Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Juli 2002
In deep love
von Silvia Klieber


Ãœber alles geliebte Tinu,

vor zwei Tagen bin ich in Ägypten angekommen. Wie erwartet ist es sehr heiß hier und es laufen wirklich alle Leute in Kutten durch die Gegend. Das soll besser gegen die Hitze sein. (Wieso die dann aber unbedingt schwarz sein müssen, habe ich bis heute nicht verstanden...)
Mein erster Eindruck als wir angekommen sind, war einfach nur Erstaunen. Soviel Sand auf einmal sieht man nicht einmal am Strand. Auch der Wind ist viel Trockener, weil es eben eine Wüste ist.
Ich war trotzdem nicht auf so etwas vorbereitet!
Mit jeder Faser meines Körpers habe ich die Andersartigkeit des Landes und der Kultur in mich aufgesogen. Es ist mehr als ‚nur’ faszinierend. Vor allem die Menschen hier. Das ganze Land ist atemberaubend.
Doch neben dir ist es geradezu langweilig. Allein deine Stimme übt mehr Faszination auf mich aus als alle Länder der Welt zusammen.
Meine Studienkollegen scheinen alle ganz nett zu sein, auch wenn ich bis jetzt kaum Kontakt zu ihnen hatte. Meistens wollten sie ein Gespräch mit mir anfangen, doch ich habe einfach nicht zugehört. Seit ich ihnen gesagt habe, woran es liegt, ziehen sie mich immer damit auf.
Ich kann nur noch an dich denken, wie du mir vom Flughafen aus zugewinkt hast, dich beherrschen musstest um nicht zu weinen und allmählich immer kleiner wurdest...
Deine letzten Worte klingen noch immer in meinen Ohren: „Jeden Morgen wird dein Gesicht mich aufwecken und jeden Abend wird deine Stimme mich in den Schlaf wiegen. Und dazwischen wirst du ganz nah bei mir sein, in meinem Herzen.“
Ich habe gemerkt, dass es mir genau so geht. Das einzige woran ich denken kann, bist du.
Ich könnte heulen, wenn mir in den Sinn kommt, dass du für ganze sechs Monate Tausende von Kilometern von mir entfernt bist.
Was du jetzt wohl machst? Vielleicht spielst du Klavier, wie immer wenn du Zeit für dich hast, oder du gehst mit deiner besten Freundin Shoppen und bist einigermaßen froh, diesmal keinen Miesepeter wie mich dabei zu haben.
Was mich angeht, sitze ich gerade an einem wackeligen Schreibtisch und kritzele ein paar Zeilen für dich. Dabei ist mir schon mindestens 3 mal das Tintenfass umgeschwappt, weil ich es andauernd mit dem Ellenbogen umstoße, wenn ich aus dem kleinen Fenster der Studentenwohnung hinaus auf die Straße schauen will. Es laufen nicht viele Leute um diese Zeit (es ist gerade Mittag) vor meinem Fenster- genaugenommen fast gar keine. Eigentlich blicke ich ins Nichts, wo ich dann deine rehbraunen Augen sehe, denen ich schon von Anfang an nichts entgegenzusetzen hatte.
Ich liebe dich. Das ist mir in diesen zwei Tagen erst richtig klar geworden.
Ist es normal, dass man die wahre Bedeutung von etwas für einen selbst erst erkennt, wenn dieses nicht mehr da ist?
In meiner freien Zeit liege ich auf meinem Bett und starre an die Decke. Mit mir kann man momentan nichts anfangen. Sogar meine heißgeliebten Studien interessieren mich nicht mehr so recht. Ich habe das Gefühl, als wäre der größte Teil von mir zu Hause bei dir geblieben.
Immer wieder höre ich Deine Stimme in mein Ohr flüstern.
Das einzige an was ich denke, bist DU.
Das einzige was ich vor mir sehe, bist DU.
Ich liebe dich so sehr, dass es fast schon weh tut.

