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Juli 2002
Der Fluss des Lebens
von Ines Haberkorn


Im Grunde ist unser Leben wie eine Geschichte. Szene reiht sich an Szene, Kapitel an Kapitel. Dabei sind wir natürlich bemüht, alles durch saubere Übergänge nahtlos miteinander zu verbinden, eine kontinuierliche Einheit zu schaffen. Trotzdem unterbricht hin und wieder etwas diesen Fluss, hält ihn auf oder zwingt ihn für eine Weile aus seiner gewohnten Richtung. Und dieses Etwas ist manchmal nicht mehr als nur ein kleines Wörtchen wie “Hoppla”.
“Hoppla!”, rief auch Claudia Beyer, als sie über eine Werkzeugtasche stolperte, die neben ihrem Schreibtisch stand und Holger Michel, dem Mann vom PC-Notdienst, gehörte. Der schob erst den Computer, dann sich selbst unter dem Tisch hervor.
“Alles in Ordnung?”
“Mit mir schon”, antwortete sie und rückte die Tasche zur Seite. “Und mit dem Gerät?”
“Das Netzteil ist hinüber. Aber das kann ich nur in der Werkstatt austauschen.”
“Auch das noch.” Claudia verdrehte die Augen. Es war Freitagnachmittag und in ihrem Schreibbüro stapelte sich jede Menge Arbeit, von der zumindest ein Teil am Montag fertig sein sollte.
“Mal sehen”, sagte Holger Michel, während er sich die Werkzeugtasche über die Schulter hängte und den Computer unter den Arm klemmte. “Vielleicht kann ich ihn morgen früh reparieren und nachmittags schon zurückbringen.”
Er hielt Wort, brachte ihn jedoch nicht erst am nächsten, sondern noch am gleichen Abend zurück. Doch damit nicht genug. Am folgenden Tag, es war Samstag kurz vor Mittag, Claudia gönnte sich gerade eine Kaffeepause, läutete das Telefon.
“Michel hier”, hörte sie seine Stimme vom anderen Ende der Leitung. “Ich wollte mich nur erkundigen, ob alles einwandfrei funktioniert.”
“Ob alles einwandfrei funktioniert, weiß ich nicht.” Claudia schmunzelte in ihre Kaffeetasse. “Der PC jedenfalls tut es.” Einige Atemzüge lang war es still, dann ein Räuspern.
“Könnte es sein, dass mein Schraubendreher noch unter Ihrem Schreibtisch liegt?”
Sie steckte ihren Kopf unter die Tischplatte, lupfte die Verkabelung und tatsächlich, da lag er. Keine halbe Stunde später stand Holger Michel vor ihrer Tür und nahm den Schraubendreher in Empfang. Doch anstatt ihn einzustecken und sich danach wieder zu verabschieden, drehte und wendete er ihn nur unschlüssig in den Händen.
“Im Cine-Star läuft ein neuer Film mit Hugh Grant”, sagte er schließlich. “Ich würde ganz gern hingehen und dachte, vielleicht hätten Sie Lust mitzukommen?”
Und ob Claudia Lust hatte. Sie ging leidenschaftlich gern ins Kino und auch Hugh Grant mochte sie ganz gern. AuĂźerdem war sie seit einiger Zeit Single und mit ihren achtundzwanzig Jahren noch lange nicht Willens, das zu bleiben. Ein Date war also nicht unwillkommen.
Der Film war gut gewesen und Holgers Gesellschaft angenehm. So folgten dem ersten Kinobesuch bald ein zweiter, dann ein dritter und schlieĂźlich eine Einladung zu ihm nach Hause.
Er bewohnte die Mansarde eines Mehrfamilienhauses, zwei Zimmer mit Küche und Bad, kleine, gemütliche Räume, nicht eben pompös möbliert; die Wohnstube mit Regalen statt Schränken, einem Aquarium und Sitzsäcken. Auch die Kücheneinrichtung brachte es nicht auf Studioqualität, ausgeplatztes Dekor, rostige Herdplatten, die Polsterbezüge der Sitzecke abgewetzt. Doch das störte Claudia nicht, als sie zusam-men mit Holger Gemüse für ein Chopsuey putzte, den Tisch deckte und Kerzen an-zündete. Sie schwärmte für die asiatische Küche, und wie sich herausgestellt hatte, er ebenso.
