Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
Paul versank förmlich im strahlenden Blau ihrer Augen. Ihr Blick, ruhig und so voller Güte und Liebe, zog ihn magisch an; ihr Antlitz war schön und rein, so als käme sie nicht von dieser Welt. Paul fühlte sich schwerelos. In seinem Bauch kribbelte es. Alles um ihn herum verschwamm zu einem milchigen Schleier, in dem er nur noch Augen für sie hatte. Langsam näherten sich ihre Gesichter. Paul schloß die Augen. Er würde sich ihr hingeben und ganz in diesem Kuß aufgehen.
Es war nicht mehr als ein Hauch, als ihre vollen Lippen die seinen berührten.
Paul fuhr hoch. Verdammt! Jedes mal das Gleiche. Immer wenn er von seiner schönen Unbekannten träumte, wachte er an exakt der gleichen Stelle auf. Es war zum Heulen. Es war wie beim Pay-TV. Man bekam lediglich die Trailer serviert, die immer im spannensten Moment sagten: „Für nur 10,- Euro erfahren sie, wie es weiter geht, mit Paul und der Unbekannten.“
Ganz toll! Lange hatte Paul überlegt, warum er immer wieder von ihr träumte. Er war sich sicher, daß er sie noch nie gesehen hatte. Auf der anderen Seite gab es keinen Zweifel, daß sie wirklich existierte. Natürlich wußte Paul, daß es schwachsinnig war. Die Möglichkeit, daß es sie wirklich gab, war verschwindend gering; und doch, irgend Etwas tief in ihm wußte, das es sie gab.
Und diese Kopfschmerzen gingen ihm auch langsam aber sicher auf den Geist. Wo waren die Aspirin?
Paul hatte die Unbekannte sogar gezeichnet –als Kunststudent eine seiner leichtesten Übungen- und seinen Freunden gezeigt. Doch niemand wollte ihm abnehmen das eine Traumgestalt sich irgendwo in Hamburg manifestiert hatte und nur auf ihn wartete. Immer wieder bekam er gesagt, er solle einmal ausspannen. Schließlich würde es nicht schaden mal ein Semester auszusetzen und in den Urlaub zu fahren. Wahrscheinlich hatten sie auch recht und Pauls Suche war wirklich ein sinnloses Unterfangen. Doch was wäre wenn es sie wirklich gab? Dann würde er die Chance seines Lebens verpassen.
In Eigenregie hatte Paul Plakate mit seiner Telefonnummer und dem Antlitz der schönen Unbekannten drucken lassen -natürlich hatte er die Vorlage selbst gezeichnet- und überall in Hamburg angebracht. Doch bis jetzt hatten sich nur einige Spaßvögel gemeldet. Paul hatte dann jedes mal so getan, als wüßte er von nichts und etwas von einem schlechten Scherz gemurmelt.
Langsam wurde es Zeit, daß er aufstand um einzukaufen. Schließlich stand das Wochenende vor der Tür und Robby, einer seiner besten Freunde, schmiß eine Geburtstagsparty.
Nach einer Katzenwäsche, zog er sich ein frisches T-Shirt über und zwängte sich in seine Jeans.
Zum Glück hatte er einen Supermarkt direkt vor der Tür, so daß er seinen alten, klapprigen Opel Kadett stehen lassen konnte.
Draußen war es angenehm warm und Paul ärgerte sich. Er hätte genau so gut seine Shorts anziehen können. Jetzt würde er sich wieder einen Wolf schwitzen. Er ignorierte den Drang umzukehren und sich umzuziehen. Statt dessen spurtete er über die Hauptstraße und setzte spielerisch über den Zaun zum angrenzenden Parkplatz hinweg. Er bahnte sich seinen Weg durch die Automassen, die hier standen oder, auf der Suche nach einem Parkplatz, hier herumschlichen.
Paul schlenderte an den Einkaufswagen vorbei, geradewegs auf den Eingang zu und wäre dabei fast gestolpert.
Er traute seinen Augen nicht. Da stand sie. Seine Traumfrau. So, als hätte sie dort bereits auf ihn gewartet. Strahlend schön war sie, wie die aufgehende Sonne. Ihr liebliches Gesicht, eingerahmt von langen, glatten, schwarzen Haaren, sogar ihr weiter, langer Mantel. Sie sah genau so aus, wie in seinen Träumen.
Pauls Herz begann zu rasen, als er sah, daß ihre dunklen, tiefgründigen Augen, ihn liebevoll musterten. Sie hatte ihn also bereits gesehen. Vielleicht hatte sie ja ebenfalls von ihm geträumt und hatte sich genau so auf die Suche nach ihm gemacht, wie er nach ihr.
