Ein Gong klang durch die Bahnhofshalle und übertönte die Geräuschkulisse aus scheppernden Kofferrollen, Klacken eiliger Schritte und Gesprächsfragmenten der Menschen um mich herum. „Auf Gleis 6 fährt ein der Metropolitan aus Paris-Nord, planmäßige Ankunft 18.47 Uhr. Die Wagen der ersten Klasse...“. Ich hörte nicht weiter hin. Gebannt schaute ich auf den Punkt, an dem der Zug um die Ecke bog und in den Bahnhof glitt. Ich liebte die Atmosphäre auf dem Bahnhof, das geschäftige Hin und Her der Menschen, Wiedersehen und Abschiede, Freude und Schmerz.
Diesmal spielte ich auch eine kleine Rolle in diesem Spiel. Meine Schulfreundin Astrid kam nach 15 Jahren das erste Mal wieder nach Lüneburg und ich hatte versprochen, sie aus Hamburg abzuholen. Für uns alle überraschend folgte sie der Einladung zum Klassentreffen. Gleich nach dem Abitur hatte sie unsere Stadt, die Clique und ihren Freund Sebastian Knall auf Fall verlassen. Besonders für Sebastian war es eine qualvolle Zeit gewesen. Ab und zu erhielt ich Lebenszeichen von ihr aus aller Welt. Gleich nach dem Studium war es steil bergauf gegangen mit ihrer Karriere als Nachrichtenkorrespondentin. Sie berichtete von den Schauplätzen der Politik, London, Moskau, Palermo, aufgeregt zeigte ich meinen Kindern im Fernsehen diese Frau: „Hej, das ist Astrid, mit der ich zur Tanzstunde gegangen bin. (Ich erzählte nichts von unseren ersten alkoholischen Exzessen, vom Kiffen und schon gar nichts von unseren Abenteuern bei der Friedensdemo). Seit drei Jahren bekam ich Ansichtskarten aus Paris. Ich wäre froh gewesen, mal drei Tage in Paris zu verbringen. Mein Leben war anders verlaufen als Astrids, gleich nach dem Abi war ich schwanger mit Benjamin geworden, hatte Michael geheiratet. Zwei Jahre später war Mai Britt auf die Welt gekommen. Wir wohnten noch immer in einem Anbau auf dem Grundstück meiner Eltern.
Der Zug hielt an und nicht weit von mir stieg eine Frau in einem schwarzen Regenmantel aus. Es war Astrid, sie kam mir lächelnd entgegen. Ein Gürtel betonte die Taille, die Lippen schimmerten rot, die dunklen Haare fielen glatt und gepflegt bis zur Schulter – Astrid sah aus wie eine echte Französin. Wie hatten wir es nur zulassen können, uns 15 Jahre nicht zu sehen? Sie hatte sich verändert, sah großstädtisch aus. Ich entdeckte auf die Schnelle keine Falten, ich suchte vergeblich nach Spuren der Art: “Ich bin vielleicht beruflich sehr erfolgreich, aber glücklich bin ich nicht.“ Sie sah einfach großartig aus. Wir gingen aufeinander zu, einen Moment war ich bange, ob die alte Vertrautheit erlaubt wäre, dann gab ich mir einen Ruck und schloss sie in meine Arme.
„Hallo Susanne,“ sagte sie. „Ich freue mich so!“
Ich spürte, dass die alten Bande bestanden. Wir waren zwar unterschiedlicher, als man sich denken konnte und unsere Lebenswege hatten uns weit auseinander gebracht, aber wir hatten diese geheimnisvolle Verbindung, die besagte: „Freundinnen, warum auch immer und für immer“.
Sie sprach wenig, auf dem Weg zum Auto hakte sie sich bei mir unter und schaute sich neugierig um.
„Willst Du nicht doch bei uns wohnen?“ Ich hätte sie gerne bei uns untergebracht, aber Astrid bestand darauf, ins Hotel zu gehen, auch bei ihrer Mutter wollte sie nicht übernachten.
Während der Fahrt blieb sie schweigsam, bewunderte die aufragenden Ziegelhäuser der Speicherstadt, die in der Abendsonne glühten.