“Irre ich mich oder sind deine Augen unterschiedlich gefärbt?”, fragte sie als er das Geschirr abräumte und heißen Sake servierte.
“Du irrst dich nicht. Das eine ist braun und das andere grün. Komisch, nicht wahr?”
“Eher interessant, würde ich sagen.” Aber sie fand nicht nur seine Augen interessant. Wie sie sich insgeheim eingestand, fand sie so gut wie alles an ihm interessant.
“Deine sind grünlich mit kleinen, goldenen Pünktchen um die Pupille”, sagte er und beugte sich über den Tisch zu ihr. “Und wenn du lachst, dann bildet sich ein Grübchen auf deiner rechten Wange.”
“Was du nicht sagst.” Rasch zog sie ihre Hand zurück, griff nach der Tasse mit Sake und nippte daran. Auf seinen Wangen bildeten sich keine Grübchen, wenn er lachte, nur ein paar winzige Fältchen in den Augenwinkeln, aber die machten ihn unheimlich sympathisch.
“Weißt du”, sagte sie einen Augenblick später, “ich mag dich wirklich sehr. Nur, du solltest keine falschen Schlüsse aus meinem Besuch bei dir ziehen, was unsere Be-ziehung angeht und so weiter.” Sie merkte, wie ihr äußerst warm wurde, als er sie an-lächelte. Aber das konnte auch an dem heißen Reiswein liegen. “Ich habe da eine Enttäuschung hinter mir, wie ich sie nicht noch einmal durchmachen möchte. Wenn man acht Jahre mit einem Mann zusammenlebt und dann packt der einfach über Nacht seine Koffer und zieht aus ...”
“Diese Einladung war wirklich nur zum Essen gedacht. Und möglicherweise zum Reden, mehr nicht.” Er griff nach ihrer Hand und streichelte sie. “Ich bin geschieden, weil es meine Frau so wollte. Ich denke, ich verstehe in etwa, was du meinst.”
Und er schien es wirklich zu verstehen. Jedenfalls fühlte sich Claudia in seiner Nähe von Tag zu Tag wohler und geborgener, bis ihr schließlich klar wurde, dass Holger der Mann war, mit dem sie es riskieren würde, eine Familie zu gründen.
“Ich will deine Frau sein, Holger, aber richtig”, sagte sie, als sie an einem Dezem-berabend Hand in Hand durch die verschneiten Straßen von Mittweida spazierten. Inzwischen kannte sie ihn seit fünf Monaten, die ihr vorkamen wie fünf Jahre. “Ich möchte, dass wir zusammenziehen und heiraten. Und ich möchte ein Kind mit dir, eine richtige Familie eben, nicht nur so eine Beziehung, aus der man einfach weggeht, wenn sie einem lästig wird.” Sie spürte, wie sich seine Finger fester um ihre Hand schlossen. “In einem reichlichen Jahr werde ich dreißig, höchste Zeit also, endlich damit anzufangen.”
Nachdem sie das gesagt hatte, schwieg sie und wartete auf seine Antwort. Doch Holger sagte nichts, sondern hielt nur ihre Hand und lief weiter, bis sie die Gärtnerei erreichten, hinter der sie wohnte. Es war still hier draußen am Stadtrand und dunkel. Nur der Lichterbogen in ihrem Bürofenster strahlte in die Nacht und ließ ein paar Schneeflocken funkeln, die seltsam verloren an seinem Licht vorüber zu Boden schaukelten.
“Du weißt so wenig von mir”, platzte Holger endlich in die Stille. “Genau genommen weißt du gar nichts.”
“Was sollte ich denn wissen?”
Holger ließ ihre Hand los. “Du hast mich nie gefragt, warum meine Frau die Scheidung wollte”, sagte er und schob beide Hände in die Anoraktaschen. “Warum hast du nie danach gefragt?”
“Weil ich dachte, dass du nicht darüber reden willst, weil es vielleicht noch immer weh tut.”
“Tut es auch”, entgegnete er und stopfte die Hände tiefer in die Taschen. “Aber aus einem anderen Grund, als du wahrscheinlich annimmst.” Mit hochgezogenen Schultern starrte er vor sich in den Schnee. Dann legte er den Kopf schief und versuchte ein Lächeln. Mehr als eine schiefe Grimasse wurde jedoch nicht daraus.
