Ganz schön bissig ...
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Juli 2002
Liebeserklärung an einen Toten
von Ingeborg Restat


Ein Monolog

Nun bin ich alt und sitze hier an deinem Grab, Michael, auf einer kleinen Bank, deren Farbe so blass ist, als wäre sie von den vielen Tränen, die hier geweint werden, abgewaschen worden. Du hast mich nach einem langen gemeinsamen Leben voller Höhen und Tiefen allein gelassen! Ich möchte aufbegehren, aber es hilft nichts, unser Leben zu zweit ist zu Ende.
Aber ist es wirklich zu Ende? Lebst du nicht in mir weiter, weil du durch unsere tiefe Liebe zueinander, die uns fast ein Leben lang verbunden hat, zu einem untrennbaren Teil von mir geworden bist. So wird es wohl sein, bis an mein Lebensende. Manchmal glaube ich, deine Nähe zu spüren. Mir ist, als bekäme ich auf Fragen in meine Gedanken hinein Antworten von dir. Ich habe das Gefühl, mit dir reden zu können, und vielleicht hörst du mir ja auch zu.
Weißt du noch, wie es damals, kurz nach dem Krieg, in der überfüllten Straßenbahn mit uns begonnen hat? Von den Menschen um uns herum dicht aneinander gedrängt standen wir da, konnten uns kaum bewegen. Obgleich du noch ein Fremder für mich warst, spürte ich schon deine körperliche Nähe, als wäre sie mir seit langem vertraut. Auf unerklärliche Weise machte es mich starr, hilflos, verlegen und doch war alles begleitet von einem tiefen Wunschgefühl, mich noch dichter an dich zu drängen. Dein Lächeln ließ mich meine Augen niederschlagen, aber dann sah ich wieder auf und suchte scheu deinem Blick zu begegnen. Als du wie selbstverständlich, als gehörten wir schon zusammen, versuchtest deinen Arm schützend um mich zu legen, um den Druck der Menschen für mich zu verringern, da empfand ich sogar Geborgenheit bei dir. Ja, so hatte es damals mit uns angefangen.
Bald danach gab es für mich nur noch dich. Ich lebte meine Liebe zu dir, die tiefer und schöner war, als ich sie mir jemals hatte vorstellen können. Ich sehnte mich nach dir, wollte jeden Augenblick bei dir sein, dich spüren und deine Liebe fühlen. Damals fragte man noch nicht: „Gehen wir zu dir oder gehen wir zu mir?“ I wo! Schon nur für einen Kuss mussten wir jede Gelegenheit suchen. Dazu kam noch, ich war ein „anständiges Mädchen“, jawohl, darauf bildete ich mir etwas ein. Sagte Mama nicht immer: „Marianne, nur anständige Mädchen werden geheiratet. Die andern, die den Männern zu schnell nachgeben, werden von ihnen nur benutzt! Denke immer daran!“
Und wie ich daran gedacht habe! Leicht hast du es bei mir nicht gehabt. Wenn deine Hände über meinen Körper glitten, meine Reaktion suchten, dann zog ich mich zurück, noch ehe ich mich vergessen konnte. Du warst verständnisvoll, hast mich nicht gedrängt, nicht versucht, mich zu überrumpeln. Als ich dich später einmal fragte, ob dir das nicht schwer gefallen sei, da hast du nur gesagt: „Aber ich liebte dich doch!“ Nur das hast du geantwortet. Liebe ließ dich geduldig warten, bis ich selbst so weit war, dass alle anerzogenen Hemmungen von meinem eigenen Verlangen verdrängt wurden. Von diesem Moment an gehörte ich untrennbar zu dir, war abhängig von dir und wollte es auch sein.