Seine Knie zitterten, als er langsam und etwas unbeholfen auf sie zu ging. Früher hätte er sich eher die Zunge abgebissen, als ein Mädchen wie sie anzusprechen. Doch jetzt hatte er sie gefunden und er würde sie bestimmt nicht gehen lassen, bevor er ihr gesagt hatte, was er empfand. Schließlich war die Chance, daß er ihr erneut über den Weg lief, wohl ziemlich gering. Doch wie würde sie reagieren, wenn sie von einem abgehalfterten Studenten mit ungewaschenen Haaren, so einfach von der Seite angequatscht wurde? Schließlich war Paul nicht gerade ein Traumtyp, dem man auf der Straße nachschaute. So viel Realismus hatte er noch behalten.
Paul blieb direkt vor seiner Traumfrau stehen.
»Hi!« Am liebsten hätte er sich geohrfeigt. Nein, wie plump er doch sein konnte. Er rechnete schon mit einigen mißbilligenden Blicken als er aufsah, doch sie lächelte. Sie lächelte ihn tatsächlich an. Jenes warme und liebevolle Lächeln, auf daß er sich jeden Abend freute, wenn er ins Bett ging. Am liebsten wäre er vor ihr auf die Knie gefallen, nur um ihr zu zeigen, wie ernst es ihm war. Schließlich faßte er sich ans Herz: »Ich weiß, das klingt blöd, aber ich habe dich schon überall gesucht!« Paul überschlug sich fast. »Bitte, du mußt mir glauben, daß ich kein Perverser oder Verrückter bin. Ehrlich nicht. Seit Wochen träume ich Nacht für Nacht von Dir. Ich habe sogar schon Bilder von dir gezeichnet, weil du mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wolltest.« Paul spielte verlegen mit seinen Fingern. »Ich kann das wirklich gut... die Bilder meine ich. Vielleicht möchtest du sie mal sehen? Ich wohne gleich da drüben...« und wieder hätte sich Paul am liebsten geohrfeigt. Nein, wie billig! So versuchten doch höchstens Proleten bei einer Frau zu landen.
Doch sie schien in keinster Weise mißmutig zu sein. »Bitte glaube mir,« setzte Paul erneut an, »daß war jetzt nicht so gemeint, wie es sich vielleicht anhörte, es ist nur so... daß... daß ich so unendlich viele Fragen habe und einfach nicht weiß, wo ich beginnen soll.«
Ihr lächeln wurde mit einem mal noch herzlicher. Sie griff Pauls Hand und ging mit ihm in die Richtung, aus der er gekommen war.
Das war doch eigentlich unmöglich. Absichtlich schrammte er an einem Abfalleimer entlang, nur um sicher zu gehen, daß dies nicht wieder ein Traum war. Das schmerzende Bein belehrte ihn schließlich, daß es sich keineswegs um einen Traum handelte. Doch wo gab es schon eine Frau, die nach kaum fünf Minuten, mit einem nach Hause kam. Eigentlich konnte das doch nur ein Traum sein, denn Paul kannte niemanden, der etwas Ähnliches schon einmal erlebt hatte.
»Gehen wir jetzt zu mir?« Fragte er zaghaft.
Sie sah ihn an und nickte leicht.
»Ich werde mich auch ganz sicher benehmen.« Und schon wieder war sein Mundwerk schneller als der Kopf. Er hätte sich auf die Zunge beißen können. »Äh... es ist nicht so, daß ich mich sonst nicht benehmen kann, wenn du verstehst, was ich meine? Ich würde nie etwas tun, was dich verärgern könnte.« Allmählich dämmerte Paul, daß er sich langsam aber sicher um Kopf und Kragen redete. Doch die Schöne schien das überhaupt nicht zu stören. Sie fing sogar an zu kichern. Nicht dieses Kichern das einem sagte: „Oh man, bist du blöd!“ Nein, es war vielmehr eine herzliche, sympathische Freude.
Sie erreichten den Hauseingang und Paul bedauerte es fast, daß er nicht mehr Hand in Hand neben ihr gehen konnte. Galant öffnete er ihr die Tür zu seinem Einzimmerappartement und ließ sie eintreten. Doch sofort verzog er das Gesicht. Wo hatte er nur seine Gedanken? Seine Bude war das reinste Schlachtfeld. Schnell huschte er an ihr vorbei und schleuderte einige Unterhosen, die auf einem Sessel lagen in die Ecke, während er in bester Fußballmanier ein paar verdreckte T-Shirts unters Bett beförderte.
