Der Tod aus der Teekiste
Der Tod aus der Teekiste
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August 2002
Don´t cry for me, Argentina…
von Anke Modemann


Es war noch vor dem zweiten Weltkrieg, an einem Tag im Juni. Die Sonne brannte schon um die Mittagszeit heiß auf die Menschen nieder, die bei der Ernte auf den Feldern waren.
„Walter, du kannst jetzt eine Pause machen. Iss was, Junge! Es gibt bis Sonnenuntergang noch genug Arbeit!“ rief der Gutsbesitzer Habermann einem jungen Burschen zu. Er gab ihm eine halbe Stunde Zeit. Walter löste die Zügel der beiden Ackerpferde und ließ sie an der Wiese zum Waldrand grasen. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, streckte seine Arme zum Himmel und dehnte seine schmerzenden Muskeln. Dann ließ er die Arme fallen und auspendeln.
Seit vier Jahren verdiente er nun schon bei Habermann ein paar Reichsmark. Viel lieber hätte er aber einen Beruf erlernt. Acht Jahre lang hatte er die Schule im Dorf besucht. Das Lernen war ihm leicht gefallen. Aber jetzt musste er dazu beitragen, die fünfköpfige Familie mit zu ernähren.
Er griff nach seinem Brotbeutel und rannte am Wald entlang, bis zur benachbarten Wiese.
„Frieda! Ich mache Pause. Leistest du mir Gesellschaft?“, rief er einem jungen Mädchen zu, das auf der Wiese gerade Heu auf einen Wagen lud.
Ihre Familie hatte einen kleinen Bauernhof zu bewirtschaften. Davon lebten die Eltern, sie und noch fünf Geschwister.
Frieda richtete sich langsam auf, als sie Walter rufen hörte. Den ganzen Vormittag hatte sie ihren Eltern bei der Heuernte geholfen. Jetzt tat ihr der Rücken weh. Sie war froh, sich wie immer seit vier Jahren um die Mittagszeit mit ihm zusammensetzen zu können.
„Mutti, ich mache mit Walter Mittagpause.“ rief sie der Mutter zu und lief zu ihm.
„Ist gut, Mä’chen. Ruhe dich mal aus.“ Ihre Mutter lud ein paar Reihen neben ihr ebenfalls Heu auf einen anderen Wagen auf.
„Schön, dass ich eine Weile sitzen kann“ sagte sie und setzte sich zu ihm.
„Ja, die Arbeit ist hart hier draußen.“ Walter ließ den Kopf in den Nacken fallen und entspannte die Schultern. „Ich werde mich aber nicht mein ganzes Leben lang für andere Leute abschinden.“
„Aber ihr braucht doch auch das Geld. Wovon willst du denn sonst leben?“ Frieda kaute nachdenklich an ihrem Brot.
„Im August werde ich achtzehn. Dann gehe ich zur Kriegsmarine. Gemeldet habe ich mich schon. Ich freue mich auf die fremden Länder. Da kann ich bestimmt viel lernen.“ Stolz klang in seiner Stimme mit. Er biss herzhaft in seine Scheibe Brot, auf der man nur einen Hauch von Butter ahnen konnte.
„Du willst weg von hier?“ Frieda konnte Walters Fernweh nicht verstehen. Ihr war die vertraute Umgebung lieb. Die Eltern, ihre Geschwister und der Bauernhof bedeuteten ihr viel. Sie war zufrieden.
„Ja, ich sehe mir die Welt an. Es gibt bestimmt noch anderes als diese Felder!“ Er deutete mit dem Kopf zum Gutsbesitz. Dabei sah er, wie ihm Habermann mit Zeichen zu verstehen gab, er solle an die Arbeit zurückkehren. „Ich muss wieder rüber. Wiedersehen, Frieda!“ Walter stand auf und wollte gehen.
„Walter?“, rief Frieda ihm nach.
„Ja?“ Er blickte sich noch einmal um.
„Schreibst du mir von den fernen Ländern?“
„Mache ich. Gerne!“

Für Walter ging ein Traum in Erfüllung. Als der zweite Weltkrieg ausbrach, war er bei der Kriegsmarine. Frieda war sehr aufgeregt, als sie den ersten Brief von ihm erhielt. Walter hatte auf dünnem Luftpostbriefpapier geschrieben.

„Liebe Frieda!

