Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Andreas Schröter IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
August 2002
Es waren zwei Königskinder
von Andreas Schröter


Sylvia von Reyn liebte die Atmosphäre zwischen Nacht und Morgengrauen. Und nirgends war sie so intensiv wie auf dem Meer. Das hatte sie glücklicherweise schon in ihrer ersten Nacht auf der Queen Anne festgestellt, und sie war dankbar dafür, denn so konnte sie sie noch 20 mal genießen, bevor das Schiff in Dover anlegen würde. Diese Stunde zwischen vier und fünf Uhr morgens, wenn zunächst nur tiefste Nacht herrschte und nur das Knarren der Planken und das Klatschen der Wellen an den Schiffsrumpf zu hören waren. Und dann, ganz ganz langsam, zunächst nur als ein Hauch wahrnehmbar, verfärbte sich der Himmel im Osten von tiefschwarz nach dunkelgrau und wurde immer heller. Für Sylvia konnte es nichts Schöneres geben. Es lag soviel Hoffnung und Trost in diesem Schauspiel – soviel Positives verband sie mit dem Erwachen des neuen Tages.
In der ersten Nacht war sie nur an Deck gekommen, weil sie in ihrer engen und muffigen Kammer nicht mehr schlafen konnte. Doch danach stellte sie sich sogar den Wecker dafür. Den verlorenen Schlaf konnte sie an den langweiligen Tagen ausgiebig genug nachholen.
Der Anblick des Wassers löste in diesen Nächten stets eine ganz bestimmte Assoziationskette in Sylvia van Reyn aus. Eigentlich war es total albern, und sie hätte sich befohlen, sie nicht auszuleben, wenn jemand in ihrer Nähe gewesen wäre. Die Schlafkabinen lagen jedoch im hinteren Teil des Schiffes. Am Bug, wo sie diese nächtliche Stunde genoss, befanden sich lediglich die Frachträume, wie ihr der Kapitän erklärt hatte. Also sang sie das alte Volkslied, an das sie beim Anblick des Wassers immer denken musste, mit leiser und heller Stimme:

„Es waren zwei Königskinder,
die hatten einander so lieb,
sie konnten zusammen nicht kommen,
das Wasser war viel zu tief,
das Wasser war viel zu tief“

