Bitte lächeln!
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August 2002
Bis zur Neige
von Birgit Erwin


"Whoopeee!", sagte er leise. Vorsichtig bewegte er die Finger, dann die Hand. Es war seine Hand, kein Zweifel. Er strich über die Narbe auf dem Handrücken und den schief zusammen gewachsenen Daumen. Über den Knöcheln war „Victor“ eintätowiert. Sein Name – sein Motto.
"Whoopeee!" wiederholte er entzückt und richtete sich auf.
Victor hatte Erfahrung mit dem Erwachen in fremden Betten: Krankenhausbetten, Knastpritschen, die Lotterlager seiner verschiedenen One-Night-Stands - Bettwäsche von Micky Maus bis Seide. Sein Blick glitt die weißen Wände hinauf zu der hohen, weißen Decke. Keine Fenster, keine Farben. Nur eine Türe am anderen Ende des Raumes. Während er die Halle durchquerte, lauschte er auf das Echo seiner Schritte und sah zu, wie sein verzerrtes Spiegelbild in dem polierten weißen Fußboden tanzte. Amüsiert stellte er fest, dass er einen weißen Anzug getragen hatte, als es passierte. Sein tief gebräuntes Gesicht und die schwarzen Locken waren der einzige Farbtupfer in diesem Eispalast.
Mit einem gespannten Lächeln stieß er die Türe auf.
Victor hatte sich diesen Augenblick oft ausgemalt. In den letzten Wochen und Monaten war der Gedanke daran zur Besessenheit geworden. Manchmal hatte er ein blendendes Licht erwartet, manchmal einen Fanfarenstoss. Nie hatte er an einen kleinwüchsigen, bebrillten Mann gedacht, der bei seinem Eintreten müde den Kopf hob, um ihn mit Augen zu mustern, die ihn auf seltsame Weise an seinen ehemaligen Französischlehrer erinnerten. Der Gedanke weckte die Erinnerung an eine Klassenfahrt nach Paris, an zu viel Rotwein und eine heiße Wette. Dreizehn Stiche. Sie waren es wert gewesen. Sein Lächeln kehrte zurück.
"Sind Sie Gott?" fragte er den alten Mann. Seine Stimme hatte das Timbre eines aufgeregten kleinen Jungen. Der Alte schwieg. Als er merkte, dass er keine Antwort erhalten würde, fragte Victor mit dem gleichen erwartungsvollen Lächeln: "Und ich bin wirklich... tot?"
Jetzt nickte der Alte. Er hatte eine kleine, kahle Stelle auf dem Hinterkopf. Victor schlug die Hand vor den Mund um nicht zu lachen.
"Wow! Und jetzt?"
"Jetzt kommt das Urteil."
Die Stimme Gottes, wenn es Gott war, klang, als ob er sich gerade von einem schweren Schnupfen erholte. Der Drang zu Lachen wurde beinahe übermächtig, aber ein Flimmern in der Luft erlöste Victor. Die Wand hinter ihm war plötzlich nicht mehr weiß. Victor kniff die Augen zusammen, und im ersten Augenblick schluckte er.
„Erkennst du das?“ fragte der Alte.
"Naja... schon. Das ist mein Skelett. Und - äh - meine Haut." Ein winziges Kichern entschlüpfte ihm. "Die sieht aus wie ein Bettvorleger, so aufgespannt. Oder wie eine Landkarte. Ihr habt euch ja verdammt viel Mühe gemacht."
Er trat näher und betrachtete die beiden Exponate mit einem Schimmern in den Augen. Weiße Zettel hingen daran. Viele weiße Zettel. Für jeden der verheilten Knochenbüche, Schnitte und Narben einer. Sie raschelten leise in einem unmerklichen Luftzug, als Victor die Hand hob, um einen davon umzudrehen.
Berlin, 1988 - Er grinste. Der Alte hob fragend eine Augenbraue.
"Naja, das war vor dem Mauerfall - wir wollten sehen, ob die wirklich so gut aufpassen, an der Mauer. Und das hier, Österreicht 1980 – Skifahren auf ungesichter Piste, oh Gott, ich kann noch den Wind in meinen Augen spüren – und das gebrochene Bein natürlich. Aber hey... Das hier war Amerika, beim Rodeo. Und hier: Bungeejumping in London. Die Towerbridge bei Nacht ist wunderschön.“
Er breitete die Arme aus und drehte sich um. „Gott! Es war ein gutes Leben! Ich hab nichts ausgelassen.“
„Und du bereust nichts?“
Victor zögerte. Etwas in der Stimme des Alten berührte ihn. War es Ärger? Oder Trauer? Einen Augenblick lang glaubte er, diese Stimme schon einmal gehört zu haben. Er musterte seinen zerschundenen Körper, dachte an Stunden in der Notaufnahme, Nächte im Knast.
Er schloß die Augen.
„Nein, ich bereue nichts.“
„Nicht einmal deinen Tod?“
„Nein“, wiederholte Victor sanft. „Nicht einmal meinen Tod.“
Er steckte seinen Finger durch das ausgefranste Loch in der Schläfe seiner sterblichen Hülle, wackelte damit und kicherte.
„Ich bin wirklich tot. Das ist.... spannend, irgendwie.“
„Erzähl mir davon.“
Victor zuckte die Achseln. „Es gibt nicht viel zu erzählen. Wir haben russisches Roulette gespielt. Ich habe verloren.“ Er hob den Zeigefinger an die Schläfe und tat, als drücke er ab. „Bumm – das wars.“
„Warum hast du es getan?“
Wieder zuckte Victor die Achseln, aber er lächelte, während er sich an den Abend seines Todes erinnerte. Sie waren aus dem Casino gekommen – daher der weiße Anzug und die lächerliche Sonnenbrille, die jetzt in seiner Brusttasche steckte. Sie hatten viel getrunken und viel gewonnen, sie waren jung und fuhren schnelle Autos. Sie waren die Krone der Schöpfung. In dieser Nacht – in diesem Bewusstsein hatte er die Pistole aus dem Handschuhfach gezogen. Sie hatten in stummer Faszination zugesehen, wie er eine Patrone nach der anderen auf den Boden fallen ließ, bis nur noch eine in der Trommel streckte. Er erinnerte sich an das Schnurren, mit der sich die Trommel drehte, und den schweren Atem seiner Freunde.
„Lasst es uns tun“, hörte er sich sagen. „Lasst es uns jetzt tun.“
Er öffnete die Augen und sah dem Alten fest ins Gesicht. „Ich musste es tun. Es war das letzte Wagnis, das geblieben war.“
„Und du bereust es nicht?“
„Nein. Ich bereue nichts.“
„Dann komm.“