Ich dachte über ihre Mutter nach, eine schrullige Person. Sie war Bibliothekarin in der Lüneburger Uni gewesen, aber ihre große Leidenschaft galt dem französischen Film. Astrid und ich hatten alle Vorführungen gesehen und uns mit heilloser Verspätung zum Existentialismus bekannt. Eifrig nervten wir alle mit missionarischem Eifer.
Ich brachte Astrid ins Hotel, wir verabredeten uns für den nächsten Nachmittag bei mir zuhause.
Astrid kam beladen mit Geschenken. Michael war noch etwas distanziert, immerhin war Sebastian sein Freund und Michael hatte mit seinem Freund gelitten. Sie schenkte ihm ein Buch über das historische Paris und eine Flasche Saint Emilion, womit er sich für zwei Stunden auf das Sofa verzog und beiden Geschenken auf den Grund ging. Für Mai Britt hatte sie ein pinkfarbenes rückenfreies T-Shirt von NafNaf mitgebracht, was wir ihr nie erlaubt hätten, für Benni ein St. Germain-Tricot von Ronaldinho. Ich bekam einen Briefumschlag, auf dem stand: „Für Susanne. Bitte nicht vor meiner Abreise öffnen“. Mit Nonchalance und geschickter Bestechung hatte sie die Herzen meiner Lieben im Sturm erobert und für hochsommerliche Festtagsstimmung in unserem Haus gesorgt.
Das Taxi brachte uns sicher zu der Scheune, in der früher unser Jugendclub war. Hier hatte ich vor 14 Jahren meine Hochzeit gefeiert und vor zwei Jahren Sebastian die seine. Sebastian tat mir leid, niemand in der Stadt konnte ihn ansehen, ohne an die alte Geschichte zu denken. Auf seiner Hochzeit konnte man es an den Gesichtern der Gäste ablesen. Die Frauen dachten, „Arme Hanne, sie weiß, dass sie nicht seine große Liebe ist.“ Die Männer knurrten in ihre Bärte: „Na endlich hat er den Mist überwunden, Hanne ist großartig“.
In der Scheune hingen Fotos von unserer Schulzeit, überall von den Wänden blinzelten verlegen Schüler und Lehrer. Ein wunderschönes Bild von Astrid und Sebastian prangte über der Erdbeerbowle, sie mit schwarzem Rolli und langen Haaren, er mit blonden Locken.
Er war schon da. Wir entdeckten ihn am Lehrertisch und steuerten auf ihn zu. Er wurde blass. Ich murmelte was von „zu Trinken“ und verzog mich. Als ich später mit zwei Gläschen Bowle zurück kam, waren die beiden verschwunden.
„Auch gut“, meinte ich zu mir selbst und gesellte mich zu einer lustigen Truppe.
Nach einer ganzen Weile schaute ich mich um, konnte die beiden immer noch nicht entdecken. Ich ging nach draußen, mein Magen und mein Gleichgewichtssinn litten unter der gärenden Mischung aus Eierlikörflip und Erdbeerbowle. Neben der Scheune zweigte ein kleiner Weg Richtung Wald ab, vielleicht waren sie dorthin gegangen. Ich sollte sie mal suchen. Nach einer Weile sah ich sie auf einer Bank sitzen. Sie waren in ein Gespräch vertieft und hatten mich nicht bemerkt. Ich blieb hinter einem Holunderbusch stehen. Und lauschte.
„Warum sagst du mir nicht die Wahrheit?“
Sebastian sah sauer aus. Astrid wirkte unsicher.
„Es gab jemanden, aber der war nicht der Grund für meinen Entschluss.“
Stefan haute die unschuldige Bank mit der rechten Faust.
„Ich hab es doch gewusst, ich hab es doch gewusst!“
Ich hatte es nicht gewusst, hätte es wohl auch jetzt nicht wissen sollen, aber ich war gebannt von der Szene und konnte mich nicht losreißen.
Astrid schaute ihn an, sie atmete tief durch.
„Ich habe auch von dir und Frau Schneider gewusst.“ , sagte sie leise.
