Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
In der Rue de Lille im Quatier Latin steht gegenüber der Zuckerbäckerei ‚la tart’ ein kleines merkwürdiges Häuschen. Drin wohnt Madame Ancolie. Einige halten den Namen für etwas sonderbar, andere halten Madam Ancolie für etwas sonderbar, Fakt ist, dass Madame Ancolie eigentlich eine ganz reizende ältere Dame ist, mit einigen sonderbaren Angewohnheiten. Jeden Sonntag im Sommer geht Madam Ancolie zu einer Bank an der Seine, die unter einer großen Linde steht, öffnet ihre kleine Handtasche und wirft den Enten ein paar Brotkrumen zu.
Sie trägt ein braunes, etwas altmodisches Kostüm, mit passenden braunem Hut, einer Handtasche und niemals einen Regenschirm. Sie ist eine kleine Person, fast zierlich und man erkennt in ihren Augen, den Sinn für einen feinen etwas ironischen Humor.
Jeden Sonntag im Sommer sitzt sie dort und man könnte sie für eine große Vogelfreundin halten. Ihre Lippen bewegen sich pausenlos und was sie den Vögeln dort zuflüstert, bleibt ihr kleines Geheimnis. Madame Ancolies Sommer dauert exakt vom 21. Mai bis zum 31. September, dann beginnt ihre persönliche Winterpause, die von einigen Enten sehr bedauert wird.
‚Wie recht er hat,’ dachte Peter, als ein Lichtstrahl kleine Goldfunken in ihren Locken zauberte. Sie öffnete nur kurz die Augen, lächelte dieses bezaubernde Lächeln: ‚Pierre...’ und schlief weiter ihren Kopf in seiner Armmulde. Frankreich war ein wunderbares Land mit wunderbaren Menschen, besonders mit einem.
Der Krieg begann, für viele Menschen ging eine Welt unter. Der Kontakt zu seiner Familie riss plötzlich ab. Er wusste noch nicht einmal, was ein KZ überhaupt ist.
Peters Glaube an dieses wunderbare Frankreich wurde stark erschüttet, als er im September 1939 nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu einem "sujet ennemi", zu einem feindlichen Ausländern, erklärt wurden. Alle politisch verdächtigen Männer und Frauen wurden in Lagern im Süden Frankreichs interniert. Was an Peter ‚politisch verdächtig’ sein sollte, wusste keiner, am wenigsten Peter selbst.
Warum er seinen Namen geändert hätte?
Weil er sich anpassen wollte, ‚Pierre’ ist einfach die französische
Form von ‚Peter’.
Was er für Briefe nach Deutschland geschrieben habe?
Briefe, Briefe an seine Familie, ganz normale Briefe...
Was er für Freunde in Deutschland hätte?
Freunde...
Was er hier für Freunde hätte?
...
Seiner Pensionsinhaberin kam er schon die ganze Zeit so komisch vor...
Viele der feindlichen Ausländer wurden nach der deutschen Besetzung von der Kollaborationsregierung in Vichy ausgeliefert. Peter Goldmann, jüdischer Maler, war einer von ihnen.
Madame Ancolie ist eine große Vogelfreundin.
Ihre knotigen Hände tasten ein letztes Mal auf dem Boden ihrer Handtasche herum, um einer kleinen, jungen Ente noch einen letzten Brocken zuzuwerfen, dann steht sie auf.
Sie hat es nicht eilig. Mit der Metro sind es nur zwei Stationen, bis zu ihrem Sohn, Pierre Ancolie.
(c) christine köck
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