Wieder mußte seine schöne Besucherin lachen. Paul hielt inne, als er diesen hellen, glockenklaren und lieblichen Ton vernahm. Was soll’s, dachte er. Wenn sie bis hier her mit gekommen war, dann schien sie ihn wirklich zu mögen. Da waren doch so Kleinigkeiten, wie Aufräumen, das Nebensächlichste der Welt. Statt dessen machte er einen Stuhl am Fenster frei und bot ihr an, sich zu setzen. Dann holte er seine Zeichnungen hervor und zeigte sie ihr. Dabei begann er zu erzählen, wann er das erste mal von ihr geträumt hatte und wie oft; auch daß er sie seit dem suchte ließ er natürlich nicht aus. Als er geendet hatte, sah er sie lange, prüfend an, und es dämmerte ihm, daß seine lebendig gewordener Traum noch nicht ein Wort gesagt hatte. Ja, vielleicht konnte sie auch gar nicht sprechen oder sprach eine andere Sprache.
Seiner Meinung nach, gab es nur einen Weg das heraus zu finden.
»Ich... ich liebe dich,« stammelte er. So, jetzt war es raus. Er hatte gesagt, was zu sagen war und jetzt konnte kommen, was da wolle.
»Ich weiß,« hauchte sie und Paul merkte, daß er jeden Moment ohnmächtig wurde. »Auch ich liebe dich.«
Jetzt hielt Paul nichts mehr. Er viel seiner Geliebten um den Hals. Erkonnte sein Glück, welches er gerade in den Armen hielt, kaum fassen. Paul begann zu weinen.
Er wußte nicht wie lange sie so da saßen, doch schließlich besann sich Paul wider und sah seine Traumfrau an. »Sag mal, wie heißt du eigentlich?«
Sie lachte erneut. »Hier unten lautet mein Name Johanna.« Ihre Worte waren wie Balsam für seine Seele. Aber Moment mal, was hatte sie da gesagt? »Was heißt denn hier unten?« Wollte er schließlich wissen. »Hast du auch noch einen anderen Namen?«
»Für meinen himmlischen Namen gibt es hier unten keine Worte.« Paul schüttelte innerlich den Kopf und so langsam keimte in ihm der Verdacht, daß er das Opfer einer riesigen Verlade geworden war. »Ja klar,« spöttelte er, »ich würde ihn aber trotzdem gerne hören.« Da öffnete sie den Mund und gab einige wundervolle Töne von sich, die wie ein lieblicher Gesang anmuteten. Paul saß dort mit offenem Mund und staunte. So etwas hatte er wahrhaftig noch nicht gehört.
»Willst du mir etwa sagen, daß du ein Engel bist?«
Sie nickte zu Antwort. Ihre Bewegungen waren graziös, wenn auch kaum wahrnehmbar. »Tut mir leid,« begann er, »ich nehme dir ja gerne ab, daß du wie ein Engel aussiehst. Du bist das hübscheste Geschöpf, das mir je unter gekommen ist; aber du willst mir doch nicht allen Ernstes weis machen, daß du ein richtiger Engel bist; mit Flügeln und allem drum und dran!?«
»Ich bin, was ich bin,« erwiderte sie. Paul schüttelte den Kopf. Nein, das konnte nicht sein; das durfte einfach nicht sein. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Die Kopfschmerzen begannen ihn zu malträtieren, doch die waren mittlerweile Nebensache. Das alles war doch völliger Schwachsinn. Engel gab es nicht, das war wissenschaftlich bewiesen oder so.
Gerade überlegte er verzweifelt, was er jetzt sagen könnte, als es mit einem mal im Zimmer merklich dunkler wurde. Scheinbar waren dunkle Wolken aufgezogen; dabei war der Himmel eben doch nach strahlen blau gewesen.
Paul blickte auf und traute seinen Augen nicht. Johanna hatte sich erhoben und den weiten Mantel abgestreift und nun stand sie da. In einem weiten, hellen Gewand und mit schneeweißen, ausgebreiteten Schwingen. Riesige Flügel nahmen nahezu die gesamte Fensterfront ein. Richtige Flügel mit Federn, wie von einer gigantischen Taube.
Paul sank ehrfürchtig auf die Knie. »Warum bist du gekommen?«
»Ich bin gekommen um Dich zu holen.« Sie blickte ihn fast mitleidig an. Jetzt dämmerte es ihm. »Ich werde sterben, nicht wahr?« Johanna nickte traurig.
Tränen rannen über Pauls Gesicht. »Meine Kopfschmerzen?« Schluchzte er fragend. Wieder Nickte der Engel und strich sanft eine Träne von Pauls Wange.
»Ich... ich habe Angst,« stammelte er.
Johanna jedoch nahm ihn sanft in den Arm und wisperte: »Ich weiß, deswegen hat man mich geschickt. Ich werde dich begleiten.« Schließlich wurde Paul merklich ruhiger.
»Werde ich dich wieder sehen?« Sie nickte, »Wir werden für immer zusammen bleiben. So ist es vorherbestimmt.«
Langsam näherten sich ihre Lippen den seinen. Sie breitete die Flügel schützen aus, als sich ihre Lippen berührten. Pauls Körper erschlaffte.
Der Engel jedoch blickte zum Himmel auf und weinte.
(c) Olaf Deutz
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