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Juli 2002
Felix mit der Mundharmonika...
von Hanno Erdwein

Felix mit der Mundharmonika
oder: "Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist ..."

Im Juli ins Krankenhaus. Ein ganz schöner Scheiß! Was hatte
sich mein rebellischer Körper da schon wieder ausgedacht?!
Zum Glück lag ich allein. Zwar ein Zweibettzimmer, aber das
andere Bett blieb glücklicherweise leer. Schwester Anke,
eine Augenweide mit Kittel und Häubchen, fragte ab und an
nach, ob mir was fehlen würde. "Gesundheit und frische
Luft." Ich wies dabei auf den sonnigen Tag vor dem Fenster.

Nun, beklagen konnte, wollte ich mich nicht. In wenigen
Tagen würde ich operiert. Und mit viel Glück war ich dann
binnen zwei Wochen wieder unter Menschen. Den Leerlauf hier
würde ich schon mit Lesestoff und Radio hören überbrücken
können. Griff nach links und holte mir Hesses
Glasperlenspiel vom Nachttisch. Endlich fand ich Muße, mich
durch diesen hochinteressanten Wälzer zu ackern.

"Herr Conrads?" Ich legte den Finger zwischen die Seiten und
sah hoch. Ein wenig verlegen kam Schwester Anke näher: "Wir
haben eine dringende Bitte an Sie." Was hatte die hübsche
Person nur, dass sie so zaghaft Anstalten machte, mich um
etwas zu bitten. Und weshalb verwendete sie den Plural?
"Wenn ich helfen kann?" "Sie können durchaus", lächelte sie
eine Idee verkrampft. "Nur raus mit der Sprache!" Es würde
eine längere Unterhaltung. Ich schickte Hesse erst mal
schlafen und schob ihn unters Kopfkissen. Die
Stationsschwester zog einen Stuhl heran und nahm Platz. Doch
ihr Interesse galt vorerst einer Taube, die auf dem
Balkongeländer hin und her trippelte. Endlich ruckte ihr
Blick zu mir rüber. Sie räusperte sich und begann stockend:
"Ja, Herr Conrads, Sie könnten uns einen großen Gefallen
tun." Was konnte ich schon groß tun! Ich, ein hilfloses
Etwas mit einer Geschwulst im Gekröse, von der mir noch
niemand sagen konnte, ob sie bösartig sei. "Um was geht es
denn?" "Sie liegen auf einem Zweibettzimmer ..." Ich hob die
Hand: "Kein Thema, Schwester Anke. Legen Sie ruhig jemanden
zu mir rein." Im stillen dachte ich, wenn's nicht anders
geht. Hoffentlich ist es kein Schnarcher und Dummschwätzer.
Meine spontane Zusage ließ sie schon ein wenig
unverkrampfter aussehen. Aber da kam noch was. Ihre Finger
nestelten nervös am Schürzenband: "Ja, es geht eigentlich
darum, dass wir Sie verlegen müssten. Aber ... nur dann, wenn
Sie einverstanden sind." Verlegen? Wohin denn verlegen? Das
Zimmer gefiel mir überaus. Frühsonne vor dem Fenster.
Vogelgesang aus dem nahen Park. Und hier sollte ich raus?
Die Ablehnung musste mir im Gesicht gestanden haben.
Schwester Anke beeilte sich, zu versichern: "Es sind zwei
wirklich reizende Menschen, zu denen Sie aufs Zimmer
kommen." Oje! Ein Dreibettzimmer! Ein Albtraum! Von zwei
Seiten gleichzeitig beschnarcht und mit Hirnmüll eingedeckt
zu werden! Mehr Horror war kaum denkbar. "Hmmm - muss das
sein?" "Es geht leider nicht anders zu arrangieren. Und es
tut uns wirklich leid, weil Sie ja so ein netter Mensch
sind." Verbaler Blumentrost! Was nützte mir das, wenn ich
doch aus meiner Oase des Friedens raus musste. "Und wer kommt
dann hier rein? Der Scheich von Saudi Arabien?" Jetzt
lächelte sie zum ersten Mal: "Nicht ganz. "Ein junger Mann.
Sehr krank und behindert." "Den hätten Sie doch ruhig zu mir
legen können." Sie schüttelte ihr Häubchen: "Er ist so
krank, der Ärmste, dass er besondere Betreuung braucht. Seine
Schwester wird das zweite Bett benötigen." Ich fand das
alles ein wenig kurios. Schwieg aber, um die gute Seele
nicht zu kränken. "Und wann soll ich hier raus?" "Wenn es
geht, schon heute Nachmittag."

