Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Juli 2002
Abschied
von Angelika Walk


In Gedanken versunken lief Kathrin die Straße entlang. Ein Auto hupte, sie sah nicht einmal hoch, obwohl sie Gefahr spürte. Sie lief einfach weiter. Sie kümmerte sich nicht um den tobenden Autofahrer, der wutentbrannt hinter ihr her schrie.
Zuhause angekommen, zog sie sich aus und legte sich in ihr sorgfältig gemachtes Ehebett.
Sie stirrte an die Deckenwand. Sie konnte nicht weinen. Jetzt noch nicht. Sie schloß die Augen und ihr eigener Lebensfilm entführte sie in eine andere Welt.
Die letzten Tage, die letzten Stunden und Sekunden brachten sie zurück in die Wirklichkeit. Vor einer Stunde noch hatte sie an seinem Bett gestanden. Sprachlos, mit einem Lächeln auf den Lippen, sah sie auf den Toten hinab. Sie spürte nichts. Jetzt nicht mehr. Vor einer Stunde noch, ja da hatte sie etwas gefühlt. Etwas ganz und gar unbeschreibliches. Etwas besonderes, starkes und belebendes war mit ihr geschehen, obwohl der innere Schmerz sie fast zu zerreißen drohte.

"Ich muß mal zum Hals-Nasen-Ohren Arzt. Mir tut der Hals weh beim Schlucken!" hatte er gesagt. Der Arzt meinte, er müsse unerträgliche Schmerzen haben.
"Ich habe ein kleines Geschwür im Hals. Nicht weiter schlimm!" hatte Heinz, Kathrins Vater, Wochen später mitgeteilt. Der Arzt schrieb in dem Überweisungsschreiben
für das Krankenhaus: "Größere Geschwulst".
Heinz beruhigte seine Frau: "Es ist nur ein gutartiges Geschwür. Wird weg operiert und damit hat es sich!"
Der Arzt sagte nur eine Woche später: "Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, daß es sich um ein bösartiges Gewebe handelt. Sie haben Speiseröhrenkrebs!"
Heinz glaubte, er habe eine Chance. Einige Tage später stand fest: Krebs im fortgeschrittenem Stadium, keine Aussicht auf Heilung. Höchstens Lebensverlängerung um ein paar Monate mit Hilfe einer Chemotherapie. So beschloß Heinz zu kämpfen.
Für einen Sommer noch!
Kathrins Vater war Optimist. Selbst in dieser Lage gab er allen um sich herum Hoffnung und Zuversicht.
"Dann kämpf ich mal für ein paar schöne Wochen noch. Wenn der liebe Gott mich nun mal holen will, soll er mich haben. Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Und ihr schaut nicht so traurig drein. Schließlich müßte ich traurig sein, oder?"
"Aber ich habe Angst. Und ich will nicht, daß du gerade jetzt gehst. Nicht gerade jetzt!" schrie es in Kathrin, während sie ihren Vater lächelnd ansah, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Gleichzeitig beschlich sie ein schlechtes Gewissen und sie kam sich schäbig vor, ihn so anzugrinsen als habe er gerade einen schlechten Scherz gemacht.

Nach drei Wochen hatte Heinz die Schnauze voll vom Kämpfen. Sinnlose Chemotherapie, unerträgliche Schmerzen und kaum zu ertragende Übelkeit nahmen ihm den Mut. "Lieber Gott, sei gnädig mit mir. Hol mich und laß mich nicht unnötig leiden!" hörte Kathrin ihn flüstern. Panik ergriff sie. Verzweifelt versuchte sie mit Ärzten Kontakt aufzunehmen die ihm sein Los leichter machen sollten. Sie fand ein Krankenhaus in ihrer Nähe und ließ ihn überführen. Sie log ihm das blaue vom Himmel herunter, damit er nicht vollends aufgab. Er fing sich ein bißchen und kümmerte sich wieder ein wenig um sein Aussehen.
Dreimal täglich erschien Kathrin bei ihm am Krankenbett.
Mit einem schlechten Gewissen verabschiedete sie sich bei ihm, wenn sie zurück zu ihrer Familie mußte. Zu Hause beschlich sie das Schuldgefühl, nicht genügend für ihre eigene Familie zu tun. Nur wenn sie bei ihm war, fühlte sie sich einigermaßen wohl. Doch danach hatte sie wiederum Schuldgefühle, weil sie sich so entspannt gefühlt hatte.
"Verdammte Scheiße, hat man sich so gut zu fühlen, wenn man bei einem Sterbenden ist?
Ist es selbstsüchtig, mich in seiner Nähe wohl zu fühlen und einfach glücklich zu sein, ihn noch für ein paar Stunden zu haben. Seine Nähe zu spüren und an nichts mehr zu denken?"
Doch die quälenden Gedanken verschwanden, wenn er sie mit glasigen Augen ansah und fragte: "Gehen wir eine rauchen?"

