Ganz schön bissig ...
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August 2002
Wellenjäger
von Klaus Eylmann


Freitag abend im Blind Horse Saloon von Livingston und das Bier fließt in Strömen, Musik und Gebrüll martern die Trommelfelle, Tänzer schwingen ihre Beine, Billardkugeln klacken, Würfel rollen, Bardamen wieseln.
“Jack, komm! Sie spielen den Watermelon Crawl!”
Jack Benning hatte keine Lust, und er sah, wie Wendy auf die Tanzfläche stürzte, sich lachend zwischen den jungen Frauen und Männern einreihte. Nun, Wendy lachte oft. Er setzte sich an die Theke und rückte seinen Cowboyhut tiefer ins Gesicht. Ein alter Mann brabbelte vor sich hin.
Jack drehte sich zur Tanzfläche. An der Außenseite ließen Two-Stepper ihre Damen wie Kreisel drehen.
“Irgendetwas ist da draußen.”
Jack wandte sich um. Der alte Mann starrte auf eine leere Flasche. Jack sah, der Mann war wirklich alt, mindestens so alt wie sein Vater. Bestimmt schon um die vierzig oder fünfzig. Sein kahler Kopf hätte wie ein Totenschädel gewirkt, wenn der dichte, graue Bart nicht gewesen wäre, der sich über die untere Hälfte seines Gesichtes ausbreitete. Und jetzt hielt er Jack in seinem flackernden Blick.
“Nun, mein Junge, sie haben eine Menge Geld ausgegeben, und wofür? – Nochn Bier, und eins für den jungen Mann hier! – Wofür? Gravitationswellen jagen. Mit Laserstrahlen und Spiegeln, in zwei langen Röhren. Und jede Vibration stört da nur, wie die von Lastwagen. Die fahren da nun nicht mehr, und dennoch… irgendetwas ist da draußen.”
Der Alte schob Jack eine Flasche Bier zu.
“Prost, mein Junge.”
“Danke, Sir.”
Eine Weile blieben sie stumm. Der Tanz war zu Ende. Jack sah, Wendy blieb auf der Tanzfläche und unterhielt sich mit ihren Nachbarn. Sie strahlte über das ganze Gesicht. Sie kann gar nicht anders, dachte Jack. Einmal Cheerleader, immer Cheerleader. Er sah sie im Geiste am Rande des Footballfeldes herumhüpfen: Gimme an L! Gimme an I! Gimme a G! Gimme an O! L I G O!
Jack hatte darüber im Livingston Enquirer gelesen, über die Forschungsanlage, Laserstrahlen, die durch zwei kilometerlange Zementröhren jagten.
“Sie arbeiten im LIGO, Sir? Wofür steht das eigentlich?”
“Laser Interferometer Gravitational-Wave Observatory.”
“Ah.” Jacks Blick wurde leer. Der Alte verzog seinen Mund zu einem schiefen Grinsen und hob seine Flasche. “Ich heisse Al.”
“Angenehm, ich bin Jack. Im LIGO, was machen Sie da?”
“Sagte ich doch. Wir jagen Wellen, Gravitationswellen.”
“Wow.”
Janet Jacksons Bump in the Dark dröhnte durch den Saal. Die Two-Stepper hatten die Tanzfläche verlassen, auf der die Line-Dancer frenetisch herumhüpften. Wendys kurzer Rock, blonde Haare wehten, Augen blitzten. Jack starrte wie hypnotisiert auf Wendys schlanke Beine in den roten Cowboy Stiefeln, die in immer schnellerem Rhythmus über den Boden flogen. Wenn Engel tanzen, wo waren ihre Flügel?
Wie von weitem hörte er die Stimme des alten Mannes. “Vor fast fünfzehn Milliarden Jahren gab es eine inflationäre Expansion des Universums, die es aussehen liess wie ein Faltenrock. Dabei entstanden die ersten Gravitationswellen.”
Jack folgte Wendys Tanzfiguren wie in Trance.
“Wellen dieser Art öffnen uns ein neues Fenster zum Universum. Sie entstehen auch, wenn Sterne explodieren, Schwarze Löcher kollabieren und sich Neutronensterne bilden. Jedoch, wenn sie die Erde erreichen, sind sie so schwach, dass sie sogar durch die Kräfte, die bei der Anziehungskraft des Mondes entstehen, hundertmillionenfach überlagert werden.”
