'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
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August 2002
Das neue Bandenmitglied
von Anne Zeisig


„Paps,“ mein Sohn gießt die Milch in seine Corn-Flakes-Schale, „meine drei Kumpels und ich haben eine Clique gegründet. Wir sind die Mutigsten im Schwimmverein. Trauen uns alle, vom Zehner-Turm zu springen!“
Abrupt stelle ich meine Tasse auf den Tisch, und der Tee schwappt auf das Tischtuch.
„Karl!“ ,vorwurfsvoll blickt mich meine Mutter an, „kannst du denn nicht aufpassen?“
Aber bei dem Wort Clique ist mir eingefallen . . . ,
„Weißt du,“ sinniere ich laut, „wir nannten das früher Bande. Und wir waren auch Vier.“
„Erzähl doch mal“, fordert mein Junge mich auf, und stopft sich den ersten Löffel Flakes in den Mund.

„Das muss damals so ungefähr nach den Versetzungszeugnissen gewesen sein“...
Hannes, Jo, Franz und ich standen in einer Reihe.
„Jungs! Mal gucken, wer heute der Weitpinkler unserer Bande ist!“ ,grölte Franz, der Anführer.
Ruck-Zuck hatten wir vier unsere Hosenschlitze geöffnet. Ich wagte kaum nach links zu schauen, hörte das Strullern meiner Freunde. Spürte Schweißperlen auf der Stirn. Sah, wie die drei weite, hohe Bögen in den Sand pinkelten.
Wenigstens ein paar Tropfen hatte ich mir abgerungen.
„Jo war heute der Beste!“ ,rief Franz nach fachmännischer Begutachtung des Sandkastens.
Ich schloss schnell meine Hosenknöpfe.
„Na, Karli,“ ,klopfte mir Jo hämisch grinsend auf die Schulter, „hat dein Kleiner wieder nur ein paar Tropfen von sich gegeben?“
Ich spürte, wie mir die Röte ins verschwitzte Gesicht schoss.
„Jau!“ ,rief Hannes, „na denn, Karli! Weißt ja was los ist! Wer in unserer Bande aufgenommen werden will, muss wenigstens einmal in der ersten Woche Weitpinkler gewesen sein, sonst folgt eine gefährliche Mutprobe!“
Ich nickte eifrig zustimmend, und wischte mir mein nass geschwitztes Haar aus der Stirn.
`Noch ein Tag´, dachte ich. `Morgen schaffe ich es´.
Franz tänzelte mit seinem Holzschwert um mich herum und tönte einen Singsang.
„Wenn er es mor-gen wie-der nicht schafft, dann wird ihm der Gar-aus ge-macht!“
Hannes und Jo hielten mir ihre Schwerter an die Brust und raunten monoton:
„Stre-ber-Söhn-chen lie-ben wir nicht, denn die ha-ben ein Milch-ge-sicht!“
Laut spürte ich mein Herz die Schläfe hinauf hämmern.
`Hoffentlich hören die das nicht´.
„Na und?“ ,ich setzte mich vor dem Sandkasten in das Gras, mir zitterten die Knie, „wenn ich morgen nicht am weitesten Pinkeln kann, dann mache ich doch glatt diese Mutprobe. Pah! Kleinigkeit!“
„Das wird ein Nervenkitzel!“ Franz´ Stimme überschlug sich, er warf sein Schwert in den Sand, wo es stecken blieb. Jo und Hannes taten es ihm gleich.
Auch ich würde so ein geschnitztes Schwert erhalten, wenn ich zur Bande gehören würde. Mit diesem Mut-Symbol würde mir jeder in der Schulklasse und auf dem Pausenhof Respekt und Achtung zollen.
„Karli schafft das nie!“ ,rief Hannes, zog sein Schwert aus dem Sand und warf es in meine Richtung ins Gras, „das ist ein Streber und bleibt ein Streber mit seinen ach so süßen und netten Geschichtchen, die er immer soooooooo saugut schreibt!“
Franz und Jo schütteten sich aus vor Lachen und klopften sich abwechselnd auf die Schultern.
Jo warf sein Schwert nach einem Spatzen, der sich auf der Birke neben dem Sandkasten nieder gelassen hatte. Aufgescheucht flog der Vogel davon, und ein paar Federn schwebten in den Sand.
„Scheiße!“ ,rief Franz, „Jo, du hast das Viech nicht getroffen!“
Jo steckte sein Schwert in den Hosengürtel.
„Ich habe diesem Mistvogel noch eine Galgenfrist gegeben! Wenn der morgen wieder hier in den Sand scheißt, dann hat seine letzte Stunde geschlagen!“

* * *

Ich sah auf meine Armbanduhr. Mutter hatte es nicht gerne, wenn ich unpünktlich zum Abendessen erschien. Seit Vaters Tod wollte ich ihr keine Sorge bereiten. Anstrengend genug war ihre Arbeit in der Heißmangel, damit sie mir das Gymnasium finanzieren konnte.
Auch in diesem Jahr strahlten ihre Augen wieder, als sie mein Zeugnis sah. Sonst aber war ihr Blick nur noch matt und müde.
„Mein Stolz“, hatte sie geflüstert, drückte mich an ihre Brust und gab mir einen Kuss auf die Wange, „seit 2 Jahren bist du nun hier der Mann im Haus, musst immer brav sein, versprich mir das.“
Schnell war ich dann ins Bad gehuscht, um mir ihre Kusslippen von der Backe zu wischen. Ich war doch schon 12! Und kein kleiner Junge mehr!