Ralf und Heinz. Ersterer ein maulfauler Sauerländer. Der
andere ein rheinischer Dickwanst. Mich hatten sie zwischen
die beiden geschoben. Und ich fühlte mich als Pufferzone
inmitten der beiden Gegensätze. Heinzens loses Maul stand
selten einmal still. Mein Hesse vertrug das nicht. Ich
verbannte ihn im Nachtkasten. "Wat liest du da auch für'n
blödes Zeug", kommentierte das rheinische Ekel ungefragt
meine Lektüre. Ralf sah derweil starr an die Decke und
grinste in sich hinein. Na ja, das fing ja hübsch an!

Die Laboruntersuchungen nahmen einige weitere Tage in
Anspruch. Um Heinzes Gelaber aus dem Weg zu gehen, hielt ich
mich vorzugsweise in der Sitzecke des Flurs auf. Rauchte.
Schaute in den Park hinunter. "Ah, wieder beim Sündigen
erwischt." Schwester Ankes Zeigefinger drohte schelmisch.
"Ich würd das Rauchen mal einstellen", hatte der OP-Arzt
geknurrt. Und das ignorierte ich geflissentlich. Die
tadellosen Beine der Schwester steuerten auf mein ehemaliges
Zimmer zu. Poch-Poch. Bei mir hatte sie nie angeklopft. Also
doch ein Saudischer Scheich? Der Kopf einer leicht
angejahrten Dame erschien im Türspalt. Ihr Blick fixierte
die Schwester. Schwenkte auch über mich weg. Dann erst
wurde zum Eintritt geöffnet. Hui, war das spannend! Ich warf
ein flüchtiges Auge ins Innere. Im Bett und mir abgewandt
ein dunkelhaariger Mann. Auf dem Nachttisch eine
Mundharmonika. Dann klappte die Tür wieder zu. Das war meine
erste Begegnung mit Felix.

Eine weitere folgte tags darauf im Labor. Druck messen. Blut
abzapfen. Speichel. Blick auf die Fieberkurve. Und da kamen
sie zur Tür herein: Felix und seine Schwester Margit. Im
kühlen Neonlicht des Labors erkannte ich, woran Felix litt:
Down-Syndrom, im Volksmund eher als Mongolismus bekannt.
Eigentlich hätte mich der Anblick des krankhaft entstellten
Kopfes und dieses Gesichts verunsichern müssen. Aber das tat
es nicht. Den jungen Mann umgab etwas, was sich kaum in
Worte fassen lässt. Eine Aura, eine Ausstrahlung (es klingt
kitschig, trifft aber den Kern) reiner Liebe. Die
Laborschwester, für gewöhnlich mürrisch und recht grob wenn
sie die Nadel einstach, lächelte sogleich. Von maulfaul
verfiel sie augenblicklich in einen leichten Plauderton und
hob die Stimme um fast eine Oktave. "Einen Moment Herr
Conrads, Sie bekommen noch ein Pflaster. Halten sie mal
derweil den Wattebausch." Drückte mir meinen Unterarm gegen
den Oberarm. Wandte sich zwitschernd an die Geschwister:
"Na? Schon eingelebt? Hübsch! Dann wollen wir mal." Felix
sagte kein Wort. Brauchte nichts zu sagen. Seine Anwesenheit
genügte. Seine Augen waren beredt genug. Margit stand
ebenfalls wortlos neben ihm und hielt seinen Arm, während
die Laborantin verbale Purzelbäume vollführte und sich dabei
zu schaffen machte. Das war unglaublich! Ich raffte es
nicht. Hatte derlei noch nie erlebt. Aber das sollte erst
der Anfang sein.