Jacks Blick löste sich von den Tanzenden.
“Kurz und gut. Unsere Laser haben noch keine gemessen. Zuerst waren es Vibrationen von Lastwagen, welche die Strahlen ablenkten. Wir haben sie daher aus dem Umkreis von einhundert Kilometern verbannt.”
Der Mann schüttelte den Kopf und haute mit der Faust auf den Tresen.
“Irgend etwas ist da draußen. Unsere Laser weichen immer noch von ihrer Bahn ab. Und es sind keine Gravitationswellen.”
Er schien erregt, fast ängstlich. Jack wurde von seiner Unruhe erfasst. Von was redete der Mann? Hat wohl zu viel X-File Folgen konsumiert. Jack lachte verkrampft.
“Al, vielleicht sollten Sie mit Dana Scully und Fox Mulder darüber sprechen.”
Es kam ein langsamer Tanz. Wendy winkte und Jack verschwand zwischen den Tanzenden. Als sie von der Tanzfläche gingen, war Al nicht mehr da.

Einige Kilometer vom LIGO entfernt, liegt malerisch mitten in einem herbstlich rotgefärbten Wald von Ahornbäumen die Foxcroft Farm. Dort, wo Jack und Wendy ihre Pferde in Pension gegeben hatten, standen sie vor den Ställen und legten die Sättel auf.
“Der Mann hat mich neugierig gemacht.” Jack zog die Gurte an. “Irgendetwas hatte ihn geängstigt.”
Sie schwangen sich auf die Pferde und ritten gemächlich den Waldweg entlang, brachten die Pferde in Trab und bald darauf liess Jack seinen Wallach in einen Galopp fallen. Der Wind pfiff ihm um die Ohren. Wendy folgte ihm, dann jagten sie Seite an Seite über den Trail. Sie überquerten eine Lichtung, dahinter lösten Kiefern und Fichten die Ahornbäume ab. Die Zufahrtsstrasse zum LIGO tauchte auf. Rechts zog sich ein hoher metallener Zaun entlang.
“LIGO, Eigentum der National Science Foundation – Betreten Verboten. Wieso das? Ich sehe nur diese eine grosse Röhre.”
“Von dem Gebäude vor uns geht noch eine zweite ab,” rief Wendy und deutete nach vorn. Zur Röhre aus Zement, die neben ihnen am Zaun entlang lief, verlor sich eine weitere zwischen den Kiefern. Beide standen im rechten Winkel zueinander und hatten ihren Ursprung in einem flachen Gebäude, das vor ihnen lag. Ein paar Wagen standen davor. Das Tor war durch eine elektronische Schliessanlage gesichert.
“Nicht mal nen Pförtner haben sie hier, den man ausfragen könnte,” meinte Jack missmutig. Unschlüssig verharrten sie vor dem Tor.
Es wurde still um sie herum. Die Geräusche der Natur, das Zwitschern der Vögel, das Zirpen der Grillen wichen bleiernem Schweigen. Das Grau des Himmels wurde schwefelgelb, tauchte das Gebäude vor ihnen in ein unwirkliches Licht. Gelbgrün, gleich Fackeln, leuchteten die Tannen. Jack stockte der Atem.
“Jack! Die Pferde!”, rief Wendy. Wiehernd bäumten sich die Tiere auf. Nur mit Mühe gelang es Wendy und Jack, sich im Sattel zu halten. Sie hörten erregte Stimmen.
Zwei Männer rannten aus dem Gebäude. Einer von ihnen eilte zum Tor, öffnete es, lief zu seinem Wagen, während der andere den Motor seines Autos startete. Die Wagen rasten durch das Tor und waren in wenigen Augenblicken verschwunden.
Jack sprang von seinem Pferd.
“Wendy, unsere Chance! Sie haben das Tor offengelassen!”
Als er versuchte, die Zügel am Zaun zu befestigen, riss sich sein Pferd los und stob davon. Wendys Pferd machte kehrt und folgte ihm.
“Wendy!” Fluchend blickte Jack den Pferden nach, sah, wie das Mädchen vergeblich versuchte, sein Pferd in eine langsamere Gangart zu zwingen, dann waren sie nicht mehr zu sehen.
Schimpfend rannte Jack durch das Tor, durch den Eingang in das Innere des Gebäudes. Am Ende des Korridors stand eine Tür offen. Vorsichtig blickte er in den Saal. Vor einem der Monitore saß Al, hämmerte wild auf einer Tastatur und redete vor sich hin.
