am nächsten Tag fuhr er, gleich nach der Arbeit, wieder bei der Tankstelle vor. Er nahm sich eine Colabüchse vom Stapel und hielt nach Katja Ausschau. Sie war nicht zu sehen. Fast eine halbe Stunde tippelte er zwischen Motorenöl und Kaffeesahne umher und räumte dann enttäuscht das Feld. Er stieg in sein Auto, drehte den Zündschlüssel, zog sich den Gurt über den Bauch – und ließ ihn wieder zurücksurren.
Da kam sie um die Ecke gebogen! Katja, auf einem Fahrrad, überquerte den Parkstreifen, verschwand erst hinter der Waschstraße und dann in einem Seiteneingang der Tankstelle.
Bert wartete. Er wollte sicher sein, dass sie ihren Dienst begonnen hatte, wenn er hineinging, um einfach noch einmal ihre Stimme zu hören.

„Hallo“, sagte er im wärmsten Ton zu dem er fähig war und legte ihr eine Fernsehzeitschrift hin.
„Hallo“, erwiderte sie freundlich. „Haben Sie sonst noch einen Wunsch?“
„Nein, nur die Zeitung.“
„Ein Euro fünfundvierzig, bitte.“
„Ich habe es passend. Augenblick.“
„Vielen Dank.“
„Tschüss.“
„Tschüss.“
Kein Zweifel, sie hatte ihn wiedererkannt. Der fast schon als vertraut zu bezeichnende Ton ihres kurzes Gespräches war Bert Indiz genug. Und wie sie ihn außerdem angesehen hatte, während sie in aller Ruhe die Münzen zählte und sich so betont bei ihm bedankte.
Bert saß noch einige Momente still in seinem Auto, genoss sein Erlebnis und träumte einige mutige Episoden mit Katja und sich als Hauptpersonen.

Am Mittwoch und Donnerstag sah er Katja nicht. Bert ergriff eine seltsam wachsende Unruhe. An beiden Tagen hatte er gewartet, mit dem Schlauch des Saugers im Auto umständlich hantiert und mehrfach die Scheiben gewaschen. Vergeblich. Selbst kurz vor Mitternacht machte er sich erneut auf den Weg, rollte langsam zwischen den verwaisten Tanksäulen hindurch und spähte, ohne zu halten, in den erleuchteten Verkaufsraum. Auch am Morgen, auf dem Weg zur Arbeit, zog er, mit gestrecktem Hals Ausschau haltend, einen weiten Bogen zwischen Einfahrt und Ausfahrt.
Was, dachte er, wenn sie den Job hingeworfen hatte und er sie nie wieder sah? Wenn alles vorbei wäre, noch ehe es begann? Nur einmal wollte er sie noch sehen, dann würde er sie ansprechen und in ein Café einladen und mit ihr plaudern und nach ihrer Hand greifen und mit ihr ins Kino gehen und sie mit in seine Wohnung nehmen ...

Am Freitag morgen war Katja wieder da. Sie füllte, über einen Karton gebeugt, Regale. Bert schlich, indem er sich bemühte zu wirken als suche er etwas, um sie herum. Dann ging er ganz nah an ihr vorbei und griff wahllos nach einer Zeitschrift. Jetzt wäre ein idealer Moment für ein nettes Wort, dachte er für einen winzigen Augenblick, doch sofort verließ ihn der Mut. Gesetzt den Fall, sie würde ihn irgendwie abweisen, wie sollte es dann weiter gehen? Für das erste persönliche Wort gab es keine zweite Chance. Es musste sorgfältig vorbereitet werden. Nur nichts überstürzen.
Erst an Kasse nahm er flüchtig Notiz vom Titelblatt seines gerade erworbenen Magazins. Ein Busenwunder in ordinärer Pose drohte daraus hervorzuquellen. Überrascht und mit einem Anflug von Scham auf seinem Gesicht rollte Bert das bunte Heft zusammen. So ein peinlicher Missgriff! Was für ein Glück, dass nicht Katja ihn bediente! Was würde sie da von ihm halten!?

Endlich hatte Bert daran gedacht, auf das Namensschild an ihrer Brust zu achten. Er saß in seiner Wohnung und schrieb „Katja Hofmann“ auf die Innenseite eines kleinen Notizblockes. In ihm wollte er die Dienstpläne der Tankstelle entschlüsseln und alle seine Begegnungen mit Katja vermerken. Er führte Buch über die Anwesenheit der Angestellten, die er mit beschreibenden Phantasienamen wie Richard Rotkopf versah. Binnen weniger Tage würde er die Vollzeitkräfte von den Aushilfen unterscheiden können und schon bald das Schichtsystem verstehen. Dann würde er Katjas Wochenenddienste und Freischichten im Voraus kennen. Schade nur, dass er Katjas Telefonnummer unter all den Hofmanns der Stadt nicht identifizieren konnte.