Wir haben geheiratet, wie es damals noch gar nicht anders sein konnte. Was war das für ein Gefühl, den ersten Morgen neben dir zu erwachen, mich an dich zu kuscheln, und du lachtest, dieses glückliche Lachen. Vorbei die Zeit, wo wir kaum eine Gelegenheit zu einer intimen Begegnung finden konnten. Ich lernte es schnell, dich zu locken, deine Leidenschaft zu entfachen. Dann kamst du als Verführer und warst doch der Verführte. Nie wieder habe ich so bewusst gelebt, wie in dieser ersten Zeit nach unserer Hochzeit. Ich glaubte, es müsse immer so bleiben, Streit könne es zwischen uns nicht geben.
Doch dann begann der Alltag. Plötzlich hast du dich darüber geärgert, wenn ich meinen Kamm im Bad liegen ließ, die Zahnpastatube nicht aufrollte. Ich fand es unmöglich, wie du deine Straßenschuhe mitten im Weg stehen ließest, auch dass du nichts wegräumtest, was du gerade aus der Hand gelegt hattest. Da gab es schon das erste ungehaltene Wort. Ich wollte manchmal tanzen und ins Kino gehen, aber du lehntest es ab. Dabei bist du selbst so manchen Abend allein weggegangen, wolltest aber nicht viel darüber gefragt werden. Dann saß ich voller Groll allein zu Hause. Wenn du schließlich nach Hause gekommen bist, war ich gereizt. Ein Wort gab das andere und bald hatten wir den heftigsten Streit. Dann bedurfte es schon einer innigen Umarmung, um uns zu versöhnen.
Wenn ich mich bei meiner Mutter beklagte, meinte sie nur: „Was willst du? Es geht nicht nur euch so, jedes Paar muss sich zusammenraufen. Jeder bringt nun einmal seine Erwartungen und seine Lebensart mit in eine Beziehung und versucht sie bei dem andern durchzusetzen. Irgendwann habt auch ihr euch einander angepasst. Das schafft ihr schon!“
Aber wir taten uns schwer damit, Michael. Manchmal war es so, als warteten wir nur darauf, den andern verletzen zu können. Ich wollte glücklich sein, aber ich weinte. Das nahm ich dir übel. Und du zeigtest mir, wie unzufrieden du warst. Dann wieder fielen wir uns in die Arme. Wir liebten uns doch; wir verstanden es nicht. Aber schon das erste Wort, eine Frage, die eine Erwartung an den andern stellte, trieb uns erneut auseinander. Wir entfernten uns bei aller Liebe immer mehr voneinander, ohne es wirklich zu merken.
Heute würden wohl zwei Menschen aufgeben und sich trennen, aber noch hielten wir aneinander fest, bis du immer öfter allein weggegangen bist, als würdest du fliehen. Immer häufiger und heftiger haben wir gestritten. Irgendwann wurde ich misstrauisch. Wo bist du hingegangen? So oft zu Freunden oder mit Freunden? Ha! Das hättest du einem andern erzählen können, nicht mir! Aber du wolltest mir gar nichts erzählen, wurdest immer verschlossener. War ich dir gleichgültig geworden? Unser Alltag erschöpfte sich in einem gewohnten Nebeneinander, so, wie es sich mit der Zeit in den ersten Jahren bei uns ergeben hatte. Wenn wir nicht stritten, gingen wir höflich miteinander um. Zu mir, in mein Bett bist du immer seltener gekommen. Warum? Bedeutete dir das nichts mehr? Wenn ich auch nur vorsichtig, aber doch eindringend fragen wollte, wurdest du wütend. „Eine Ehe ist kein Besitzstandsvertrag. Vielleicht kann ich mal einen Weg auch ohne deine Genehmigung gehen. Du kannst nicht einfach über mich verfügen!“, hast du mir entgegengeschleudert.
Ich war ratlos. Ich litt. Gab es eine andere? Ja, es musste eine andere geben. Ich wurde müde des ewigen Streites. So wollte ich nicht leben.