In deep love,
Dein Matthias


Immer wieder aufs neue las Tinu jede einzelne Zeile des Briefes sorgfältig von Anfang bis Ende durch.
Als sie den Brief zum ersten Mal gelesen hatte, konnte sie ihn erst einmal nur in der Hand halten und anstarren. Sie hätte niemals gedacht, dass er sie so sehr vermissen würde. Sein Studium war ihm sehr wichtig, weshalb er sich auch entschlossen hatte, für sechs Monate nach Ägypten zu fahren.
Zwar wusste sie, dass er sie vermisste- sie sehnte sich schließlich auch nach ihm- aber dass er sie so sehr... Tinus Augen wurden glasig. Matthis hatte diesen Entschluss schon vor Monaten gefasst. Er wollte unbedingt nach Ägypten. Dafür musste er viele Vorbereitungen treffen und er hatte weniger Zeit als sonst für sie. Dadurch hatte sie das Gefühl gehabt, vernachlässigt zu werden und stellte sich deshalb ziemlich zickig an. Trotzdem war Matthis nicht umzustimmen.
Der traurige Höhepunkt kam dann letzte Woche.
Beide stritten sich wieder einmal um diese Studienfahrt, als sie Matthias den Vorwurf machte, diese Fahrt sei ihm wichtiger als sie, Tinu. Obwohl er verneinte, ging sie noch weiter. Sie verlangte von ihm, ihr zu zeigen, was ihm wichtiger sei. Mehrmals beteuerte Matthis, sie sei das wichtigste zwischen Himmel und Erde für ihn, doch Tinu war durch seine Vernachlässigung enttäuscht. Sie bestand darauf, das Matthis als Beweis für seine Liebe bei ihr bleiben solle.
Mit erstickter Stimme flüsterte Matthis, dass auch sie ihn nicht an dieser Fahrt hindern könne. Nicht einmal zerbrochene Vasen und ein tränenbedecktes Gesicht konnten ihn umstimmen.
Und so verabschiedete er sich mit gesenktem Kopf von ihr und flog eine Woche später nach Ägypten.
Jetzt flossen Tinu die Tränen nur so über die Wangen und tropften auf den allerschönsten Liebesbrief, den sie je gelesen hatte. Sie glaubte jedes Wort was dort stand. Matthis hatte sie noch nie angelogen, was es ihr manchmal sehr leicht machte ihn in die Enge zu treiben.
Aber sie weinte nicht nur weil der Brief so schön war, sondern weil sie erst jetzt erkannt hatte, dass Liebe auch Freiheit braucht. Er hatte ihr immer Raum zum Atmen gelassen, während sie ihn oftmals einengte. Doch er hatte sich niemals beschwert. Er war so unglaublich geduldig mit ihr.
Sie wollte ihm so gerne sagen, dass er jede Freiheit haben könne, die er bräuchte, aber es war zu spät dafür. Matthis, ihr liebster Matthis würde erst in sechs Monaten wiederkommen und bis dahin würde sie jeden Tag ohne ihn und mit der ungesagten Entschuldigung leben müssen.
Schon der Gedanke an ihn ließ die Tränen noch heftiger fließen. Sie wollte ihm ihren Irrtum liebend gerne eingestehen.
Jedoch- er war so weit weg...
Obwohl sie Matthis liebte wie nichts anderes auf der Welt, war er weit, weit fort.
In Ägypten, dem rätselhaften Land der Pharaonen.
Tinu verzweifelte. Sie hatte das Gefühl, dass sie es nicht auch nur einen Tag noch ohne ihn aushalten könne, von sechs Monaten ganz zu schweigen.
Nach einiger Zeit hatte sie aufgehört zu weinen. Das feine Briefpapier war fast gänzlich durchnässt. Bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, musste sie sich erst hinsetzen.
Plötzlich sprang sie auf. Auf dem Stuhl hatte eine Reißzwecke gelegen. Seufzend suchte sie sich einen anderen Stuhl, den sie vorher sorgfältig untersuchte.
Auch auf diesem blieb sie nicht lange sitzen, denn auf einmal, ohne Vorwarnung, war ihr eine weitere Bedeutung von Liebe klar geworden.
Wer wirklich liebt kommt auch ans Ziel.

Wie jeden Tag seit fast einer Woche lag Matthias auf dem Bett und starrte blind die Wand an. Er bemerkte weder das fehlende Rauschen der Klimaanlage, die vor kurzem ihren Dienst versagt hatte, noch das penetrante Geräusch der Türklingel.
In Gedanken lächelte seine Tinu ihn an. Und er lächelte zurück. Sie flüsterte ihm die schönsten Dinge ins Ohr, als ihre Stimme sich auf einmal wie ein Stein, der gegen ein Fenster geworfen wurde, anhörte.
Matthias schwang sich aus dem Bett hoch. Das Geräusch war real gewesen. Mit schnellen Schritten rannte er zum Fenster und öffnete es. Als er jedoch hinausschaute, war auf der Straße niemand besonderes zu sehen. Überall nur dunkel gekleidete Einheimische und hier und dort ein paar Touristen, die den vielen Ständen voller Betrügereien wesentlich mehr Aufmerksamkeit entgegenbrachten, als ihm. Von denen war es bestimmt keiner gewesen.
Sicherheitshalber rannte er vom ersten Stock durchs Treppenhaus auf die Straße.
Auch dort war befand sich niemand besonderes.
Über diesen Scherz verärgert stapfte er die Treppe wieder hoch und schlug die Haustür laut hinter sich zu. Gerade als er wieder auf seinem Bett lag, klingelte es wieder Sturm. Diesmal hörte er es laut und deutlich. Immer noch verstimmt, beschloss er, das Klingeln einfach zu ignorieren.
Als es jedoch niemals aufzuhören schien, rannte Matthias, diesmal ernsthaft böse über diesen dummen Scherz, wieder auf die Straße.
Zuerst entdeckte er nichts. Er hatte sich schon umgedreht und wollte gerade wieder gehen, als er aus den Augenwinkeln eine heftige Bewegung sah. Irgendjemand schien ihm zuzuwinken. Jetzt doch neugierig geworden, drehte er sich um.
Auf der anderen Straßenseite, direkt vor einem Teppichgeschäft blickte ein Paar rehbrauner Augen intensiv zu Matthias hinüber und schien ihm heller zu Strahlen als die Sonne.

Auf der anderen Straßenseite stand das einzige Ziel ihrer Sehnsucht, die sie erst jetzt wieder loszulassen schien.

Wer wirklich liebt kommt auch ans Ziel.

(c) Silvia Klieber


Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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