"Klar gehen wir rauchen!" fast lachend gab sie ihm die Antwort. "Soll ich dir irgendwie helfen?"
"Nichts da! Noch kann ich alles alleine machen, obwohl ich zu meiner Schande gestehen muß, daß ich hin und wieder ziemlich platt bin!", mit diesen Worten raffte er sich und seine künstliche Ernährung sowie andere, diverse Schläuche und Ampullen auf und lief. Noch recht zügig fand er das Raucherzimmer. Dort angekommen, drehte Kathrin ihm eine
Zigarette von seinem Tabak. Für sich ebenfalls eine. Es gab ihr das Gefühl etwas besonderes von ihm zu erhalten. Es durfte sonst niemand seinen Tabak benutzen.

"Vati?" zaghaft und mit großer Angst im Nacken, sprach sie den Vater an, "kann ich mit dir reden? So über früher und so, wie ich klein war und als ich so böse zu dir war. Du weißt schon, als ich schlecht über dich dachte. Ach du weißt schon was ich meine!"
"Ach Kind! Was gibt es da jetzt noch zu reden!" sprach er mit langsam entschwindender Stimme. Er lächelte sie wissend an, wandte sein Gesicht dem Fenster zu und schaute hinaus. Die Augen wurden feucht und seine Gesichtszüge entspannten sich. In Gedanken schien er weit fort zu sein. Kathrin betrachtete ihn. Sie hatte nicht das Gefühl, zurückgewiesen worden zu sein. Nein. Es herrschte unbeschreiblicher Friede zwischen ihr und dem Vater. Es waren keine Worte nötig. Ihre Jugendsünden hatte er ihr wohl schon lange vergeben. Nun versuchte sie verzweifelt, zum Ausdruck zu bringen, wie sehr sie ihn liebte.
All das versäumte nun nachzuholen, da sie ihn lange sehr schlecht behandelt hatte. Er schien es längst zu wissen. Sie wartete auf etwas, ohne sagen zu können worauf. Sie wollte es wohl hören. Immer noch schaute sie ihn an. Als sie merkte, daß er sich die Finger an der Kippe verbrannte, ohne daß er einen Laut von sich gab, wußte sie, daß das Morphium wirkte. Sie mußte ihn wieder auf sein Zimmer bringen. Kathrin versuchte ihn aus seinem Dämmerzustand zu wecken. Nur mühsam gelang es ihr, ihn auf sein Zimmer zu bringen.
Sie setzte sich zu ihm und nahm seine Hand. Sie flüsterte ihm all ihre Liebe entgegen. Doch sie wußte, es würde nicht in sein Bewußtsein dringen. Warum hatte sie nicht den Mut, es ihm einfach zu sagen oder ihn nach seiner Liebe für sie zu fragen? Sie wußte es nicht.

"Ach tue mir das doch nicht an. Was hab`ich nicht schon alles mit dir mitgemacht! Warum tust du mir das jetzt auch noch an?", jammerte die Mutter, die hinzugekommen war. Gottseidank war sie ausnahmsweise nicht hysterisch. Kathrin war nahezu erleichtert, daß sie nur jammerte und nicht schrie, wie an anderen Tagen. Kathrin sah ihre Mutter mitleidig an, aber auch Wut kroch in ihr hoch, als sie mit leiser Stimme zu ihr sagte: "Mama bitte! Wenn hier jemand das Recht hätte zu klagen, dann wäre es wohl er. Und klagt er ein einziges Mal?", versuchte sie, die Mutter zur Vernunft zu bringen. Gleichzeitig hätte sie ihr am liebsten in den Hintern, den die Mutter so gerne vornehm über die Straßen schob, getreten. Was war aus der hochgestochenen, so -möchte-gern-Dame- geworden? Ein Häufchen Elend, das sich angeblich nicht mehr zu helfen weiß! Am liebsten hätte Kathrin ihr in das geschminkte Gesicht geschlagen. Es kam ihr alles so unecht vor, was ihre Mutter da trieb. Kathrin merkte, das sich ihre Wut unkontrolliert auf die Mutter übertrug. Sie tat ihr Unrecht. “Warum werde ich jetzt nur so gehässig?“ dachte sie. Um ihren Vater und sich selbst zu schützen, begann Katrin die Mutter fortzuschicken. Sie schickte zum Kaffeetrinken, irgendwas besorgen. Krampfhaft versuchte Kathrin, die Mutter vom Sterbebett des Vaters fernzuhalten. Wenn ihre Worte in sein Bewußtsein dringen würden, dann gäbe er auf. Doch sie wollte ihn nicht aufgeben.
Denn jeden Tag, der ihr mit dem Vater blieb, wollte sie auskosten. Und wenn es nur schweigend in einem Raucherzimmer stattfinden sollte. Er durfte noch nicht gehen. Noch nicht. Kathrin war noch nicht so weit.