Es war dunkel im Frachtraum der „Queen Anne“, und das war gut so. Greg mochte kein Licht. Die einzige Glühbirne hier unten, die je nach Seegang mal wild, mal sanft von der hölzernen Decke baumelte, funktionierte nicht mehr. Oder sagen wir besser das, was von der Glühbirne noch übrig war. Greg hatte schon vor fünf Tagen direkt nach seiner Ankunft mit einem gezielten Handkantenschlag dafür gesorgt, dass sie keinen Schein mehr abgab. Wie gesagt: Er mochte kein Licht.
Ein bisschen wunderte er sich schon, dass während der Reise von New nach Old England niemand den Frachtraum kontrollierte und die defekte Birne auswechselte – jedenfalls war an diesen ersten fünf Tagen und Nächten der Reise niemand gekommen – aber es wäre auch nicht schlimm gewesen, wenn sich doch jemand hätte blicken lassen. Die Kiste, in der er sich versteckte, stank so hundserbärmlich nach einer Mischung aus Teer und verfaultem Fisch, dass bestimmt niemand auf die Idee gekommen wäre, sie zu kontrollieren. Ihn selbst störte das nicht. Er war imstande, seinen Geist in andere Sphären zu befördern, so dass er von solchen irdischen und profanen Dingen wie Gestank nichts mehr wahrnahm.
Was er dagegen nicht abstellen konnte, war sein Gehör. Es war von Natur aus sehr fein. Jedes Wellenklatschen nahm er war. Einmal hatte etwas ganz leicht den Rumpf des Schiffes direkt unter ihm gestreift, da war er sich ganz sicher. Ob das eine Sandbank gewesen war oder großer Fisch? Vielleicht ein Wal?
Natürlich hörte er auch, wenn über ihm die Menschen über die Planken liefen. Manchmal so laut, dass er sich die Ohren zuhalten musste.
Natürlich hätte Greg nachts den Frachtraum verlassen können, aber er wollte nicht auffallen. Um keinen Preis. Ein solches Schiff war viel zu gefährlich. Er hätte nicht fliehen können. Für genug Nahrung während der Reise hatte er gesorgt. Außerdem war dieser Frachtraum gar nicht so unbelebt, wie es die Besatzung gerne gehabt hätte. Gerade jetzt ertönte wieder dieses wohlbekannte Fiepen nur eine Armlänge von ihm entfernt. Blitzschnell griff er zu, drehte der vor Angst zitternden Ratte den Hals um und führte sie zum Mund. Natürlich war es im Grunde unter seiner Würde, sich auf diese Weise zu ernähren, aber es wäre andererseits unvernünftig gewesen, die Gelegenheit nicht beim Schopfe zu packen, um seine dahinschwindenden Kräfte aufzufrischen.
Er hätte die 20 Tage der Überfahrt sicherlich auf diese Weise problemlos überstanden, wenn nicht zwischen vier und fünf Uhr in der Nacht stets etwas eingetreten wäre, was ihm mehr und mehr die Sinne raubte. Eine unglaublich anmutige Stimme sang ein Lied, das ihn an seine Kindheit vor fast 200 Jahren in Himmelreich, einem kleinen Dorf im Schwarzwald in Deutschland, erinnerte. Damals hatte er noch Hermann geheißen. Welcher Zynismus! Ausgerechnet in Himmelreich war jemand aufgewachsen, der zu jener Kreatur geworden war, die das Licht scheute, sich auf sonderbare Weise ernährte und sich nun taglang in diesem erbärmlich stinkenden Frachtraum verstecken musste. Er hatte dieses alte Volkslied immer in dem Knabenchor singen müssen, dem er damals angehörte. Greg spürte, wie etwas passierte, das er seit Jahrzehnten, ja beinahe seit Jahrhunderten nicht mehr erlebt hatte: Er weinte. Die Frau, die dieses Lied oben an Deck sang, rührte ihn mit ihrem Gesang zu Tränen.
Wie sie wohl aussah? Bestimmt war es eine Frau, die wunder-wunderschön war. Vielleicht hatte sie langes, glattes blondes Haar, das ihr auf ihrem weißen Kleid bis auf die Hüften fiel.

Und während er das dachte, sang die schwarzhaarige Sylvia von Reyn: „Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb ...“

Am siebten Tag reifte in Greg ein Entschluss, der jeglichem selbst auferlegtem Sicherheitsdenken zuwider lief. Er beschloss, sein Versteck zu verlassen, um diese Frau zu sehen. Das war in doppelter Hinsicht gefährlich. Zum einen wusste dann jemand an Bord, das es ihn gab, zum anderen wählte die Frau für ihr Auftauchen stets eine Stunde in der Nacht, die bereits sehr nahe am erwachenden Morgen lag.