Sebastian fiel die Kinnlade runter, ich fast längs in den Busch. Sebastian sollte was mit unserer Biologielehrerin gehabt haben? Wohlwollend gerechnet war sie 20 Jahre älter als er. Aber das fand ich gar nicht mal so tragisch, sondern hauptsächlich veränderte das meine Perspektive auf Sebastian.
„Ach du meine Güte,“ jammerte er. „Gott, ist mir das peinlich.“
Sah ich da einen Anflug von Triumph in Astrids Gesicht? Sie hätte es damals leichter haben können, wenn sie die Geschichte erzählt hätte. Keiner hätte ihr den Abgang übelgenommen.
„Hör auf“, beruhigte sie ihn. „Erzähl mir lieber, ob du glücklich bist mit deiner Frau und deiner Tochter.“
Sebastian hatte Tränen in den Augen.
„Ich bin so durcheinander. Ich, ich ... es war nicht richtig von mir damals.“
Astrid nahm Sebastians Hand und zog sie rüber zu sich. Sie rückten näher zusammen. Sebastian schaute sie an und strich mit einer zärtlichen Geste über Astrids Wange. Sie schloss für einen Atemzug die Augen und genoss die Liebkosung.
Mir wurde langsam mulmig zu Mute. Jetzt sollte ich wirklich fortgehen. Ich konnte jedoch den Blick von den beiden nicht lassen.
Sebastian küsste Astrid. Es war ein leidenschaftlicher Kuss, den sie erwiderte. Sie streichelten einander und es war zu spüren, dass die beiden sich einst sehr gut gekannt hatten. Ich blieb angewurzelt neben dem Holunder stehen und starrte mit brennenden Augen auf die Umarmung der beiden, die sich sehr von der zärtlichen Routine unterschied, die sich in mein Eheleben eingeschlichen hatte.
Es ist schwer, sich von solch einer Szene zu entfernen. Noch schwerer, wenn man konfus und nicht ganz nüchtern ist. Ich versuchte es, blieb an einer Baumwurzel hängen und fiel auf den Weg.
Die beiden schauten über die Banklehne.
Ich lief puterrot an.
„Ähm, also, ach so, hier seid ihr!“, stotterte ich. Scheiße, dachte ich und rappelte mich hoch.
Einen Moment lang herrschte ein quälendes Schweigen. Astrid brach die Stille.
„Hast du dir wehgetan?“
„Ich weiß nicht, mein Knie tut weh.“ Ich schaute an mir herab, mein Knie war aufgeschürft und schmutzig.
„Na, da braucht wohl jemand ein Pflaster.“ Astrid grinste und erhob sich von der Bank. Ich stützte mich auf ihre Schulter, als wir zurück gingen.
„Das nennt man eine Notbremse.“, flüsterte sie mir ins Ohr. „Du hast uns vor richtigen Dummheiten bewahrt. Kleines Unglück verhindert großes Unglück!“
Ich kam mir alles andere als heldenhaft vor.
„Ich habe euch belauscht.“, beichtete ich.
„Red mit keinem drüber.“, bat mich Astrid. „Das sind Geschichten von früher, die sind aus und vorbei. Wen interessiert das?“
Ich hätte ihr auf Anhieb 20 Personen nennen können, aber ich ließ es sein.
Wir blieben noch eine Weile auf dem Fest, bis wir uns alle ein wenig beruhigt hatten. Ich freute mich auf zu Hause, auf meinen Michael und dankte, wem auch immer, dass meine Liebe dem Mann galt, mit dem ich glücklich war.
Wir fuhren gemeinsam zurück und verabschiedeten uns vor meiner Haustür.
„Was wollt ihr nur tun?“ , fragte ich Astrid.
„Gar nichts, Susanne. Auch wenn ich heute noch Bauchkribbeln bekomme, wenn ich an ihn denke, würde ich nicht glücklich werden mit ihm. Das weiß ich genau. Aus irgendeinem Grund liebt man nicht immer die Person, mit der man es gut aushält. Und außerdem ist es jetzt zu spät für uns. Er gehört zu Hanne und zu seiner Tochter. Und ich vielleicht zu Malcolm.“
Astrid reiste am nächsten Tag ab. In dem Briefumschlag von ihr waren Unterlagen von einem Reisebüro. Drei Tage Paris für zwei Personen.
(c) Gudrun Gülden
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