Mit täglich sinkender Fehlerquote stand er auf dem kleinen Parkbereich der Tankstelle. Neuerdings kaufte er sich stets eine Eistüte und schleckte sie im Auto sitzend, während er Katja bei ihrer Arbeit zusah. Wie eifrig und zuvorkommend sie zu jedem Kunden war, freute er sich still. Und doch war er zweifelsfrei davon überzeugt, dass sich ihr Gesicht ganz besonders erhellte, wenn sich die Glastür für ihn öffnete. Ob sie spürte, dass er auch jetzt in ihrer Nähe war? Doch wie nur sollte es nun weitergehen?
Bert grübelte in tausend Varianten darüber nach, wie er das wirkliche Kennenlernen angehen könnte. Er kam zu dem Schluss, dass ihr Arbeitsplatz möglicherweise nicht der geeignete Rahmen für den Auftakt ihrer Romanze war. Deshalb musste er dringend herausfinden, wo und wie sie lebte.

Es war ein Wochenendnachmittag, als er pünktlich zu Katjas Feierabend zur Stelle war. Er wartete, bis sie ihr Fahrrad geholt hatte und folgte ihr in geringem Abstand mit dem Auto. Der Hauptstraße folgend bogen sie schließlich in eine Pflasterstraße, die von herrlichen alten Linden gesäumt wurde, bis zu einem liebevoll sanierten Wohnhaus aus der Gründerzeit. Katja verschwand in der Hofeinfahrt.
Bert freute sich für sie. Ja, in dieser Gegend ließ sich angenehm leben. Das gepflegte Gebäude und die ruhige, fast beschauliche Straße passten zu ihr. Ganz bestimmt war sie hier glücklich und sorglos.
Er parkte das Auto, stieg aus und schlenderte den Fußweg entlang. Am Eingang zu Katjas Haus, der zu beiden Seiten von einem kleinen Vorgarten mit niedrigem, schmiedeeisernem Zaun flankiert wurde, blieb er stehen und studierte die Klingelknöpfe. Schnell hatte er gefunden, wonach er suchte. Katharina Hofmann stand dort. Deshalb also war seine Recherche im Telefonbuch erfolglos geblieben. „Katharina“, sagte er halblaut. Ein Name mit herrlichem Klang. Viel besser als Katja, dachte er und erinnerte sich, dass auch er eigentlich Berthold hieß. Doch Berthold war für ihn ein so unmöglicher Name, dass er nur zu gern auf die zweite Silbe verzichtete. Katharina hingegen ...
Er ging auf die andere Straßenseite hinüber, um sich die Fassade des mehrstöckigen Hauses besser betrachten zu können. Hinter welchem Fenster sie wohl wohnte? Vielleicht schaute sie ja einmal heraus. Doch nein, soviel Glück würde er heute nicht haben.
Er beschloss, ein wenig die Gegend zu erkunden und spazierte jeweils rund hundert Meter in jede Richtung. Bevor er sich auf den Heimweg machen wollte, ging er noch ein letztes Mal an ihrem Haus vorbei. Da sah er sie! Ganz kurz. Im Erdgeschoss, rechts neben dem Haupteingang, blickte sie durch einen Spalt ihrer Vorhänge. In dem Moment, als Bert sie erkannte, war ihr Gesicht ganz nah an der Fensterscheibe. Sofort schnellte es wieder zurück, doch dieser Bruchteil einer Sekunde hatte genügt. Sie war es. Und wie kokett! Zweifellos hatte auch sie ihn erkannt und wollte nicht, dass er bemerkte, dass sie nach ihm sah.
Bert spürte sein Herz tanzen. Der große Augenblick war schon sehr nahe. Eine ganz kleine Hürde noch, und eine Liebe würde sie beide umfangen, wie die Welt sie noch nicht gesehen hat! Jetzt nur einen klaren Kopf behalten, sprach er sich selbst Mut zu. Wie konnte er nur dem größten aller Schritte die Sicherheit geben, die ein Straucheln, so kurz vor der Ziellinie, ausschloss?
Auf dem Heimweg spielte er mit dem Gedanken, ihr einen Brief zu schreiben. Ihre Adresse kannte er nun. Oder sollte er ihr einen Blumenstrauß zukommen lassen, von einem unbekannten Verehrer, bei dessen Identität eine Verwechslung natürlich ausgeschlossen war. Oder er könnte an ihrem Fahrrad die Ventile lockern und ihr dann hilfsbereit zu Hand gehen. Oder die Tankstelle würde überfallen, oder sein Auto könnte sich in der Waschanlage verkanten, oder er würde am hellen Tag mit Sprühfarbe ein Herz auf die Glasfassade malen und Katjas Namen hineinschreiben. Bert lachte stumm und konnte sich nicht entscheiden.

