Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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August 2002
Die Rede
von Katja Nathalie Obring


“Was soll das heißen, ich trau mich nicht?”
“Na, eben genau das – du traust dich nicht.”
“Ich werd's dir zeigen!”
“Okay, ich warte.” Olaf verschränkte die Arme vor der Brust und begann, demonstrativ mit dem Fuß zu wippen. Sepp war mulmig zumute. Eigentlich hatte Olaf völlig Recht – er traute sich nicht. Aber das war nicht feige, sondern vernünftig. Nichts als ausgeprägter Überlebenswille. Dennoch musste er es nun tun, sonst würde er sein Leben lang als Feigling dastehen. Und schließlich war er selbst Schuld. Er hatte ja gestern auch das Maul ziemlich weit aufgerissen, von wegen, man könne doch eine Kritik nicht deshalb ungesagt lassen, weil sie vielleicht jemand in den falschen Hals bekommen könnte. Und nun stand er hier, vor dem Königsbrunnen, beim Parteitag der NPD, und Olaf erwartete von ihm, dass er seine Kritik an der israelischen Politik öffentlich wiederholte. Ausgerechnet hier. Er rieb sich die schmerzende Stirn. Eindeutig war eines der letzten Biere schlecht gewesen, wahrscheinlich hatte ihn das auch veranlasst, mit Olaf diese blödsinnige Wette einzugehen.
“Sag mal, Olaf, meinst du ...”
“Aha, du traust dich doch nicht.”
“Doch, ich trau mich schon – was soll mir passieren, ich sag ja nix, was die nicht hören wollen – aber glaubst du wirklich, das ist eine gute Idee?”
“Versuch nicht, dich zu drücken – unsere Abmachung war klar – du stellst dich da gleich auf’s Rednerpult und wiederholst, was du gestern abend über die israelische Politik und ihre Verquickung mit dem amerikanischen Parlament gesagt hast.”
Sepp schluckte hart.
“Okay.”
Er musterte die Menge. Direkt vor der Rednertribüne standen die Bodyguards, große Glatzköpfe in grünen oder schwarzen Bomberjacken, enganliegenden Jeanshosen und Schnürstiefeln. Sie standen mit verschränkten Armen und schienen die Menge gar nicht zu sehen, ihre Augen starr geradeaus auf einen nicht bestimmbaren Punkt hinter der Sparkassenfassade gerichtet. In der ersten Reihe des Publikums tummelten sich hauptsächlich Jugendliche, auch sie meist kahlgeschoren, einige mit pomadierten Seitenscheiteln. Sie rangelten miteinander, machten lauthals Bemerkungen wie “Juden raus!” oder “Wat glotz’te, Kommi?”. Seltsamerweise waren sie diejenigen, die Sepp am meisten Angst machten. Anscheinend ging es dem größten Teil des restlichen Publikums ähnlich, denn um sie herum war ein leerer Bereich von einigen Metern. Hauptsächlich ältere Menschen standen an der Peripherie der Veranstaltung, mit teilnahmslosem Blick schienen sie einfach nur die Gelegenheit zu nutzen, ihre Rückkehr in langweilige Heime oder leere Wohnungen hinaus zu zögern.
Sepp beobachtete den Veranstaltungsleiter, ein Politiker der NPD, der eben seinen Vortrag über Sozialschmarotzer und Wirtschaftsflüchtlinge beendet hatte, zu dem die Obdachlosen auf der Bank vor dem Friedrichsdenkmal lauthals gejubelt hatten. Er begann, die nächste Runde der Veranstaltung einzuleiten: das Open Mike, die Gelegenheit für die Bürger, auch ihre Meinung zu sagen. Seine Gelegenheit. Der Schweiß, der sich auf seiner Stirn gesammelt hatte, begann nun in Perlen an seinen Schläfen hinab zu rinnen. Der Mann im schwarzen Anzug auf der Tribüne ging zum Mikro, die Hintergrundmusik aus Volksliedern stoppte, und er klopfte probehalber zweimal mit dem Finger auf das Gerät. “Tock, tock”, grollte es über den Platz. Er räusperte sich, ein kleines Gewitter aus den Lautsprechern war die Folge. Das Mikro pfiff.
“So, und nun, Bürger, haben sie das Wort, die Stimme des Volkes. Wie stehen sie zu der Frage der Zuwanderung – wollen sie wirklich ihre Steuern für arbeitsscheue Schwarzafrikaner bezahlen, die die Reinheit unseres Erbgutes durch ihren unkontrollierbaren Geschlechtstrieb gefährden? Wollen sie wirklich, dass diese Menschen Krankheiten in unserem Lande verbreiten und dafür auch noch bezahlt werden? Sagen sie ihre Meinung!”
Nach einigen Minuten kam einer der Jugendlichen nach vorn, sprang seitlich und nur knapp auf die Tribüne, beugte sich über das Mikrophon und schrie: “Juden raus!” Seine Kumpels pfiffen, johlten und klatschten, während er, nun sichtlich ruhiger und mit stolzgeblähter Brust, die Tribüne über die Treppe wieder verließ. Olaf stieß Sepp den Ellbogen in die Seite.
“Das ist deine Gelegenheit.”
Während er noch die Menge musterte und seine zitternden Knie unter Kontrolle zu bringen versuchte, schubste Olaf ihn in Richtung Tribüne.
“Los jetzt!”
Er hatte keine Wahl. Sepp setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, schlängelte sich durch die noch immer einander die Schultern klopfenden Teenager, bis er am Fuß der hölzernen Treppe stand.