Der Anblick der riesigen Waage in dem weiß gekachelten Saal war ein Schock.
„Das jüngste Gericht? Wirklich? So richtig mit „gewogen und für zu leicht befunden“? Vielleicht hätte ich vorher noch was essen sollen.“ Victor kicherte atemlos. „Soll ich...“
Er machte eine Geste in Richtung der Waagschale, die vor seinem Gesicht pendelte. Der Alte nickte stumm. Mit hellen, erwartungsvollen Augen schwang sich Victor in die weiße Schale. Als sie lautlos zu Boden sank, lächelte er. Ein gutes Leben! Wie wohl der Himmel aussah?
„Ein letztes Bild noch“, sagte der Alte ruhig. „Von deiner Beerdigung.“
Er hob die Hand.
In der Wand riss ein Fenster auf. Es war ein komisches Gefühl zuzusehen, wie der Sarg – sein Sarg – in die Erde gesenkt wurde. Seine Freunde standen mit betroffenen Gesichtern um das schwarze Loch. Schaut doch nicht so belämmert drein, wollte er ihnen zurufen, aber er konnte nicht. Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Da stand Sabine, dünn und verloren in ihrem Trauerkleid mit einer welken Rose in der Hand. Schwarz hatte ihr nie gestanden. Jetzt schienen sogar ihre Augen schwarz und erloschen in dem schneeweißen Gesicht.
Scheiße – Sabine hatte er ganz vergessen. Worte kamen ihm automatisch in den Sinn, Worte, die er in ihrer zweijährigen Beziehung so oft gesagt hatte: Tut mir Leid, ich hab nicht daran gedacht....
Tut es dir denn Leid? fragten die Augen des alten Mannes, der plötzlich nicht mehr wie sein Französischlehrer aussah.
Victor schwieg. Für einen Augenblick erfüllte die Erinnerung an sein Leben die Luft mit Glanz und Lachen. Langsam schüttelte er den Kopf.
Eine Träne rollte über Sabines Wange. Victor sah sie fallen. Der glitzernde Tropfen durchschnitt die Luft und fiel auf die andere Waagschale. Er zerplatzte lautlos auf dem weißen Marmor. Dann begann sich die Tränenschale unerbittlich zu senken. Victors Augen wurden groß.
„Aber... ich... habs doch nicht so gemeint. Nein... bitte...“
Seine Schreie verhallten ungehört.
Der alte Mann wandte sich ab. „Gewagt“, sagte er leise. „Gewagt und für zu leicht befunden.“

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