Heinz ging mir mit seiner Penetranz mächtig auf den Senkel.
Von Ralf war außer ein paar sauerländischen Urlauten nicht
viel zu erwarten. Ich hatte mir die Kopfhörer übergestülpt
und kurbelte am Walkman. Inmitten der Stahlbetonwände war
der Empfang mittelmäßig berauschend. Also drückte ich auf
die Starttaste des Players und hörte mir noch mal Beethovens
Fünfte an. Heinz kam aufgeregt hereingeplatzt: "Wisst Ihr,
was da auf Zimmer 9 wohnt?" Ralf hob fragend die Brauen. Ich
schloss meine Augen, um den Schluss des ersten Satzes besser
genießen zu können. "Mensch, das ist ein Mongole! Jetzt
kriegen die auch schon hier Asyl!" Heinzens Stimme kippte
vor Entrüstung hoch ins Falsett. "Und das von unseren
Steuergroschen!" "Du und Steuer zahlen!" Erstaunt sah ich
Ralf an. Der hatte tatsächlich mal was gesagt. Auch Heinz
guckte verdutzt. "Red keinen Scheiß! Du zahlst nicht einen
Heller von Deiner Frührente." "Hab aber lange genug
eingezahlt", warf sich der Kölner in die Brust. Mein
wortkarger Bettnachbar winkte ab und drehte sich zur Wand.
Sollte heißen: "Leck mich am Arsch." Auch Heinz kroch unters
Bettdeck und nörgelte noch eine Weile vor sich hin. Ich
drehte Beethoven ein paar dB lauter und vertiefte mich in
den zweiten Satz.

Mitten in einer Pianissimo-Stelle hörte ich Klänge, die
nicht dahin passten. Stoptaste und die Hörer vom Ohr gepellt.
Was war das? Wo kam das her? Leise schwebende Klänge. Zart,
harmonisch und dennoch wie vom Zufall produziert. Ralf und
Heinz spitzten ebenfalls die Ohren. "Mensch! Da spielt einer
Mundharmonika mitten in der Nacht." Der Kölner wollte schon
wütend aus dem Bett springen. Besann sich aber. Blieb liegen
und schloss die Augen. Ralfs Züge wirkten gelöst und
entspannt. Und auch nach mir griff es mit zarten
spinnwebfeinen Klangfäden. Ein eigenartiger Zauber ging von
dem Gehörten aus, dem sich niemand widersetzen konnte. Das
sollten wir an den Folgetagen noch stärker empfinden.

"Mensch! Hab ich geratzt!" Mein geschwätziger Nachbar gähnte
mit zahnlosem Mund und kratzte sich Schuppen aus dem
Struwwelhaar. "Was war denn das diese Nacht?" Er sah uns
ratlos in die Augen. Wir zuckten mit den Schultern. "Ganz
schöne Frechheit, nachts Musik laufen zu lassen. Werd mich
gleich beschweren." Schnürte den Morgenmantel zu und
schlappte hinaus. Ralf senkte den Blick, als wolle er sagen:
Dem ist eh nicht zu helfen. Zu unserem großen Erstaunen, kam
Heinz kurz darauf strahlender Laune zurück: "Alles klar! Das
war der Kleine von Zimmer 9. Ein Goldjunge!" Uns blieb der
Mund offen. Dann fragte ich vorsichtig: "Ich denk, Du hast
was gegen Mongolen?" Heinz wär mir fast an die Gurgel
gesprungen: "Hab ich nie behauptet. Ãœbrigens ist Felix in
Ordnung. Ein liebenswerter Kerl. Wir verstehen uns auf
Anhieb." Und dabei blieb es.

Schwester Anke kam am Nachmittag mit dem OP-Termin für mich:
"Morgen früh um halb zehn." Das fuhr mir dann doch mächtig
in die Glieder. "So rasch schon?" "Da hat jemand getauscht.
Und weil Sie doch bald nach Hause wollen ..." Für mich hieß
das, bis zum Morgen stramm im Bett liegen. Medikamentöse und
psychische Vorbereitung. Meine beiden Zimmergesellen nahmen,
soweit es ihnen möglich war, Rücksicht auf mich. Zwar hatte
Heinz ab und an seinen Koller. Drosselte aber die Lautstärke
auf ein Minimum. Um elf kam die Schwester noch mal durch.
Streichelte mir die Hand. "Wird schon gut gehen, Herr
Conrads. Wenn sie morgen Nachmittag aufwachen, ist alles
überstanden." Gab mir noch was zu trinken, worauf ich ins
Nebelhafte abtauchte. Stunden tropften hin. Die Kirchturmuhr
zerschlug die Zeit in Viertelstunden. Es war, als hörte ich
sie durch Watte hindurch. Und dann kamen auch wieder diese
zarten Harmonika-Klänge. Umwehten, umgarnten mich und trugen
mein Bewusstsein auf leichten Flügeln davon. Wie ich
letztlich in dieses Land kam, wie es hieß und mit welcher
Art von Wesen es bevölkert war, wusste ich nicht. Eines aber
war deutlich zu spüren: Hier herrschte die vollkommene
Harmonie. Mildes Licht. Wärme. Einklang des Wollens, das
nicht auf sich selbst fixiert war. Zum ersten Mal in meinem
Leben fühlte ich mich geborgen und wohl. Zum ersten Mal war
ich völlig wunschlos.