"Komm Vati, Paula kommt gleich. Du mußt dich rasieren und waschen. Du kannst doch deiner ältesten Tochter nicht so ungepflegt gegenüber treten!" weckte sie ihn an einem seiner schweren Tage zärtlich.
"Was will die denn von mir. Kommen sie jetzt alle zugucken wie ich verrecke?"
"Vati, sei doch nicht so böse. Sie kommt von weit her und hat sich extra frei genommen. Das tut ihr doch auch weh!" Kathrin war den Tränen nahe. Sie verriet ihm nicht, daß sie ihre Schwester her zitiert hatte, da der Arzt ihr mitgeteilt hatte, daß das Ende nicht mehr weit sei. Die Schwester hatte ihr nicht glauben wollen, und so mußte Kathrin am Ende des Gesprächs ihrer Wut freien Lauf lassen und sie schrie Paula an: "Beweg deinen Arsch hierher, oder du brauchst an seinem Grab nicht zu brüllen, geschweige denn überhaupt zu erscheinen!"
Kathrins Vater war von 70kg auf 34 kg abgemagert. Mit 52 Jahren hatte er vor ein paar Wochen wie ein 40jähriger ausgesehen und nur so vor Lebensfreude gestrotzt. Sich dieser Tatsachen schmerzlich bewußt, verließ sie das Krankenzimmer, als ihre Schwester samt Ehemann und Kind erschien. Paula folgte ihr einige Schritte durch den Flur und rief:
"Findest du das gut, was du jetzt machst? Kannst du nicht mit mir reden? Aber eins sag ich dir: Du bist nicht mehr meine Schwester. Von mir hast du nichts mehr zu erwarten!"
Kathrin drehte sich um. Ohne eine erkennbare Gefühlsregung schaute sie in die bösen, zornig dreinblickenden, blauen Augen ihrer Schwester. Kathrin weinte nicht, sie sagte nichts. Sie dachte nur: "Was willst du von mir? Was willst du hier. Der Mann in dem Zimmer ist nicht mal dein leiblicher Vater. Mein Fleisch und Blut ist er. Er geht dich doch gar nichts an. Schon gar nicht mit der schlechten Meinung die du mir vor nicht all zu langer Zeit gezeigt hast. Zu deinen Gunsten habe ich viele Jahre auf seine Liebe verzichten müssen. Dir hat er gesagt, daß er dich lieb hat. Mir niemals. Aber vielleicht lag es daran, daß du nicht seine Tochter warst. Dir mußte er es ja irgendwie beweisen!" Immer noch sagte Kathrin nichts. Paula ertrug den geduldigen, aber vorwurfsvollen Blick ihrer Schwester nicht mehr und wandte sich ab.
Kathrin drehte sich um und stieß mit einem ihrer Brüder zusammen. Er war studiert, wie die Mutter immer stolz posaunte. Er mußte wohl auch die Szene mit Paula studiert haben, denn er nahm Kathrin in die Arme und drückte sie fest an sich. Dann flüsterte er ihr zu: "Manche Menschen lernen es nie. Wie kann man in solch einer Zeit Streit austragen. So etwas sollte die Familie doch eher binden als entzweien!" Kathrin befreite sich aus seiner Umarmung.
"Die Kinder warten auf mich. Ich muß gehen!" Traurig ging sie. Auch er war nur ein Halbbruder. Auch er war etwas besseres und hatte den Kontakt zu seinen Geschwistern abgebrochen. Er zeigte sich jetzt zwar einfühlsam, wenn es jedoch vorbei war, würde er nichts mehr von sich hören lassen.
Kathrin interessierte es nicht mehr.
Am Nachmittag saß sie bereits wieder an Heinz Bett. Er bekam eine erhöhte Morphiumdosis. Die Abstände wurden immer kürzer. "Laß mich nicht allein, wenn es soweit ist. Bitte!" flüsterte er mit kaum vernehmbarer Stimme. Hilflos stand Mutter an seinem Bett, krallte ihre Hände in sein Bettlaken und weinte: "Tu mir das nicht an. Bitte tu mir das nicht an!"
