Sibyll lebte nun schon seit über zehn Jahren in diesem Altersheim am Rande einer
norddeutschen Großstadt. Sie hatte sich eingefügt in einen strengen Tagesrhythmus, der
hier das Leben bestimmte.
Nun an diesem sonnigen Wintertag saß, sie um etwas Licht zu tanken, auf der Bank
am Eingang des Hauses. Heute sollte wieder ein Neuankömmling ein wenig Abwechslung
in die gleichförmige Ruhe bringen. Herr M. war vor zwei Wochen verschieden und sein
Zimmer, das genau ihrem gegenüber lag, war wieder neu vergeben worden.
Am späten Vormittag, kurz vor dem Mittagessen, sie genoss noch die leicht wärmende
Sonne, fuhr dann ein Taxi vor. Nach einiger Zeit stieg doch ein wenig beschwerlich,
dem Ort seiner Ankunft angemessen, ein großer, schlanker dick vermummter Mann aus.
Mit einem Gehstock und ohne Sibyll eines Blickes zu würdigen, verschwand er durch
die Tür. Seine großen Koffer, das einzige Habe für den letzten Umzug, trug der Chauffeur
hinein. Sibyll war neugierig geworden. Endlich, dachte sie, wird ein neuer Nachbar etwas
Abwechslung bringen. Sie würde sich über einen netten Kontakt freuen, denn die meisten
Mitbewohner waren zwar ansprechbar, aber ein wirkliches Gespräch mit einem Gedanken-
austausch konnte sie hier kaum führen.
Zum Mittagstisch in dem großen Wintergarten mit Blick auf die weite flache einsame
Landschaft, war der Neue nicht anwesend. Die bürokratische Aufnahmezeremonie hielt
ihn gefangen, dachte sich Sibyll und nahm schnell ihr kleines Mahl ein. Vielleicht könnte
sie ihn auf ihrem gemeinsamen Flur begegnen. Doch alles war still dort, kein Mensch
zu sehen. Sibyll nahm sich vor, sich abzulenken und nicht in Wartestellung zu verharren,
obwohl in ihr ein längst vergessenes Kribbeln im Bauch aufgetaucht war.
Die Stunden vergingen, er wurde Abend, es wurde Nacht und Sibyll lag schlafend
in ihrem Bett, als sie plötzlich wie von einer Hand aus den Träumen gezogen wurde.
Ein Geräusch aus der Nähe. Weinen? Sibylls Herz schlug heftig; da war ein Mensch
allein mit seiner Not. Sie zog sich etwas über und trat schnell auf den Flur.
Tatsächlich ein Schluchzen ihrer Tür gegenüber, aus dem Zimmer von Herrn M.,
in das heute der Neue eingezogen war. Sie überlegte nicht lange und öffnete mit Vorsicht
und leise die Tür. Drinnen im Raum war es stockdunkel und um den Menschen nicht
zu erschrecken, flüsterte sie ein Hallo. Das Weinen pausierte und sie fragte, kann ich
ihnen helfen? Sibyll tastete sich zum Bett; die Zimmer waren gleich möbliert, so stand
sie vor der Schlafstatt und fühlte eine feuchte Hand auf der Bettdecke. Eine große,
kräftige Männerhand. Eine traurige Stimme bat sie bitte, bitte bleiben Sie.
Als Sybill diese Worte vernahm, stockte ihr der Atem. Diese Stimme, sie kannte sie.
Dieser weiche Klang! Vor sehr langer Zeit musste sie diesen gehört haben.
Ihre Beine zitterten. Sie setzte sich schnell und unbekümmert auf das fremde Bett.
In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken und sie bat den Neuen ein wenig
Licht zu machen. In dem Schein der Nachttischlampe erschien das Antlitz eines
verstörten von Tränen überfluteten Mannes. Schnell versuchte sie Bekanntes
zu erhaschen. Die Augen, die Augen muss ich doch erkennen, dachte sie und
plötzlich da fuhr ihr ein leiser Schrei von den Lippen: Sven? Sven, bist du das?
Der staunte schweigend und richtete die Lampe auf ihr Gesicht. Und da
dämmerte es auch ihm. Sybill, Sybill, du bist das! Sie fielen sich in die Arme,
sahen sich in die Augen und dann sprudelten die Worte nur so aus ihnen heraus.
Fünfzig, nein sechzig Jahre lagen zwischen ihrer letzten Begegnung.
Klassenkameraden waren sie gewesen, Freunde und vielleicht auch ein bißchen
mehr. Sechzig Jahre! Alt, sehr alt waren sie geworden. Aber sie hatten ihre Gesichter
nicht vergessen. Der Wind der Zeit und des Lebens hatte ihre Wege getrennt. Und
heute in dieser Nacht in einem kleinen fremden Zimmer trafen sie sich wieder.
Sibyll dachte, in welchem Film bin ich denn hier? Ist das Wirklichkeit oder träume
ich in meinem Bett. Svens nasses und anfangs trauriges Gesicht begann sich zu
entspannen. Die Stunden vergingen und sie konnten sich nicht trennen, bemerkten
nicht wie die Zeit um sie herum verging. Sven erzählte von seiner Trauer,
seine Familie lebte nicht mehr und er konnte sein großes Haus nicht mehr führen.
Schweren Herzens hatte er sich nun entschlossen, zurück in die Heimat, in ein Heim zu
gehen. Seine Tränen heute verabschiedeten sein altes Leben. Aber in diesen
Stunden wurde es ihm leichter zu Mute, denn jetzt hatte er hier etwas, einen
Menschen, den er kannte, gefunden. Dankbar hielt er ihre Hände und auch Sibyll,
die ja so gespannt auf den Neuen war, fühlte sich glücklich und wohl.
Dann aber siegte die Vernunft und sie verabschiedeten sich, um ein wenig zu schlafen,
denn es war noch sehr dunkel draußen.
Die nächsten Tage vergingen wie im Fluge. Jede Stunde verbrachten Sybill und Sven
zusammen, nur die Nacht trennte sie. Viel, viel gab es auszutauschen. Ein Leben,
nein zwei Leben waren zu erzählen. Als dann der Worte genug gewechselt waren
und Stille zwischen ihnen stand, versuchte Sibyll seinen Blick zu ergründen, schon
lange schwang etwas Ungesagtes zwischen ihnen. Sie nahm allen Mut zusammen,
um ihn endlich zu fragen, warum sind wir nie ein Paar geworden? Hast du mich
nie gewollt? Sven war vollkommen überrascht. Nicht er hatte sie nicht gewollt,
sondern er hatte damals immer von weitem die schöne und von männlichen
Wesen stets umschwärmte Sibyll, als unerreichbar für sich erklärt.
Freundlich waren sie immer miteinander gewesen, auch mal einen Kuss gewechselt.
Ja, sagte Sibyll, ich flog wie ein Vogel zwischen den Verehrern umher, unfähig mich
zu binden, aber dich habe ich immer mit anderen Augen gesehen. Hast du mein
Herz nicht gespürt? Ich habe dich immer begehrt, aber nie den Mut besessen, mich
dir zu offenbaren, ich habe auf dich gewartet. Sven, dem das Äußern von Gefühlen
nie gelegen hatte, sagte nach einer langen schweigsamen Pause, ganz einfach
zu ihr, wollen wir es jetzt miteinander versuchen?
So Sibyll und Sven erlebten gemeinsam das schönste Jahr ihres langen Lebens,
bis dann eines Nachts Sven für immer von ihr ging.
(c) Silke Busch
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