“Zweitausend Meter. Es kommt immer näher.”
Jack trat heran und blickte ihm über die Schulter.
“Was, Al? Was kommt immer näher?”
Al blickte überrascht hoch, dann starrte er wieder auf den Bildschirm.
“Die Störung, von der ich dir erzählt habe. Eintausendfünfhundert Meter. Irgendetwas kommt auf uns zu!”
“Was ist es?”
“Es könnte eine Strahlung sein. Unsere Instrumente sind nicht in der Lage, sie zu analysieren. Doch eines ist sicher.” Der Alte trommelte nervös mit den Fingern. “Sie ist nicht von dieser Welt! Sie kommt immer schneller heran, und sieh hier!”, ächzte er. “Jetzt ist sie nur noch einen Kilometer entfernt!”
Voller Panik sahen die beiden, wie der Zähler rückwärts raste.
“Mach, was du willst. Ich verschwinde.” Al sprang von seinem Sitz hoch und lief aus dem Raum. Jack rannte hinter ihm her und sah, wie Al auf den Parkplatz hetzte und in seinen Wagen sprang.
Der fahlgelbe Himmel, die brennendgelben Tannen, die Umgebung schien nicht real. Schwefelstinkende Schwaden waberten auf dem Platz. Jack blickte auf die gekrümmte Gestalt im Inneren des Autos. Der Wagen setzte sich nicht in Bewegung. Durch den Nebel sah Jack, dass Al aus dem Wagen kletterte und hustend durch das Tor nach draußen lief.
Dort, wo eine der Röhren in den Wald hineinragte, näherte sich eine dunkle, glasig dunstige und durchsichtige Wand. Voller Schrecken sah Jack, wie die Barriere einen Ring um das Gebäude bildete, auf es zu raste, wie die Landschaft sich hinter ihr auflöste und durch Formen ersetzt wurde, die sich jeder Beschreibung entzogen. Formen, die Quadern, Würfeln, Vielecken, konischen Gebilden ähnelten, schienen wie zusammengeschweisst und bewegten sich durch eine gelblich grüne, von sich bewegenden, bläulichen Linien unterbrochene Landschaft. Die Farben dieser Gebilde waren fremd. Nie hatte Jack etwas derartiges gesehen. Gebannt starrte Jack auf das Schauspiel, als jemand seinen Namen rief. Eine Gestalt taumelte durch den schwefligen Dunst auf ihn zu.
“Wendy!” schrie er und lief ihr entgegen, als sich ihre Umrisse aus dem Nebel schälten. Ihre Stirn blutete, sie hatte eine Platzwunde auf der Wange. Besorgt legte Jack seinen Arm um sie.
“Jack, was ist hier los? Was kommt dort auf uns zu?” Wendy keuchte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Barriere, deren Ausläufer wie Fühler nach vorn schnellten und sich wieder zurückzogen. Sie hatten sich bis auf wenige hundert Meter dem Gebäude genähert. Wendy stiess einen spitzen Schrei aus.
“Jack, sieh doch!” Verängstigt klammerte sich Wendy an ihn, als sie auf Al deutete, der die Zufahrtsstraße entlang lief und den Ausläufern vergeblich zu entkommen versuchte. War es Gas? Strahlung? Sie züngelten, dehnten sich aus, dann legten sie sich über Al und zogen sich mit ihm in die Barriere zurück. Sie sahen ihn nicht mehr.
“Wir kommen hier nicht raus!”, schrie Jack. “Gehen wir in Deckung!” Jack ergriff Wendys Hand und rannte mit ihr in das Gebäude zurück. Im Computersaal warf er einen flüchtigen Blick auf den Monitor. Einhundert Meter, und die Zahl raste weiter rückwärts. Nervös folgte Jacks Blick den Kabeln, die vom Computer wegführten. Sie mündeten in einer Wand. Dann sah er die Luke, die mit einem Drehrad verschlossen war.
“Komm Wendy,” rief er und lief zur Wand hinüber.
“Hilf mir, die Luke aufzubekommen.”
Gemeinsam drehten sie das Rad herum und oeffneten die metallene Absperrung. Es war der Zugang zu den beiden Röhren. Generatoren brummten. Laserstrahlen jagten hindurch und verschwanden in der Dunkelheit.