Tags darauf machte er sich wieder auf den Weg, sein Eis zu holen. Er wartete, bis Katjas Kasse frei wurde und steuerte dann zielsicher auf sie zu. Bereits aus einiger Entfernung sahen sie sich an. Bert formte ein Lächeln. Innerlich bis auf das Äußerste gespannt sagte er sich: Jetzt oder nie!
Doch Katja verließ ihren Platz, gerade als er den Verkaufstisch erreichte. Sie verschwand durch eine kleine Tür und Richard Rotkopf kam heraus und kassierte sein Eis ab. Er benahm sich dabei extrem unfreundlich und flegelhaft, stellte Bert fest. Der sollte mal bei Katja in die Lehre gehen. Da könnte er noch einiges darüber lernen, wie man mit Stammkunden umgeht, dachte er ärgerlich und ging.

Er knabberte am Sahnehäubchen seiner Eistüte. Auf dem Beifahrersitz lag sein Notizbuch. Noch ließ sich dieser Tag nicht als erfolgreich markieren.
Durch die Glasfront konnte er erkennen, dass Katja zurückgekehrt war und mangels Kundschaft mit ihrem Kollegen plauderte. Es war einfach Pech. Sicher hatte sie im entscheidenden Moment nur mal kurz zur Toilette gemusst. Sie konnte schließlich nicht ahnen, welche wichtige Weichenstellung für ihr Leben sich ausgerechnet in dieser Sekunde ergeben hätte.
Sollte er noch einmal hinein gehen? Sie einfach an der Kasse anzusprechen schien ihm wieder einmal nicht angemessen. Viel schöner wäre, wenn sie beide allein und ungestört zusammenträfen.
In gut vier Stunden war Katjas Schicht vorbei. Dann aber! Noch heute! Berts Entscheidung war gefallen.

Er fuhr nach Hause und bereitete sich vor - mit einem gründlichen Bad, diversen Duftwässern und mehreren Vorbeimärschen am Spiegel im Flur. Er wollte auf alle Eventualitäten vorbereitet sein, steckte sich Pfefferminzdragees in die Tasche und fand auch ein Kondom, das sich jedoch als überlagert herausstellte. Unterwegs würde er noch Gelegenheit haben Nachschub zu besorgen. Aber war nicht selbst das Hoffen auf einen ersten Kuss bereits ziemlich vermessen? Wer konnte das schon wissen?
Er beeilte sich, denn der Blumenladen an der Ecke würde bald schließen.

Diesmal fuhr er nicht auf das Gelände der Tankstelle, sondern parkte neben der Einfahrt. Eine Stunde noch. Erst dann wollte er vorfahren.
Er verstellte seinen Sitz ein Stück nach hinten, suchte sich einen seichten Radiosender und träumte vor sich hin. Wie wohl ihre Haut sich anfühlen wird? Und ihre Umarmung, und ihr Atem, und vor allem ihre Leidenschaft ...

Die Abenddämmerung hatte begonnen. Bert lenkte den Wagen neben die Waschstraße, zog die Handbremse an und löste den Gurt. „Gleich“, flüsterte er und holte tief Luft. Mit einem Taschentuch wischte er sich den Schweiß von den Handflächen.
Die Flügel der Glastür schoben sich auseinander und Katja kam heraus. Ohne ihn zu bemerken ging sie in Richtung ihres Fahrrads.
Bert griff sich die bereitgelegte Rose und stieg aus. Er spürte, wie ihm die Knie weich wurden. Mit beherzten Schritten folgte er Katja. Er musste sie erreichen, noch bevor sie ihr Fahrrad bestiegen hatte.
„Hallo, Katja“, sagte er und sah sie sich umwenden und aus dem Halbschatten heraustreten. Aus unerfindlichem Grund hielt er die Blume hinter seinem Rücken versteckt wie eine besondere Überraschung.
„Ich habe“, setzte er zu seiner sorgfältig vorbereiteten Erklärung an, als Katja auf ihn zusprang. Sie hielt ein schwarzes Fläschchen in ihrer Hand. Sie führte es vor sein Gesicht. Ein plötzlicher Nebel stob hervor. Ein flammender Blitz nahm ihm die Sicht. Ein glühender Schmerz toste ihm durch Mund und Nase und breitete sich aus. Bert röchelte.
Ein neuer Schmerz überflutete seine Lendengegend. Nur verschwommen nahm er wahr, wie Katja ihr angewinkeltes Knie wieder streckte und einen halben Schritt zurück trat.
Bert strauchelte. Die Beine versagten ihm den Dienst. Erst jetzt ließ er die Rose aus der Hand auf den Boden fallen und versuchte vergeblich, sich abzustützen. Kraftlos und benommen sank er vor Katjas Füßen zusammen.
„Aber“, versuchte er zu sagen, doch er brachte nicht mehr als ein schwaches Keuchen hervor.
Er sah noch, wie Katja die Rose vom Boden aufhob und hörte, wie sie sich mit schnellen Schritten entfernte. Eine kleine Ewigkeit später näherte sich ein Krankenwagen.