Irgendwann riss der Vorhang des Wohlseins. "Herr Conrads! Sie
müssen umsteigen." "Hab keine Fahrkarte gelöst", knurrte ich
ungehalten. Ein feuchtes Tuch fuhr mir übers Gesicht, was
mich ein wenig aus dem Nebel holte. Neben meinem Bett stand
ein Rollwagen. Schwerfällig und mit Gummigliedern kroch ich
aus dem Bett auf die Liege. Wurde augenblicklich wieder
zugedeckt und hinausgefahren. Von der Umgebung nahm ich kaum
etwas wahr. Nur einmal, es muss am Ende des Gangs gewesen
sein, bevor sich die Tür des OPs geöffnet hatte. Jemand
stand bei meiner Liege und beugte sich über mich. Leise
gaumige Laute drangen an mein Ohr. Dann schaltete sich die
Übersetzerin ein: "Felix wünscht Ihnen Glück und will für
sie beten." Im Normalfall hätte mich das maßlos geärgert.
Ich bin nicht gläubig und mag derlei nicht hören. Hier aber –
und das war das Seltsame an der Sache - freute ich mich
über die Zusage. Die Hand des Jungen drückte meinen Arm. Mit
der anderen führte er das Instrument an den Mund und
entlockte ihm jene vertrauten Laute, die wir bereits
mehrmals gehört hatten. Sie schwebten mir nach, als ich
bereits in den Operationssaal geschoben wurde. Ich vernahm
sie immer noch, als der Nebel sich allmählich lichtete und
mein Bewusstsein wieder verfügbar war.

"Sie haben da eine kleine Narbe am Bauch", dozierte der OP-
Arzt mit verschränkten Händen hinterm Rücken. In wenigen
Tagen haben wir den Befund der Gewebeprobe und wissen
Bescheid." Also weiterhin entnervendes Abwarten. Heinz
versuchte mich auf seine verschrobene Art zu trösten:
"Ãœbermorgen bin ich dran. Dann schneidet man mir die
Prostata auf." Wie er das rüberbrachte, klang das, als wär's
eine Heldentat. Und wenn Schwester Anke im Zimmer zu tun
hatte, kam der Kölsche regelmäßig auf sein Lieblingsthema zu
sprechen: "... und dann hatte man mir den Damm aufgemeißelt.
Hammerhart sag ich Euch. Hab eine hübsche Narbe
zurückbehalten. Wollt Ihr mal sehen?" Wir wollten nicht. Und
die Schwester floh durch die Tür.

Ich kam rascher auf die Füße, als ich gedacht hatte. Und so
ließ ich mich denn auch wieder auf dem Flur nieder. Die
Ledersessel waren allzu bequem. Auch die Verdauungszigarette
schmeckte bereits. Am Nebentisch wurde Mau-Mau gespielt.
Ralf und Felix Schwester Margit. Der Junge saß mir gegenüber
und hatte den Kopf auf die Arme gebettet. Die kleine
einoktavige Mundorgel lag neben ihm. Noch vor wenigen
Minuten hatte er musiziert. Nun aber war sein Kopf nach
vorne gesunken. Margit sah kurz zu ihm rüber: "Lasst ihn nur.
Die Ruhepause braucht er." Hob eine Karte vom Stoß und legte
ab. Im Zimmer bereitete man Heinz auf den Eingriff vor.
Immer wieder hatte er volltönend behauptet: "Ich hab keine
Angst. Ich war Frontkämpfer." Ein Unsinn, den man ihm anhand
seines Geburtsjahrs rasch widerlegen konnte. Der Gute hatte
allenfalls als Pimpf den Vormarsch der Alliierten aufhalten
helfen. "Ich bin auch verwundet", vertraute er uns an. "Hab
einen Splitter in den linken Hoden bekommen. Wollt Ihr mal
sehen?" Wir rissen uns nicht gerade darum, Heinzens intime
Physis zu begutachten. "Lass mal. Du hast morgen eine Narbe
mehr." Und damit ließen wir ihn allein.