Nachts wurde ich wach von diesem warmnassen Gefühl. Still und heimlich wechselte ich das Bettzeug. Hatte, wie auch in den Tagen zuvor, wieder abends viel zu viel getrunken.
„Karli, Karli,“ würde meine Mutter spätestens Montag, am Waschtag, wieder vorwurfsvoll sagen, „was soll ich nur mit dir machen, du bist doch kein kleines Windelkind mehr!“
Und wieder würde ich die aufsteigende, heiße Röte spüren, die mein sonst so blasses Gesicht überflecken würde. Als Vater noch lebte, hatte ich nie ins Bett gepinkelt.
`Morgen nach dem Gottesdienst werde ich die komplette Wasserleitung leer trinken´, dachte ich schläfrig, `damit ich das Weitpinkeln gewinne´. Denn vor einer gefährlichen Mutprobe hatte ich Schiss.

* * *

Den Druck auf meiner Blase konnte ich kaum aushalten, als ich den Schotterweg zum Spielplatz hinunter lief. Immer wieder musste ich anhalten und meine Oberschenkel aneinander pressen, weil der Druck arge Schmerzen verursachte, mir Schüttelfrost bereitete. Kalt kroch der Herbstwind durch meine wollene Hose.
`Ich muss durchhalten´ ,keuchte ich vor mich her, `durchhalten, bis endlich das erlösende Wettpinkeln stattfindet´.
Wieder standen wir in einer Reihe.
„Auf die Plätze! Achtung! Fertig! Los!“ , schrie Franz.
Und es rann warm und nass unter meine Hose an meinen Beinen hinunter, bevor ich auch nur den zweiten Knopf meines Hosenstalles öffnen konnte.
„Karli!“ ,riefen meine Freunde einstimmig, „haste einen Knoten im Schniedelwutz, weil da nie was rauskommt?!“ Und laut lachend rollten sie sich im Sand umher.
„Mutprobe! Mutprobe ist fällig!“ ,riefen sie im Freudentaumel.
Ich war froh, dass sie meine nasse Hose nicht bemerkten. Und mein lautes Herzklopfen nicht hörten. Den Schweiß wischte ich mir schnell von der Stirn.
„Hat er wieder rote Flecken im weißen Milchgesicht?!“ ,Jo stieß mir hart sein Schwert in die Rippen, „na, dann mal los zur Brücke!“
`Zur Brücke!´ Ich ahnte ...
„Schneller! Karli!“ ,kommandierte Hannes laut und ich spürte drei Schwerter im Rücken.
`Kneifen gilt nicht!´ ,sprach ich mir innerlich Mut zu, und schnell, viel zu schnell waren wir auf der Brücke angelangt.
Unten toste diese reißende, stinkende Brühe der Emscher, ein Abwasserkanal von vier bis fünf Metern Breite. Das Ufer schräg plattiert bis in zwei Meter Höhe.
`Warum mir ausgerechnet jetzt einfällt, was der Hövelmann, unser Biolehrer, über diese Kloake im Unterricht erzählte?´ Dachte ich und hatte Angst, dass mir meine zitternden Knie den festen Stand versagten. Krampfhaft umkrallte ich das metallene Geländer. Dort, wo der grüne Anstrich abgeblättert war, fraß sich der Rost hindurch.
Franz fuhr mit den Fingern über den Handlauf des Brückengeländers.
„Ist doch breit genug, oder?“ Prüfend sah er mich und die anderen beiden an.
Hannes stieß mich in die Seite.
„Aber klar, nä, Karli? Bist doch nicht nur Dichter und Denker, sondern auch ein Mathe-Ass. Schätz ma, sind das 10 Zentimeter? Breit genug zum drüber Balancieren?! Oder?“
„Breit genug“ , flüsterte ich, wagte kaum zu atmen.
Jo fuhr sich fahrig durchs Haar.
„Jungs, das könnt ihr nicht machen!“ ,zischte er Franz und Hannes an.
Mein Magen und die Gedärme verkrampften, und wieder spürte ich diesen unerträglichen Druck auf meiner Blase.
Ich zuckte zusammen, als Franz laut mit dem Schwert auf das Geländer haute und wütend schrie: „Wir können alles machen! Oder bist du auch so ein Milchbubi, Jo?!“
Heiß rann mir der Urin die Beine hinunter, nässte mich ein bis in die Wollsocken. Ich schüttelte mich vor Ekel.
„Ich werde da nun rüber balancieren,“ flüsterte ich kaum hörbar und erschrak über meine Worte.
„Siehste Jo!“ ,triumphierte Franz, „nimm dir mal ein Beispiel an Karli, der wohl doch kein Muttermilch-Söhnchen ist!“
Franz und Hannes halfen mir, am Brückenanfang den Handlauf zu besteigen.