“Wir kriechen durch die Röhre unter dem Laserstrahl hindurch bis zu ihrem Ende. Vielleicht schaffen wir es. Wendy, mache es so wie ich. Immer auf dem Bauch, sonst verschmorst du dir den Hintern.”
Ihr war das Lachen vergangen. Sie sah so hilflos aus. Jack wollte sie in den Arm nehmen, doch dies war nicht der richtige Moment. Sie kletterten in die Luke, warfen sich auf den Bauch und robbten in eine der Röhren. Unentwegt jagte der Laserstrahl über sie hinweg.
Langsam arbeiteten sie sich vor. Vorwärts! Vorwärts! Jack verdrängte jeden anderen Gedanken. Unaufhaltsam krochen sie voran. Wie lange waren sie schon in der Röhre? Wie viele Meter hatten sie bereits zurückgelegt?
Ein lauter Knall hallte über sie hinweg. Staub hüllte sie ein, als sie eine heftige Druckwelle vorwärts schleuderte. Wie betäubt blieb Jack in der Röhre liegen, dann sah er es: der Laserstrahl war erloschen.
Jack hatte das Zeitgefühl verloren. Auf Haenden und Knien bewegten sie sich weiter.
Es war Nacht, als sie die Luke am Ende der Röhre verliessen. Erschoepft liessen sie sich auf den Boden fallen. Heftiges Schluchzen erschütterte Wendys Körper. Jack legte seinen Arm um sie und zog sie näher an sich heran. Fuer eine Weile umklammerten sie sich, gaben sich gegenseitig Halt. Dann drehten sie sich auf den Rücken. Zerschunden. Die Haut brannte, jeder Muskel schmerzte. In heftigen Zügen sog Jack die Waldluft in die Lunge. Er blickte empor, sah die dunklen Formen der Tannen, dann gewann Müdigkeit die Oberhand.
Knattern von Hubschraubern, die mit aufgeblendeten Scheinwerfern über sie hinwegflogen, riss sie aus dem Schlaf. Wenig später stolperten und humpelten sie an der Röhre entlang.
Blaulicht von Polizeifahrzeugen, Militärlastwagen, sie sahen sie von weitem, waren um das Areal gruppiert, auf dem das Observatorium gestanden hatte, nunmehr verglaste und verbrannte Erde.

Monate vergingen, bevor Wendy ihr Lachen wieder gefunden hatte und mit Jack und anderen den Watermelon Crawl tanzte. Jack erwischte sich dabei, dass er von der Tanzfläche immer wieder auf die Bar blickte, als ob Al jeden Augenblick dort auftauchen könnte.
Es war viel Getöse um Nichts gewesen. Niemand wusste, wer oder was das LIGO plattgemacht hatte. Jack und Wendy hatten nichts von ihrem Abenteuer erzählt. Wer hätte es ihnen geglaubt?
Wenn sie in die Richtung ritten, in der das LIGO einst gestanden hatte, kamen sie nur bis zu einem bestimmten Punkt, dann streikten die Pferde und weigerten sich weiterzulaufen. Jack und Wendy sahen das Gitter, welches nunmehr nur noch eine leere unbewachsene Fläche umschloss.
Ein Jahr darauf hörten sie Lärm aus jener Richtung. Wie Käfer liefen gelbe Transportfahrzeuge und Erdbewegungsmaschinen über das Terrain. Baukräne hoben sich vom Blau des Himmels ab.
“Wir kommen nicht dichter heran, die Pferde streiken immer noch,” meinte Jack.
“Jack,” rief Wendy. “Da ist ein Schild am Zaun.” Er zog den Feldstecher aus der Satteltasche.
Jack schluckte und schnappte nach Luft. “Wendy, ich glaube, mir wird schlecht. Auf dem Schild steht: Hier baut die National Science Foundation ein neues Laser Interferometer Gravitational-Wave Observatory (LIGO).”
“Bloß weg hier!” , rief Wendy mit sich überschlagender Stimme und riss das Pferd herum. Jack folgte ihr; denn irgendetwas war da draußen.


(c) Klaus Eylmann


Watermelon Crawl, s.a.http://sundancesaloon.org/watermelon.htm
Bump in the Dark, s.a. http://www.iaglcwdc.org/dance/stepsheets/bump.htm
LIGO, s.a. http://www.ligo.caltech.edu/

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