Und Heinz kam nicht zu uns zurück aufs Zimmer. "Was ist los?
Wo steckt er?" Die Stationsschwester wollte nicht recht mit
der Sprache heraus. Dann aber erfuhren wir es doch. Er lag
am anderen Ende des Gangs im Waschraum. "Endstadium",
urteilte Ralf, nachdem er einen langen Blick auf den
Zimmerkameraden geworfen hatte. Und später erfuhren wir mehr
Details: Die Prostata war krebsig vergrößert. Und auch in
der dahinterliegenden Blase hatten sich Metastasen breit
gemacht. Sich bei Heinz aufzuhalten, wurde zur Qual. Er
litt an einem permanenten Schluckauf. Mochte unser Kumpel sein
wie er wollte. Dieses Ende hatte er nicht verdient - hatte
niemand verdient.

Noch zwei qualvolle Tage dauerte es, bis Heinz erlöst war.
Aber er blieb nicht ohne Beistand. Immer, wenn wir an dem
Waschraum vorüber kamen, drang jene gläsern feine
Harmonikamusik an unser Ohr. Felix saß an Heinzens Liege,
hielt mit der einen des Sterbenden Hand und bewegte das
Instrument mit der anderen langsam vor dem Mund. Das Gesicht
des Kölners, grau und eingefallen, spiegelte einen inneren
Frieden wieder. Die Schluckaufkrämpfe kamen seltener. Wenn
er für kurze Momente die Augen öffnete, hing sein Blick an
dem des Jungen. Und ein nicht mehr irdisch zu nennendes
Leuchten strahlte daraus zurück.

Freitag Morgen stand ich auf dem Gang und hatte die
Reisetasche gepackt. Ralf drückte mir stumm die Hand. Ihn
erwartete die Chemotherapie. Heinz war in der Nacht
verstorben. Zwei Pfleger rollten ihn soeben an uns vorbei
zum Fahrstuhl. Stumm nahmen wir Abschied. Schwester Anke
winkte mir zu: "Das Taxi ist bestellt." Ich drückte auf den
Knopf und holte den Fahrstuhl wieder nach oben. Felix und
Margit verließen gerade ihr Zimmer. Die Augen des Jungen
waren weit offen. Er nahm meine Hand und hielt sie lange.
Ein Wärmestrom floss zu mir über. Sein letztes Geschenk.
Friedlicher als ich gekommen, verließ ich die Klinik.

Wochen später. Der Berufsalltag hatte mich längst wieder
voll im Griff. In alter Gewohnheit hetzte ich von einem
Termin zum Andern. Kaum Zeit zum Essen. Hungrig verließ ich
mein Büro, um bei Bollinger einen Happen zu mir zu nehmen.
Ich saß noch nicht lange und wartete auf das Bestellte, als
sich jemand meinem Tisch näherte. "Herr Conrads!" Ich hätte
sie beinah nicht wiedererkannt ohne ihr Häubchen und die
Schwesterntracht. Mit dem nun schulterlangen Kastanienhaar
sah sie noch viel reizvoller aus. "Darf ich?" Lächelnd nahm
sie mir gegenüber Platz. Kramte aus ihrer Handtasche ein
Päckchen hervor. Drohend erhob ich den Finger. "Sie haben ja
Recht. Ich sollte den Patienten ein Beispiel sein." Ich gab
ihr Feuer und brannte meinerseits eine Zigarette an. Wir
plauderten. Die Mahlzeit kam und wir aßen schweigend. Beim
Kaffee und einer weiteren Zigarette rückte Schwester Anke
mit dem heraus, was sie mir die ganze Zeit schon sagen
wollte: "Am Wochenende starb unser Felix." Sie sagte das
tonlos mit dem Blick in einer imaginären Ferne. Nichts
weiter. Es bedurfte keiner näheren Erörterung. Langsam holte
sie ihren Blick zurück, trank die Tasse leer und stand auf.
Ich erhob mich ebenfalls. und reichte ihr die Hand. "Ja",
kommentierte ich das Gesagte, "es ist um einiges kälter
geworden in der Welt."

© Hanno Erdwein

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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