Kathrin nahm seine Hand und spürte seinen leichten Händedruck als sie ihm versprach: "Nein Papa, ich laß dich nicht allein. Niemals laß ich es zu, daß du allein bist, wenn es soweit ist. Ich muß mich jetzt um Mutti kümmern. Ich komm gleich wieder!"
Als habe er jedes Wort verstanden, ließ der Druck seiner Hand nach und es schien als schliefe er seit langer Zeit ein wenig ruhiger. Kathrin schickte ihre Mutter nach Hause. Sie sollte Kraft tanken, denn Kathrin ahnte, daß der Zeitpunkt näher kam als ihr lieb sein konnte. Merkwürdigerweise wurde sie immer ruhiger. Sie rannte wieder in Heinz Zimmer, da sie laute Geräusche vernommen hatte.
"Siehst du, sieh genau hin. Ich kann noch rechnen. Sieh hier auf das Ergebnis. Siehst du es. Ich bin nicht verrückt. Noch hab ich meinen Verstand mein Kind!" schrie er Kathrin an.
Er hatte die Fernbedienung für einen Taschenrechner gehalten und ihn vollständig auseinander genommen. "Ja Vati, ich seh. Aber leider kann ich die Zahlen nicht so gut lesen. Ich habe meine Brille vergessen!"
"Dann bring sie gefälligst morgen mit. Ich will daß du siehst, daß ich noch bei Verstand bin!" Wutentbrannt riß er den Halteriemen von dem Bettgestänge und zerpflückte ihn in alle Einzelteile. "Paß auf. Das mach ich wieder ganz, und dann wirst du sehen, daß mich das Morphium nicht klein kriegt!" Nachdem er vergeblich versuchte, den Haltegriff zu reparieren, schmiß er ihn wütend durch das Zimmer. "Nachher, nachher mach ich ihn wieder ganz. Jetzt bin ich müde. Ich glaube, ich muß mich ausruhen. Ich hab soviel gearbeitet. Ich kann nicht mehr arbeiten!" seine Stimme wurde leiser. Er lehnte sich zurück und Kathrin deckte ihn zu. "Ja Vati! Du mußt dich jetzt ausruhen. Du hast wirklich genug gearbeitet. Jetzt schläfst du erst mal ein bißchen!"
Heinz hatte nicht einmal gemerkt, daß seine Tochter ihn anlog. Sie hatte noch nie in ihrem Leben eine Brille gebraucht.
Jetzt wußte Kathrin, was der Arzt gemeint hatte, als er sagte: "Erschrecken Sie sich nicht, wenn ihr Vater plötzlich Dinge tut und sagt, die kein Hand und Fuß haben. Er könnte aggressiv und bösartig werden. Aber denken Sie stets daran, er kann nichts dazu. Das sind die Nebenwirkungen des Morphiums."
Sie streichelte über sein schmal geworden Gesicht und hörte leise Kirchenmusik. Ein Kopfhörer lag unter seinem Kissen. Kathrin lächelte. Dem Pfarrer hatte er den Zutritt in sein
Zimmer verboten, aber heimlich hielt er nun doch Zwiesprache mit Gott. Dann hörte sie ihn sehr undeutlich flüstern. Sie beugte sich hinunter um ihn besser zu verstehen. "Kind, ich bin dir nie böse gewesen. Vertrau mir, auch wenn ich jetzt bald gehen muß!"
Ein beglückendes und schmerzenden Gefühl machte sich in ihr breit. Sie wußte das nur sie gemeint sein konnte. Nur zu ihr hatte er immer gesagt: "KIND" Ein Arzt betrat das Zimmer und schickte Kathrin nach Hause. Sie sollte ein wenig ausruhen, da der Zeitpunkt nicht mehr weit entfernt wäre. Zwei Stunden später rief man sie zu Hause an, sie solle kommen, es ginge mit ihrem Vater zu Ende.

