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Juli 2002
Kreuzberger Gedanken
von Michael Jordan


Wir haben verschlafen. Es ist Dienstag und bereits 14:00. Sohnemann Fabian hatte sein Mittagsschläfchen gehalten und ich hatte mich unfreiwillig angeschlossen. In einer Stunde waren wir mit Christine, seiner Mutter, am Mariannenplatz verabredet. Jetzt hieß es: sputen!

Liebt ihr euch eigentlich noch?
Das fragte mich letztens im Stillen eine Bekannte, nachdem sie einen Streit zwischen uns mitbekommen hatte.
Tss,- ich weiß nicht. Diese Frage hatte sich mir bisher nie gestellt. Und ich denke, wenn man dies tut, ist schon vieles im argen.
Sicher, eine Menge ist bei uns zur Gewohnheit geworden, wie bei anderen auch, aber daraus diesen Schluss zu ziehen?

Ich verwerfe schnell meinen Gedanken, schwinge mich von der Couch und werfe die Kaffeemaschine an. Während das Wasser blubbernd durchläuft, wecke ich Fabian. Der hat schon die Augen offen, strahlt sofort, als er mich sieht, und hat sichtlich gute Laune. Sicher auch, weil er seine Windel gut gefüllt hat.
Windel gewechselt, schnell in die Küche. Papa Kaffee, Sohn Wasser und Knäckebrot. Nein, er muss das nicht essen,- es schmeckt ihm einfach!
Er ist voll guter Dinge, ich selbst bin noch nicht richtig wach.
14:30 stehen wir ausgehbereit an unserer Wohnungstür, 14:34 sitzt er im Kinderwagen, den ich nun vorsichtig auf den Bürgersteig hieve.
Es hat sich hier leider eingebürgert, dass der Großteil der Fahrradfahrer den Gehweg statt der Strasse benutzt. Vergisst man dies, so wird man unweigerlich beim Schritt aus dem Haus erlegt. Diesmal Glück gehabt. Niemand zu sehen.
Dafür ist die Strasse mal wieder total verstopft. Natürlich nicht mit Radfahrern, sondern mit Autos. Stimmt, heute ist Dienstag, Markttag! Einer von zwei Tagen in der Woche, wo man weit und breit keinen Polizisten zu Gesicht bekommt. Sicher nicht aus Verständnis für den Markt, eher aus „Respekt“ vor so viel geballtem Stadtteil. Ideal für Falschparker und Raser!
Könnte man nicht gerade heute die leere Stadtkasse zum klingen bringen?
Da fällt mir wieder die Frage nach „Liebe“ ein. Liebe ich es eigentlich noch, in diesem Bezirk hier zu leben?
Mit der Frage im Hinterkopf geht’s die Bürknerstraße links runter und wieder links auf den Kottbusser Damm.
Auch hier das gleiche Straßenbild. Stau wegen in zweiter Spur parkender Autos. Und das Warngeschrei eines Radfahrers, der mich in Schlangenlinien überholt und seinen Mittelfinger in den Himmel streckt.
Zur U-Bahn. Leider gibt’s Rolltreppen und Fahrstühle nur in den besseren Bezirken. Dafür gibt’s hier Türken. Und die sind die einzigen, die einen beim Tragen helfen. Deutsche haben alle Rückenprobleme…
Ist eben sehr sozial dieser Bezirk…
Ich greife schon mal in meine Tasche, um mein Portemonnaie herauszuholen,- muss jedoch feststellen, dass ich’s vergessen habe. Noch mal in die Wohnung? Ach was, so weit ist es nicht, weiß auch gar nicht, wieso ich auf den Gedanken kam zu fahren. Mache also kehrt und laufe in die entgegengesetzte Richtung zum Kottbusser Tor.
Die Bürgersteige sind total überfüllt; ich frage mich, ob der heutige Markt der Hauptgrund ist. An Geschäften gibt es ja nicht mehr viel. An jedem dritten Schaufenster prangen „Zu vermieten“-Schilder. Irgendwie riecht es stark nach den Anfängen von Verslummung…
Tja, die Läden hier: Döner-Buden, Spielhallen, Ramschläden, Bäckereien, Handy-Läden. Noch und Nöcher. Aber die sind die ganze Woche über hier.
Kein Grund für diese Fülle.
Vielleicht ist es auch die Abwesenheit der Polizei. Jugendtreffs, wo man mal so richtig den BMW-Motor raushängen lassen kann. Irgendwie ein Phänomen: Türkische Jugendliche fahren fast ausnahmslos 3er BMW. Das Prachtstück wird an Tagen wie diesem ausgeführt und in zweiter Spur, oder auch sonst leicht bemerkbar, geparkt. Nachdem die Motorhaube geöffnet wurde, bildet sich schnell eine Traube um den Bug des Fahrzeugs. Alle blicken andächtig auf den zahnbürstenpolierten Motor. Dabei schwingen sie bedächtig mit einer Hand hin und her, schaukeln ihr High-Tech-Handy sorgsam im Wind. In der anderen Hand spielen die Finger mit einem Gebetskettchen. Sollte jemand eine Hand frei haben, so muss er sich damit begnügen, sein goldenes Halskettchen zu liebkosen. Oder bedeutsam auf Teile des Motors zeigen.
Ich werde dieses „Zeigen-was-man-hat“-Denken wohl nie begreifen.