“Holger,” Vorsichtig streckte Claudia ihre Hand nach ihm aus und streichelte seinen Arm. “wenn du darüber reden ...” Er zuckte so heftig vor ihrer Berührung zurück, dass sie erschrocken innehielt. Gleichzeitig hob er den Kopf, schüttelte ihn, drehte sich um und rannte davon. Fassungslos sah Claudia ihm nach, bis sich seine Silhouette in der Dunkelheit verlor. Dann schloss sie die Haustür auf, rannte die Stufen zu ihrer Wohnung hinauf, warf sich dort aufs Bett und weinte sich in den Schlaf.
Doch als am nächsten Morgen eine blasse Sonne den Horizont erklomm, lichteten sich auch ihre Stimmungswolken. Nein, sie war nicht die Frau, die einfach aufgab. Sie hatte gelernt zu kämpfen. Und wenn Holger ein Problem mit seiner Scheidung hatte, dann wollte sie mit ihm darüber reden. Man konnte über alles reden, sofern man den Mut dazu hatte.
So griff sie, wenn auch mit zitternden Fingern, zum Telefon und wählte seine Num-mer. Der Anrufbeantworter meldete sich.
“Claudia hier”, sagte sie mit kratziger Stimme. “Wir müssen reden. Ruf mich bitte zurück.” Danach legte sie auf und wartete. Vergeblich, denn Holger rief nicht an, nicht am Nachmittag und nicht am Abend. Sie versuchte es über sein Handy. Hier meldete sich die Mailbox, und sie wiederholte ihre Bitte. Als auch der nächste Tag verging, ohne dass er sich meldete, probierte sie es in seiner Firma. Dort sagte man ihr, Holger wäre zur Zeit im Außendienst und wollte ihr die Handynummer geben. Doch die hatte sie schon. Um Rückruf wollte sie hier nicht bitten, bedanke sich frustriert und legte auf.
In ihrem SchreibbĂĽro stapelte sich unterdessen die Arbeit und die Termine drĂĽckten. Einen hatte sie bereits verschieben mĂĽssen. Andere wĂĽrden folgen, wenn sie ihre Zeit weiter fĂĽr einem Mann verschwendete, der ihre Aufmerksamkeit wahrscheinlich gar nicht verdiente, der sie auch wieder nur benutzt hatte.
Wütend hämmerten ihre Finger auf die Computertastatur ein. Eine Affäre, sie war nichts weiter als eine Affäre für ihn gewesen. Kaum sollte es ernst werden, da kniff er. Lag sie denn mit ihrem Wunsch nach Ehe und Kind wirklich so daneben? Oder war er einfach nur ein Feigling?
Die roten Wellenlinien unter den Wörtern häuften sich langsam. Die Rechtschreib-kontrolle war zur Zeit das Einzige, was konzentriert arbeitete. Wenn sie weiter so schusselte, konnte sie es gleich lassen.
Sie schrak zusammen, als es an der Tür läutete. Die Post. Claudia nahm ein paar Briefe in Empfang und gab einige mit.
“Sie sollten in den Briefkasten schauen. Ich glaube, die Alternativen haben was eingeworfen”, sagte die Postfrau und trabte zurück an ihren gelben Transporter.
“Die Alternativen?”
“Na die Konkurrenz, der Kurierdienst.”
“Ach so.” Kopfschüttelnd öffnete Claudia den Briefkasten. Tatsächlich, da lag ein Brief, ohne Marke und Frankierstempel, ein nacktes, weißes Couvert mit nur einem einzigen Wort vorn drauf: Claudia.
Achtlos landeten die anderen Briefe auf ihrem Schreibtisch, nur dieser eine nicht. Auch ohne Absender wusste sie genau von wem er stammte, und nachdem sie ihn eine Weile wütend von einer Hand in die andere geschoben hatte, schleuderte sie ihn ungeöffnet in den Papierkorb. Wie du mir, so ich dir, dachte sie. Doch der Gedanke schmerzte, und sie holte sie den Brief wieder heraus. Ratsch. Fast im gleichen Moment war er auch schon offen, und sie zupfte den Inhalt, ein nüchternes, weißes Blatt Druckerpapier, beschrieben mit krakeligen Worten, heraus. Vergessen war die Arbeit, die Termine, die Kunden. Den Brief in der Hand tigerte sie durch ihr Büro und las.