Sie saß an seinem Bett, nahm seine Hand und sagte, obwohl sie wußte, daß es töricht war: "Bitte geh nicht. Laß mich nicht allein. Ich hätte dir noch soviel zu sagen. Doch Worte können nicht ausdrücken was ich dir zu sagen hätte!" Er öffnete die Augen und sah sie an. Sein Blick sagte: "Laß mich gehn. Du bist alt genug und mußt allein zurecht kommen!"
Seine Atmung verschlechterte sich und Kathrin klingelte am Schwesternknopf, wie man es zuvor von ihr gefordert hatte. Der Arzt erschien und nickte. Das Zeichen, daß es nun in wenigen Augenblicken zu Ende sein würde. Kathrin beobachtete, wie der Tod in ihren Vater hineinkroch. Es begann in den Fußnägeln und Fingernägeln. Die rosa Hautfärbung machte einer erst bläulich, dann gelblicher Verfärbung Platz. Sie kroch hoch an seinen Armen, zu seinem Kinn um seinen Mund herum, bis sein ganzes Gesicht eine unnatürliche Färbung angenommen hatte. Plötzlich öffnete Heinz die Augen. Sie waren klar und Kathrin wußte, er ist bei vollem Verstand. Er sah sie an, drückte ihre Hand und versuchte zu lächeln. Seine Hand erschlaffte und seine Augen brachen. Er war fort. Noch keine drei Minuten hatte es gedauert. Kathrin war gelähmt. Seit diese Verfärbung von Ihrem Vater Besitz genommen hatte, spürte sie eine Hitzewelle in sich aufsteigen. Sie hatte keine Angst. Nein, es war ein gutes Gefühl, als hauche er seine Lebensenergie in sie hinein. Die Wärme umhüllte sie wie ein tröstender Mantel. Keine Träne löste sich. Dieses unbeschreibliche gute Gefühl und gleichzeitig der Schmerz des Verlustes ging über ihren Verstand. Der Arzt sah in ihr Gesicht und lächelte, als wüßte er, was Kathrin gerade erlebte. Er legte ihr die Hände auf den Kopf und flüsterte etwas, was Kathrin nicht verstand. Dann schloß er die Augen des Mannes, der gerade verstorben war und verließ den Raum.
Kathrin wußte nun, wie sehr ihr Vater sie geliebt hatte, auch ohne Worte hatte sie begriffen.
Sie nahm die Mutter nicht war, die schluchzend auf ihrem toten Ehemann lag. Kathrin öffnete das Zimmerfenster und ließ frische Luft in den Raum. Sie deckte Heinz noch einmal mit dem weißen Laken liebevoll bis zu den Schultern zu. Sie streichelte sein kaltes Gesicht: "Adieu Vati!" flüsterte sie und küßte ihm die kalte Stirn. Langsam, fast mechanisch bewegte sie sich aus dem Zimmer. Die Mutter saß gefaßter aber immer noch schockiert, auf einem Stuhl und starrte ihren toten Mann an. Kathrin konnte und wollte ihr nicht mehr helfen. Ihr Blick traf ein letztes Mal auf das Antlitz ihres Vaters.
Da lag er. Nicht friedlich entschlummernd, dem Leben entschwunden. Nein, es war ein Kampf. Sie wollte, daß er lebte, er wollte nur noch sterben. Sie haben stumm gegeneinander gekämpft und Kathrin hatte verloren. Aber sie hatte auch etwas sehr wichtiges gewonnen und gefunden.
Liebe braucht man nicht zu beweisen. Sie ist immer da, auch wenn man es nicht merkt.
Wenn es drauf ankommt, merkt man es und weiß es für immer.

Verwundert schaute Kathrin auf die Uhr. Es war später Nachmittag. Seit vier Stunden hatte sie auf ihrem Bett gelegen und nachgedacht. Nein sie konnte noch immer nicht weinen. Sie empfand aber auch keinen richtigen Schmerz, nur ein dumpfes Gefühl des Verlustes.
Erst die Beerdigung löste heilsame Tränen, die sie sich bis dahin verboten hatte. Die UNERLÄSSLICHE Trauerarbeit begann.

Abschied tut weh, aber bleibt niemandem erspart.


(c) Angelika Walk

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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