Mittlerweile habe ich mich bis zur Kottbusser Brücke durchgekämpft. Auf der einen Seite das Maybach-, auf der anderen das Paul-Lincke-Ufer. Am Maybachufer zieht sich der Markt entlang, auf der anderen Seite tummeln sich die „Szene“-Cafés. Auf beiden Uferseiten kann man toll spazieren gehen. Flecken von Grün, welches man hier nicht erwarten würde. Überhaupt lebt es sich hier zwar ziemlich zentral „hauptstädtisch“, aber man braucht keinen langen Fußweg, um in den nächsten Park zu gelangen.
Ein paar türkische Frauen haben sich scheinbar getroffen und palavern, dabei eine schier undurchdringbare Mauer auf dem Bürgersteig bildend. Alle sind sie fett eingemummelt in ihre Tücher. Ich komme mir vor, als würde man hier einen weiteren Teil von Star Wars drehen, in dem lauter geklonte Darth Vaders vorkommen. Überhaupt scheinen sich unter den Türken in Berlin alle zu kennen. Unterwegs sieht man überall sich zuwinkende und hupende, sich Begrüßende. Manchmal nervig, aber ich bewundere den Zusammenhalt. Doch ich war an meinem Problem noch nicht vorbei. Nur gut, dass Berlin über so breite Bürgersteige verfügt. Nicht nur, dass diese türkischen Treffen immer mitten im Weg stattfinden, auch wegen der Körperfülle, mit der viele Türkinnen bestückt sind. Keine Ahnung, warum das so ist.
Na ja,- man hatte mich bemerkt und bildete eine Gasse, um mich und die sich hinter mir gebildete Schlange passieren zu lassen. Alle freuten sich über Fabian; einige strichen ihm über das Haar, andere lieferten sich mit ihm ein Wettgrinsen.
Die Kottbusser Brücke hab ich nun hinter mir gelassen und mit ihr das Resultat des „Zeigen-was-man-hat“-Denkens.
Die Brücke dient als Gebrauchtwagenmarkt. Meist relativ neue BMWs…
Die Bürgersteige werden noch etwas breiter und ich kann nun auch schon die Hochbahn erkennen. Hier ist es etwas ruhiger. Vor vereinzelten türkischen Cafés sitzen Gruppen von Männern, trinken in aller Ruhe Tee, spielen Karten oder unterhalten sich. Alle wie immer sehr gut gekleidet. Ohne Anzug scheinen sie nie das Haus zu verlassen.
14:45.
Ich bin am U-Bahnhof Kottbusser Tor angekommen. Über mir donnert die Hochbahn quietschend in Richtung Osten. Ein paar Stationen bis zur Oberbaumbrücke, einem ehemaligen Grenzübergang.
Diese Gegend ist absolut ungeeignet um sich in aller Ruhe umzusehen. Nachts würde ich sogar einen großen Bogen machen. Seit Jahren dient der Platz an einem der U-Bahnausgänge als Treffpunkt für den abhängigeren Teil der Bevölkerung. Bereits morgens wird hier das flüssige Brot in die Mägen gepumpt. Und das ist sicherlich nicht die einzige Droge, derer man hier fündig werden kann. Schlimmer noch der Platz vor Eisdiele und Supermarkt: Von früh bis spät kreisen hier das Bier und ähnlich geistige Getränke. Wenn man dort schon entlang muss: Kopf gesenkt halten, „Ansprachen“ ignorieren. Dann geht’s meist gut. Alles andere steht dann in der Zeitung. Und die Alkis am nächsten Tag wieder hier. Aber tagsüber kommt man meist gut durch. Ja, die paar Strassen hier sind einzig den Deutschen vorbehalten. An Ampeln Autos auflauernd, um sich durch Scheibenputzen Bares für die nächste Halbliterdose zu verdingen. Na ja, ganz ok. Wenn’s nur nicht solche Unmengen wären. Etwas übertrieben, ständig seine Scheiben putzen zu lassen. Manche sitzen auf der Strasse, neben ihrem obligatorischen Hund. Ob man vielleicht ein paar Euros übrig habe. Selten, dass ich einen von diesen jüngeren Leuten richtig verstehe. Sprachtechnisch. Sie verwenden seltsame Wörter in ihren Sätzen. Aus „ch“ , „ss“ und „ß“ wird generell „schschsch“. Am vermeintlichen Ende eines Satzes wird stets: Alter! Gesagt. Wahrscheinlich steht das für Punkt. Satzende.
Sehr schwierig...
Tiefstes SO 36.
Wir laufen weiter die Adalbertstraße hinunter. Rechts auf die Waldemarstraße bis schließlich zum Mariannenplatz. Auch hier ist nichts mehr von dem zu spüren, worüber Ton Steine Scherben einst Hymnen schrieben.
Punkt 15:00.
Wir sehen Christine schon von weitem. Fabian fängt an zu zappeln und zu juchzen und ich beschleunige mein Tempo, um zu ihr zu kommen. Nein, noch nie habe ich bisher einen Gedanken daran verschwendet, ob wir nur noch aus Gewohnheit zusammen seien.
Meine Liebe zu Kreuzberg dagegen war an einem Wendepunkt angelangt.

(c) Juli 2002 Michael Jordan

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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