Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Christine Köck IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Juli 2002
Sacré Coeur
von Christine Köck


In der Rue de Lille im Quatier Latin steht gegenüber der Zuckerbäckerei ‚la tart’ ein kleines merkwürdiges Häuschen. Drin wohnt Madame Ancolie. Einige halten den Namen für etwas sonderbar, andere halten Madam Ancolie für etwas sonderbar, Fakt ist, dass Madame Ancolie eigentlich eine ganz reizende ältere Dame ist, mit einigen sonderbaren Angewohnheiten. Jeden Sonntag im Sommer geht Madam Ancolie zu einer Bank an der Seine, die unter einer großen Linde steht, öffnet ihre kleine Handtasche und wirft den Enten ein paar Brotkrumen zu.
Sie trägt ein braunes, etwas altmodisches Kostüm, mit passenden braunem Hut, einer Handtasche und niemals einen Regenschirm. Sie ist eine kleine Person, fast zierlich und man erkennt in ihren Augen, den Sinn für einen feinen etwas ironischen Humor.
Jeden Sonntag im Sommer sitzt sie dort und man könnte sie für eine große Vogelfreundin halten. Ihre Lippen bewegen sich pausenlos und was sie den Vögeln dort zuflüstert, bleibt ihr kleines Geheimnis. Madame Ancolies Sommer dauert exakt vom 21. Mai bis zum 31. September, dann beginnt ihre persönliche Winterpause, die von einigen Enten sehr bedauert wird.

1936 sah man von der Rue de Lille aus noch das Sacré Coeur. Jeden Sonntag ging die junge Mademoiselle Ancolie, den Blick auf dem heiligen Herz Paris’ ruhend, bis zur Seine. Dort blieb sie an dem Brückengeländer gelehnt stehen und warf ein paar Brotkrumen ins Wasser. Es war schon immer eine Angewohnheit von ihr, in den Tiefen ihrer Handtaschen ein paar Brotkrümel für hungrige Vogelschnäbel zu haben. Eine Angewohnheit, die sie nur während der sechs Jahre des Krieges ablegte.
Und an einem wunderschönen Sonntag im Mai trafen sich die Wege des Monsieur Pierre Goldmann und Mademoiselle Ancolies. Besser gesagt traf Mademoiselle Ancolie Monsieur Goldmann. Der junge Student entging den wachsamen Augen seiner Pensionsinhaberin, indem er an diesem Sonntag ein kühles, aber erfrischendes Bad in der Seine nahm. Gerade als er prustend aus dem Wasser tauchte, trafen eine Handvoll Brotkrümel seinen Kopf. Diese Brotkrümel waren der Auslöser eines wundervollen Sommer.
Ab diesem Sonntag trafen sie sich immer an dieser Stelle und spazierten an der Seine entlang. Unendlich viele Geschichten wurden gesponnen. Und während den Unterhaltungen versank sie in dem Blau seiner Augen und er verirrte sich in ihren braunen Locken. Der wachsamen Pensionsinhaberin entging der fiebrige Glanz in den Augen ihres jungen Schützlings nicht. Kein Wunder, wer in der Seine badet holt sich leicht eine Erkältung.
Sie stahlen Honig aus dem einzigen Pariser Bienenstock, der auf dem Dach der Oper stand und Pierre wurde fürchterlich zerstochen. Sie kühlten ihre erhitzen Gemüter in der Seine und tanzten abends in einem kleinen Café zu den Klängen eines alten verstimmten Akkordeonspielers. Sie schworen sich ewige Liebe und flochten ihre Finger auf eine Art und Weise ineinander, die nur Verliebten möglich ist.
Sie mochte seine manchmal etwas raue Art, seine großen Hände mit den Schwielen in der Handfläche, die so wunderbare Bilder malen konnten. Die zwei Falten über der Nasenwurzel, die immer etwas tiefer wurden, wenn er nachdachte. Er hatte diesen für Deutsche typischen Akzent, und wenn er ihr im Bett zuflüsterte ‚Sche t’aime’, lächelte sie und flüsterte zurück: ‚oui, sche t’aime aussi’.
Seit einem Jahr lebte er in Paris. Sein Freund Willi hatte große Reden gehalten, Flugblätter verteilt. Sie hatten in der kleinen Saarbrücker Studentenkneipe gesessen und geredet und geraucht und noch mehr geredet, bis ihnen der Kopf geraucht hatte. Er hat ihn bewundert für sein Engagement, seine Begeisterungsfähigkeit und seinen Verstand.
‚Peter, sie werden einen jüdischen Maler schneller erschießen, als Du ‚Stop’ rufen kannst.’
‚Aber ich lebe doch mein ganzes Leben schon hier. Ich gehöre hier hin. Ich bin viel mehr deutsch, als jüdisch. ich will mich nicht verstecken.’
‚Frankreich. Peter: das ist deine Chance. Sieh’ es nicht als Verstecken, es ist einfach ein wunderbares Land. Mit wunderbaren Menschen.

‚Wie recht er hat,’ dachte Peter, als ein Lichtstrahl kleine Goldfunken in ihren Locken zauberte. Sie öffnete nur kurz die Augen, lächelte dieses bezaubernde Lächeln: ‚Pierre...’ und schlief weiter ihren Kopf in seiner Armmulde. Frankreich war ein wunderbares Land mit wunderbaren Menschen, besonders mit einem.

Der Krieg begann, für viele Menschen ging eine Welt unter. Der Kontakt zu seiner Familie riss plötzlich ab. Er wusste noch nicht einmal, was ein KZ überhaupt ist.
Peters Glaube an dieses wunderbare Frankreich wurde stark erschüttet, als er im September 1939 nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu einem "sujet ennemi", zu einem feindlichen Ausländern, erklärt wurden. Alle politisch verdächtigen Männer und Frauen wurden in Lagern im Süden Frankreichs interniert. Was an Peter ‚politisch verdächtig’ sein sollte, wusste keiner, am wenigsten Peter selbst.

Warum er seinen Namen geändert hätte?
Weil er sich anpassen wollte, ‚Pierre’ ist einfach die französische
Form von ‚Peter’.

Was er für Briefe nach Deutschland geschrieben habe?
Briefe, Briefe an seine Familie, ganz normale Briefe...

Was er für Freunde in Deutschland hätte?
Freunde...

Was er hier für Freunde hätte?
...
Seiner Pensionsinhaberin kam er schon die ganze Zeit so komisch vor...

Viele der feindlichen Ausländer wurden nach der deutschen Besetzung von der Kollaborationsregierung in Vichy ausgeliefert. Peter Goldmann, jüdischer Maler, war einer von ihnen.
Madame Ancolie ist eine große Vogelfreundin.
Ihre knotigen Hände tasten ein letztes Mal auf dem Boden ihrer Handtasche herum, um einer kleinen, jungen Ente noch einen letzten Brocken zuzuwerfen, dann steht sie auf.
Sie hat es nicht eilig. Mit der Metro sind es nur zwei Stationen, bis zu ihrem Sohn, Pierre Ancolie.

(c) christine köck

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
Dieser Text enthält 5929 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren
Copyright © 2006 - 2025 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.