Bert hatte einen schweren Gang vor sich. Er musste sein Auto von der Tankstelle zurückholen. Nie wieder würde er danach auch nur einen Fuß hierher setzen.
Unschlüssig schlich er bis an die Einfahrt und zögerte weiter zu gehen. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, die Sache ungesehen über die Bühne zu bringen! Doch er musste hineingehen, weil der Zündschlüssel an der Kasse verwahrt wurde, wie man ihm telefonisch mitgeteilt hatte.
Er überwand sich zum nächsten Schritt auf den Verkaufsraum zu. Die Tür öffnete sich und Katja kam auf ihn zu. Nein! Ein Schreck durchfuhr ihn. Sie dürfte überhaupt nicht hier sein! Er hatte doch extra darauf geachtet!
„Hallo“, sagte sie, „ich bringe dir deinen Schlüssel.“
Bert erwiderte nichts und nahm ihn ihr aus der Hand.
„Es tut mir wirklich Leid“, fuhr sie fort. „Ich habe geglaubt, du willst mich überfallen. Was sollte ich denn anderes denken, als du mich beschattet und aufgelauert hast.“
Bert bemerkte, dass sie etwas hinter ihrem Rücken versteckt hielt.
„Gibt es noch was, oder kann ich jetzt gehen?“
Sie zog ein Päckchen hervor. Oben auf lag sein Notizheft. Wie peinlich! Er konnte das Glühen in seinem Gesicht nicht unterdrücken. Seine intimsten Aufzeichnungen in ihrer Hand.
„Der Arzt hat mir geraten, dich anzuzeigen“, griff auch Bert zum Du. „Es ist strafbar, Pfefferspray auf Menschen anzuwenden. Ich habe darauf verzichtet, aber gemeldet musste es trotzdem werden.“
„Ich weiß. Das war nett von dir. Die Polizei war schon bei mir. Das kann recht teuer werden, haben die mir gesagt. Arzt und Krankenwagen und so.“
Bert sah, dass sich Richard Rotkopf und die restliche Belegschaft der Tankstelle hinter der Glasscheibe versammelt hatten. Prima, dachte er, das Gelächter kann ich mir vorstellen.
„Ich werd dann mal los“, sagte er.
„Hier, noch etwas. Wir haben ein Videoband für dich zusammengeschnitten. Die Überwachungskameras haben alles festgehalten. Vielleicht heute noch ein wenig makaber. Aber bestimmt wirst du es eines Tages ganz locker sehen.“
Bert nahm verwirrt das Päckchen entgegen.
„Wenn du magst“, sagte sie, „können wir doch mal eine Tasse Kaffee zusammen trinken gehen. So als kleine Entschädigung. Ich habe meine Telefonnummer in dein Heft geschrieben. Du weißt ja, wann ich zu Hause erreichbar bin.“
„Mal sehen“, murmelte Bert und ging grußlos zu seinem Auto.

Alles war ein furchtbares Missverständnis, dachte Bert später und ein Fünkchen Hoffnung flammte in ihm auf. Sollte er sie anrufen? Konnte aus so einem verpatzten Anfang noch ein glückliches Ende werden? Die große Liebe, mit Hochzeitsglocken, mit Kinderwagen?
Er stellte sich vor, wie er zur Tankstelle fahren und Wegwerfwindeln kaufen würde. Und Richard Rotkopf würde sich nach Katjas Befinden erkundigen. Und dann, eines Tages, würde sein Sohn ihn fragen: „Papa, wie hast du Mama eigentlich kennen gelernt?“ Und er würde etwas Nettes lügen und erst viele Jahre später ein verstaubtes Videoband hervorzaubern.
Bert lachte über diesen Gedanken und vergewisserte sich, ob Katja wirklich ihre Telefonnummer in seinem Notizheft hinterlassen hatte.



Lutz Schafstädt
07/2002

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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