“Liebe Claudia, du hast mich nie gefragt, warum meine Frau die Scheidung wollte. Du hättest fragen sollen, gleich am Anfang. Dann hätte es uns beiden nicht so weh getan.” Absatz, dachte sie. Hier würde ein Absatz hingehören, aber Holger hatte einfach weitergeschrieben. “Es ist jetzt fast fünf Jahre her. Tina war sehr hübsch und ich wollte, dass andere das sahen. Sie sollte schicke Kleider haben, Schmuck, alles was sich eine Frau eben wünscht.”
“Ach, das also wünscht sich eine Frau?” Claudia lachte zynisch auf. Dann las sie weiter.
“Ich verdiente damals nicht viel. Aber ich war ganz geschickt mit diesen Computer-spielen. Also habe ich mein Glück versucht. Ein paar Mal gewann ich, ein paar Mal verlor ich. Wenn ich verlor, wollte ich das Verlorene zurückgewinnen. Und immer wenn es klappte, verspürte ich diesen Kick. Dabei merkte ich gar nicht wie ich in einen Teufelskreis geriet. Bald drehten sich meine Gedanken nur noch um die Spiele. Ich spielte immer öfter, setzte immer höhere Beträge ein. Anstatt Tina etwas zu bieten, musste ich Schulden machen. Und mit den Schulden kam die Suche nach dem Ausweg.”
Ein Absatz von drei Zeilen ist entschieden zuviel, dachte Claudia und lieĂź den Brief sinken. Eine Zeile genĂĽgt vollkommen. Aber er hatte mindesten drei Zeilen Platz ge-lassen.
“Damals habe ich den Ausweg im Diebstahl gesehen. Ich habe eine Menge Geld unterschlagen und musste ins Gefängnis. Gegen meine Spielsucht habe ich eine Therapie gemacht, aber die Schulden zahle ich noch heute. Tina wollte nicht mit einem Knastler verheiratet sein. Und du bestimmt auch nicht.”
Gern hätte sich Claudia hinter einer weiteren Formregel verschanzt. Doch diesmal fiel ihr keine ein. Sie stand einfach da und blickte auf die krakelige Schrift, die unter ihren Augen verschwamm. “Ich brauche keine schicken Kleider und Schmuck schon gar nicht, hörst du?” Sie schleuderte den inzwischen fleckigen Briefbogen zu der anderen Post auf ihren Schreibtisch. “Und ich weiß, was es heißt, Schulden abzuzahlen. Ich habe mein Schreibbüro nämlich nicht in der Lotterie gewonnen.”
Das Telefon klingelte. Sie ließ es klingeln, zupfte sich ein Taschentuch aus der Packung und putzte sich die Nase. “Erst Ansprüche stellen und dann nicht zu den Folgen stehen. Wie konntest du bloß auf so eine Tussi reinfallen?” Als sie merkte, dass sie laut sprach, knüllte sie das Taschentuch wütend zusammen und schleuderte es in den Papierkorb. Dann raffte sie ihre Handtasche und den Autoschlüssel und hastete aus dem Büro. Schneematsch spritzte unter den Reifen vor, als sie anfuhr. Aber das störte sie nicht, ebensowenig wie das Licht, dass nach wenigen Metern am Straßenrand aufblitzte. Sie interessierte nur das Ziel und das hieß Holger.
“Die Fehler der Vergangenheit sind dazu da, dass man aus ihnen lernt, nicht, dass sie einem für alle Zukunft im Wege stehen”, sagte sie, als er die Tür öffnete. “Du hättest mir das ruhig eher gestehen können oder dachtest du ...” Wütend stapfte sie an ihm vorüber in die Wohnung, stolperte dabei jedoch über den Läufer hinter der Schwelle und landete direkt in seinen Armen.
“Hoppla!”, rief er und mit diesem kleinen “Hoppla” kehrte der Fluss der Dinge ganz unerwartet in seine gewohnte Richtung zurück. Nichts stoppte nun mehr seinen Lauf, und so geschah es, dass sich erneut Szene nahtlos an Szene reihte, Kapitel an Kapitel, dass Claudia und Holger sich am letzten Tag des alten Jahres verlobten, dass sie im April des neuen Jahres heirateten, dass im September der kleine Alexander geboren wurde und dass, wie man vor kurzem in einer Annonce lesen konnte, aus dem Schreibbüro Beyer, der Schreib- und Computerservice Michel wurde.

(c) Ines Haberkorn

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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