Der Politiker sah ihn misstrauisch an, musterte die Lederjacke, die verblichenen Jeans, die abgestoßenen Cowboystiefel. Sepp versuchte ein Grinsen, das wie Marmelade an seinem Gesicht herab zu gleiten schien. Er erstieg mühsam die Stufen und streckte dem Politiker die Hand entgegen. Der betrachtete sie wie ein ziemlich großes, ziemlich ekliges Insekt, dann beugte er sich vor und flüsterte: “Worüber wollen sie sprechen?”
Auch Sepp krümmte den Rücken und nuschelte zurück: “Israel und die Amerikaner.”
Der Veranstaltungsleiter sah ihm tief und kritisch in die Augen. Anscheinend sah er dort etwas, das er nicht Recht einordnen konnte, denn er runzelte die Stirn. SchlieĂźlich nickte er, nicht nur zu Sepp hin, sondern noch ein zweites Mal in Richtung seiner Bodyguards. Zwei von ihnen erklommen die TribĂĽne.
“Okay, Bürger, rede – aber wir stehen hinter dir. Alles klar?”
Sepp wurde mit einem Mal ganz ruhig. Wie ein Rockstar ging er breitbeinig auf das Mikrofon zu, klopfte mit dem Finger prüfend darauf, dann nahm er es aus der Halterung. Einer der Bodyguards näherte sich ihm, aber er lächelte ihn beruhigend an, machte mit der freien Hand eine beschwichtigende Geste. Der Bulle trat zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Sepp räusperte sich und richtete den Blick auf sein Publikum. Die Teenager, die ihm nur halbherzig Aufmerksamkeit schenkten – sie würden einsteigen, sobald etwas aufregendes passierte, bis dahin waren sie mit eigenen Spielereien beschäftigt. Die Alten, die wahrscheinlich sowieso ihre Hörgeräte ausgeschaltet hatten, um den Störgeräuschen des Mikros zu entgehen. Und mittendrin Olaf. Hinter ihm räusperte sich Herr Oberguru. Sepp musste anfangen.
“Hallo,” sagte er in das Mikro, aber aus den Lautsprechern kam nur ein Wispern. Der Bodyguard sprang vor und riss seine Hand hoch bis auf Nasenhöhe. Sepp`s Herz, das kurz ausgesetzt hatte, schlug nun so laut, dass er meinte, man müsse es elektronisch verstärkt in der gesamten Innenstadt hören.
“Hallo, liebe Mitbürger”, setzte er also nochmals an, und Olafs hochgereckter Daumen zeigte ihm, dass man ihn auf dem Platz verstehen konnte.
“Ich stehe hier, um ihnen zu sagen, dass ich der Meinung bin, die israelische Regierung geht in der Palästinafrage zu weit.”
Jubeln und Pfiffe von den Jugendlichen. Ein paar riefen wieder “Juden raus!”. Sepp hüstelte und hob die Hand.
“Außerdem muss ich zu bedenken geben, wie viele der amerikanischen Kongressabgeordneten Nachfahren derjenigen Juden sind, die während des zweiten Weltkrieges aus Europa geflüchtet sind. Damit dürfte wohl klar sein, wie die amerikanische Politik die Friedensbemühungen im Nahen Osten bewertet.”
Wieder grölten die Jugendlichen und schrieen und pfiffen.
“Aber vor allem muss ich sagen, dass Pack euresgleichen mich anwidert, auch wenn unsere Ansichten sich in bestimmten Punkten zu überschneiden scheinen. Das -” Weiter kam er nicht, denn der Bodyguard hatte ihm das Mikro aus der Hand gerissen und ihn am Kragen gefasst. Sepp blieb die Luft weg, denn der Riese hob ihn in der Jacke wie in einem Korsett hängend hoch und schleifte ihn zum hinteren Bühnenrand. Er hörte, wie der Obermacker einige Worte zum Publikum sagte. Hinter der Bühne warteten schon weitere Kahlgeschorene, in deren Mitte nun Sepp segelte wie das Handtuch aus der Ringecke. Noch bevor er sich aufrappeln konnte traf ihn die erste Faust, dann ein Tritt, ein weiterer Hieb, und langsam verlor er die Orientierung. Vor den Augen tanzten Sterne, und seine Knie knickten immer wieder ein. Schließlich ließen sie von ihm ab, und er hörte – sehen konnte er aus seinen zugeschwollenen Augen nichts mehr – eine Frauenstimme keifen: “So stellen sie sich das wohl vor, meine Herren, Argumente durch Gewalt ersetzen? Dies ist ein freies Land, und wird es hoffentlich auch bleiben, und sie sollten sich was schämen, einen so mutigen jungen Mann so zu behandeln. Also wirklich ...” Die Sterne vereinigten sich zu einem bunten Spiralnebel, und Sepp verlor das Bewusstsein.

Als er wieder erwachte, lag er in einem weiĂźen Krankenhausbett. Neben ihm saĂź eine Krankenschwester und drĂĽckte seine Hand.
“Sind sie wieder wach, Rambo? Das war ziemlich dumm von ihnen. So was machen sie doch wohl hoffentlich nie wieder, oder?”
Sepp versuchte zu sprechen, doch er konnte die Kiefer nicht bewegen – zusammengedrahtet, vermutete er, wegen der Brüche. Dann versuchte er den Kopf zu schütteln, aber auch das ging nicht, wegen der Halskrause. Er wollte eine Hand heben – eingegipst. Schließlich seufzte er und schloss die Augen. Ein feuchtes Tuch tupfte ihm den Schweiß von der Stirn, und das war ein schönes Gefühl.


(c) Katja Nathalie Obring

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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