Weißt du, dass ich dich zu der Zeit beinahe verlassen hätte? Ja, ich war schon fest dazu entschlossen. Ich habe es dir nicht gesagt, du hast es nie erfahren. Fünf Jahre waren wir da verheiratet. Doch ich liebte dich noch immer sehr, so schaffte ich es nicht, einfach wegzulaufen. Von Woche zu Woche schob ich es auf, bin verzweifelt gewesen bei dem Gedanken, ohne dich leben zu müssen. Ich wurde stiller, ließ dich gehen, wann und wohin du wolltest, ohne zu fragen. Wozu noch? Ich würde dich verlassen, vielleicht morgen, vielleicht übermorgen.
Seltsam! Gerade da, als ich schon fast auf dem Weg von dir fort war, veränderte sich bei uns etwas. Plötzlich bist du nicht mehr so häufig weggegangen. Hast oft einfach nur dagesessen und mich nachdenklich angesehen. Wenn ich dann deinem Blick begegnete, glaubte ich, wieder deine Liebe zu erkennen. Doch noch hast du schnell weggesehen, als wolltest du es mir nicht verraten. Ich hielt den Atem an und begann zu hoffen. Ich fragte nicht mehr und es gab keinen Streit mehr. Vielleicht hast du gedacht, es wäre mir egal, was du tust; vielleicht hast du nun befürchtet, meine Liebe zu verlieren? War es das, was alles zwischen uns veränderte? Hast du es geahnt, gespürt, dass ich dabei war, mich von dir zu trennen? War deine Liebe doch noch so groß, dass du das so wenig ertragen wolltest wie ich? Ganz langsam, behutsam kamen wir uns näher.
Ich weiß nicht, wann wir das erste Mal wieder zusammen gelacht haben. Aber danach war alles anders. Plötzlich war es da, das Vertrauen. Ich habe nie erfahren, ob es eine andere Frau gegeben hat oder nicht. Es interessierte mich auch nicht mehr, denn unsere Liebe wurde tief und innig, so, wie sie noch nie gewesen war. Voller Leidenschaft suchten wir einander wieder. Es war, als würde unsere Ehe jetzt erst beginnen. Wir wuchsen zusammen, bis wir untrennbar miteinander verbunden waren. Was hätte ich alles versäumt, wenn ich gegangen wäre?
Auch als die intime Begegnung zwischen uns längst zum Alltag geworden war, blieb diese für uns immer noch die innigste Begegnung, die wir hatten. Sie versöhnte uns miteinander, sie hatte die Kraft des Tröstens und war immer wieder die Bestätigung dafür, miteinander eins geworden zu sein.
Jede zweite Ehe wird heute geschieden, sagt man, aber wir haben es geschafft, unsere Krise zu überwinden, Michael, und ein Leben lang miteinander verbunden zu bleiben.
Doch auch unsere Ehe wurde weiterhin nicht nur im Himmel geführt. O nein, sie blieb ein Leben auf dieser Erde, wo es nicht nur Sonnenschein, sondern auch Regen und Gewitter gibt. Aber unsere Liebe, unsere feste Verbundenheit miteinander bewahrte uns davor, es noch einmal so weit kommen zu lassen. Sie machte es uns möglich, Streit zuzulassen, jeden Irrweg, jede Verletzung oder Enttäuschung zu überwinden. Dass wir diese Krise überstanden hatten, hat uns stark gemacht. Wir haben unbeirrt aneinander festgehalten, fast ein ganzes Leben lang.
Mir tun sie Leid, die sich heute oft voller Angst vor jeder Bindung, in eine körperliche Beziehung stürzen. Vielleicht nennen sie es noch Liebe, aber in Wahrheit gelangen sie nie über die körperliche Anziehungskraft hinaus, können nicht finden, was wir gefunden haben, weil sie sich selbst wichtiger nehmen als den anderen.
Du warst mir wichtig, Michael, wie ich dir. Mit dir war ich alles, ohne dich war ich nichts. Du warst zu einem Teil von mir geworden und bist es über deinen Tod hinaus geblieben. Erst wenn mein Leben zu Ende geht, wirst du mit mir vergehen wie ein Schatten in die Dunkelheit.


© Ingeborg Restat

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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