In der siebten Nacht war Sylvia van Reyn spät dran. Es hatte ein Captain’s Dinner mit etwas Rotwein gegeben. Und fast hätte Sylvia den Wecker ausgestellt, als er wenige Stunden später schellte, und einfach weitergeschlafen. Doch sie riss sich – nachdem sie einige Minuten gedöst hatte – zusammen. Sie wollte auch heute den erwachenden Morgen nicht verpassen. Ihren leichten Rausch konnte sie danach immer noch ausschlafen. Aber sie würde sich diesmal für ihren nächtlichen Ausflug nicht groß in Schale werfen. Schließlich war sie um diese Zeit noch nie jemandem begegnet. Ihr weißes Nachthemd würde genügen.
Doch als sie die letzten Deckaufbauten vor dem Bug des Schiffes passierte, hörte sie ein Geräusch, das weder zum Schlagen der Wellen an den Schiffsrumpf, noch zum Knarren der Planken gehörte. Es hörte sich an wie das Quietschen einer Tür. Sylvia drehte sich um sah direkt in die tiefschwarzen Augen eines langhaarigen, jungen Mannes. Entsetzt schrie sie auf, doch mehr vor Schrecken als vor Angst, denn der Mann wirkte keineswegs gefährlich. Nur unendlich traurig – ein Eindruck, der von seinen ungewöhnlichen Augen ausging, wie sie trotz der Dunkelheit erkennen konnte. Sylvia hatte noch niemals zuvor solche Augen gesehen.
„Lieben Sie die Nacht auch so sehr wie ich?“, fragte er mit sanfter, leiser Stimme.
„Ich ...“ Der Mann trug einen eleganten Straßenanzug, der jedoch eine Spur altmodisch wirkte. Und auch seine Aussprache kam Sylvia etwas getragen vor. Ebenfalls altmodisch. Doch das war es nicht allein, was ihr an ihm auffiel. Sie bemerkte auch, dass ihr dieser Mann unglaublich gut gefiel. Er war mit seinem scharf geschnittenen Gesicht und diesen ganz besonderen, melancholischen Augen von einer Schönheit, die Sylvia schier die Sprache verschlug.
„Bitte – bitte könnten Sie für mich nur einmal noch dieses Lied – dieses Lied singen, das Sie jede Nacht singen.“ Während er das sagte, streckte er den Arm aus und streifte mit den Fingerkuppen ganz leicht über den Stoff von Sylvias Nachthemd.
Sylvia wusste nicht, ob sie sich wundern sollte, dass dieser Mann offenbar wusste, dass sie schon häufiger hier war und gesungen hatte, oder ob sie das prickelnde Gefühl in ihrer Magengegend genießen sollte, das der fremde Mann in ihr auslöste.
„Und bitte beeilen Sie sich, die Sonne ...“, er unterbrach sich und blickte scheu zum östlichen Horizont, „sie geht bald auf.“
„Aber ich ... wer ?... Ich habe Sie noch nie ...“ Der Mann hielt einen Finger vor seinen Mund, nahm Sylvia bei der Hand und führte sie sanft zur äußersten Spitze des Bugs.
Er deutete auf das Meer hinaus: „Sehen Sie doch die Nacht. Sie ist wunderschön. Genau wie Sie.“ Er hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken, der sie am ganzen Leib erzittern ließ. „Bitte singen Sie!“
Und ohne weiter über den Irrwitz der Situation nachzudenken, hob sie an zu singen: „Es waren zwei Königskinder“ Und der Mann stimmte in ihren Gesang ein. Zweistimmig sangen sie: „die hatten einander so lieb“ und den gesamten Rest des Liedes. Als sie am Ende waren, blickte ihr der Mann für Sekunden schweigend und traurig in die Augen. Dann spürte sie seine Lippen auf ihren und die Welt um sie herum versank in einem leidenschaftlichen Kuss.
Erst nach Minuten öffnete sie die Augen und löste sich von dem rätselhaften Mann: „Sieh nur, die Sonne geht auf.“

Greg traf dieser Satz wie ein Blitzschlag. Er riss die Augen auf und war von der gleißenden Helligkeit, die für die Menschen lediglich das erste Licht der Morgendämmerung war, geblendet. Und sofort setzte der Schmerz ein – besonders am Gesicht, wo seine Haut ungeschützt war. Er stieß die aufschreiende Frau weg, geriet ins Taumeln und konnte nur mit Mühe den Sturz von der Reling in den Atlantischen Ozean vermeiden. Fest die Hände aufs Gesicht gepresst kroch er mehr als er ging auf die Aufbauten zu, aus denen er gekommen war. Blind vor Angst und Schmerz erreichte er die Tür zum Frachtraum, durch die er sich mit einem Sprung in die rettende Dunkelheit flüchtete.

Zurück blieb eine erstarrte Sylvia von Reyn, die lange brauchte, bis sie das eben Erlebte soweit verdaut hatte, dass sie wenigstens den Weg in ihre Kabine antreten konnte.

In den letzten 14 Nächten, bevor das Schiff in Dover vor Anker ging, kam Sylvia bereits um 2 Uhr in der Nacht, um an der Reling am Bug ihr Lied zu singen. Doch der geheimnisvolle, so wunderschöne Mann dieser einen Nacht tauchte nie wieder auf.

Der wunderschöne Mann, der nun Greg hieß und vor 200 Jahren in Himmelreich der kleine Junge Hermann gewesen war, presste sein linkes Ohr von unten gegen die Schiffsplanken, hörte das Lied und weinte. Die Haut seines Gesichtes hatte sich abgelöst, und eitriger Schleim tropfte aus den Bläschen, die das rohe Fleisch gebildet hatte. Sterben würde er nicht. Daran nicht.

© Andreas Schröter 08/2002

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
Dieser Text enthält 10816 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.