`Nur nicht runterschauen, immer nur einen Fuß vor den anderen setzen, beide Arme ausstrecken, Gleichgewicht halten´ ,stand ich starr und bewegungslos da oben. Meine drei Freunde sah ich nicht mehr, hörte nur, wie mir das Blut durch den Körper rauschte, angetrieben vom lauten Pochen meines Herzens.
Der erste Schritt. Nass glitschte mein Fuß im Schuh, als ich den rechten Fuß vor den linken setzte.
Geschafft!
Ich peilte mein Ziel an: Das Brücken-Ende. So weit fort.
Der zweite Schritt. Scharf brannte der Urin durch die voll gesogenen Wollsocken, als ich den linken Fuß vor den rechten setzte.
`Immer den Körper gerade halten´. Ich hielt inne.
Das Tosen der Emscherkoake drang an meine Ohren.
„Ich höre das nicht,“ flüsterte ich leise in mich hinein.
Der dritte Schritt.
„Weiter Karli!“ ,feuerte mich Hannes an, „zeig, was für ein ganzer Kerl du bist!“
„Schnauze!“ ,hörte ich in der Ferne die Stimme von Jo.
`Ich will nichts hören,´ dachte ich. Was rann da so nass meine Wangen hinunter? Brannte so salzig auf meinen Lippen. Nahm mir den klaren Blick auf das Ziel: Das Brücken-Ende.
Der nächste Schritt. Zitternde Knie. `Aber sie dürfen nicht zittern!´
`Nein! Nur jetzt nicht wanken!´
Vergebens.
„Mist! Der rutscht ab!“ ,hörte ich kurz die Stimme von einem der Jungs.
`Ich will nichts spüren´ ...

Schräg hing ich am Ufer, hatte meine Fingernägel in die Moosfuge einer Steinplatte gekrallt.
Jo streckte mir seine rechte Hand entgegen.
„Karli! Fass meine Hand! Ich zieh dich hoch!“
Die rettende Hand Jos war nur etwa 2 Zentimeter entfernt, der faulige Gestank des Abwassers kroch mir in die Nasenlöcher ...

„Papa!“ ,unterbricht mich mein 12-jähriger. Schaut mich ungläubig an und schaufelt die zweite Portion Corn-Flakes in sich hinein, „diese Geschichte soll ich dir glauben?“
Aufstöhnend stellt meine Mutter ihre Teetasse auf das Tablett, wuselt ihrem Enkelsohn lächelnd durchs Haar.
„Weißt du, dein Vater hat schon als Kind immer Phantasiegeschichten geschrieben, aber diese hier ist, fürchte ich, die Wahrheit.“ Und sie wischt sich schnell eine kleine Träne aus dem Augenwinkel.
„Und?“ ,sieht mein Filius mich erwartungsvoll an, „was ist aus der Bande geworden?“
Ich gebe den Kandiszucker in meinen Tee, trinke einen kleinen Schluck.
„Jo und ich wurden dicke Freunde, unseren Mut zeigten wir dann im Schwimmverein, wenn wir vom Zehnerturm sprangen und unsere Salti vorführten. Manno, das hatte mich auch wieder eine Überwindung gekostet. Davon erzähle ich dir morgen Abend. Für Franz und Hannes waren wir Feiglinge, die wollten mit uns nichts mehr zu tun haben.“
„Ach, Paps,“ mein Sohn setzt sich auf meinen Schoß, „da ist es wirklich besser, vom Zehner ins Schwimmbecken zu springen.“
„Stimmt,“ und ich streichele zart über die Wange meines Jungen. Er wehrt abrupt meine Hand ab, hüpft von meinem Schoß hinunter und sagt eilig auf dem Weg ins Bad: „Paps, lass doch dieses Streicheln sein, ich bin doch kein Baby mehr! Und wenn ich erwachsen bin, dann werde ich Brückenkonstrukteur wie du!“
Meine Mutter schaut mich an mit diesem vorwurfsvollen Blick, den ich nur zu gut kenne. Und ich spüre, wie mir eine sanfte Röte ins Gesicht steigt, als ich schnell den verschütteten Tee vom Tisch wische.



(c) Anne Zeisig

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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