Jetzt bin ich Matrose auf dem Panzerschiff „Admiral Graf Spee“. Zwei Wochen nach meinem achtzehnten Geburtstag sind wir von Wilhelmshaven mit dem Ziel Südatlantik ausgelaufen. Und hier liegen wir jetzt, rund neunhundert Seemeilen ostwärts von Bahia in einem abgelegenen Seegebiet des Südatlantiks. Bisher war alles ruhig, obwohl Deutschland vor drei Wochen den Krieg erklärt hat. Aber ich habe schon die Ozeane gesehen. Das unendlich weite Meer! Ich kann es gar nicht beschreiben. Es ist sehr beeindruckend auf so einem riesigen Schlachtschiff Matrose sein zu dürfen. Alles hier ist interessant und neu für mich. Ich lerne hier Morsen und Stenographieren. Das macht mir großen Spaß!
Unsere Besatzung besteht aus 586 Matrosen und 33 Offizieren. Unser Kapitän, Hans Langsdorff, hat sehr menschliche Umgangsformen. Das macht ihn uns sympathisch. Er ist immer um unser Wohl bemüht. Wir werden hier gut aus der Bordküche und der Bäckerei versorgt. Mit den Matrosen aus meiner Kajüte habe ich mich schon angefreundet. Sie sind alle in meinem Alter.
Gestern hielt der Kapitän eine Ansprache an uns. Aus Berlin haben wir den Befehl zum Handelskrieg erhalten.
Liebe Frieda, jetzt wird es ernst. Wir müssen auf Gefechtsstation.

Dein Walter“

Sie las den Brief noch einmal. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die letzten Zeilen sehr eilig geschrieben aussahen. Frieda hoffte, dass es Walter gut gehe.
Als er den Brief aufgegeben hatte, musste bei ihm noch alles in Ordnung gewesen sein, versuchte sie sich zu beruhigen. Und doch wartete sie ungeduldig auf die nächste Post von ihm.

In den folgenden drei Monaten machte die „Admiral Graf Spee“ im Atlantik und im Indischen Ozean Jagd auf feindliche britische Handelsschiffe. Das Panzerschiff versenkte in der Zeit neun Frachter mit insgesamt über fünfzigtausend Bruttoregistertonnen, ohne dass auch nur ein einziger Seemann der „Admiral Graf Spee“ sein Leben dabei lassen musste. Die Taktik des Kapitäns war, irgendwo kurz zu erscheinen, ein Opfer zur Strecke zu bringen und dann wieder in der Unendlichkeit des Ozeans zu verschwinden. Die Jagd der feindlichen Kriegsschiffe auf den einsamen „Wolf“ in der weiten See nahm erst am 13. Dezember 1939 vor der Mündung des Rio de la Plata ein Ende. Drei britische Kreuzer hatten die „Admiral Graf Spee“ zweihundertfünfzig Meilen vor der atlantischen Küste abgefangen und ihr die Durchfahrt zur offenen See versperrt. Kapitän Langsdorff war gezwungen, das Feuer nach allen Seiten auf das feindliche Geschwader zu eröffnen. Nach neunzig Minuten war das Gefecht beendet. Das deutsche Panzerschiff erhielt an die zwanzig Treffer. Sechsunddreißig Seeleute kamen ums Leben, sechzig weitere wurden verwundet. Granaten hatten Löcher in die Bordwand gerissen. Die Treffer am Bug machten die Reise zurück nach Deutschland unmöglich. Die Küche sowie die Bäckerei wurden zerstört. Die Verpflegung der Mannschaft auf See war dadurch nicht mehr möglich. Die „Graf Spee“ lief den nächsten neutralen Hafen in Montevideo an, um die Schäden auszubessern. Die uruguayische Regierung gewährte Kapitän Langsdorff dafür zweiundsiebzig Stunden Aufenthalt. Deutsche Spezialisten schätzten jedoch die nötige Dauer für die Reparaturen auf mindestens zwei Wochen. Nach den neuen Erkenntnissen bat Kapitän Langsdorff das Oberkommando um Instruktionen, erhielt aber nur eine ausweichende Antwort: Eine Internierung käme nicht in Frage, aber ob er kämpfen oder das Schiff versenken wolle, müsse er selbst entscheiden.
Die Seeleute der Handelsschiffe, die vor dem Untergang ihrer Schiffe an Bord genommen worden waren, wurden frei gelassen und die sechsunddreißig deutschen Soldaten, die im Gefecht gefallen waren, unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt.
Kurz vor Ablauf der Zweiundsiebzig-Stunden-Frist stach der stählerne Riese am 17. Dezember wieder in See. An beiden Masten wehte die Kriegsflagge. Gefechtsbereit warteten die drei britischen Kreuzer auf die sichere Beute. Der Kapitän erkannte, die Situation für sein Schiff war aussichtslos angesichts der Übermacht. Er ließ die gesamte Mannschaft ausbooten, die später, trotz heftiger Proteste der deutschen Regierung, in Argentinien interniert wurde. Kurz nach achtzehn Uhr des selben Tages stach die „Admiral Graf Spee“ nach kurzer Liegezeit im Hafen von Montevideo wieder in See. Knapp zwei Stunden später wurde das Schlachtschiff am Rande der Dreimeilenzone im Atlantischen Ozean auf Befehl seines Kommandanten, Kapitän zur See Hans Langsdorff, mit Bomben selbstversenkt. Zwei Tage später erschoss sich Hans Langsdorff, Kapitän ohne Schiff. Er hatte nicht einen Mann seiner Mannschaft unnötig geopfert – aber sein Leben. Er wusste, er hatte keine Chance. Er wusste, man hätte ihm den Prozess gemacht: Feigheit vor dem Feind, Verrat, weil er nicht bis zum „letzten Mann“ gekämpft hatte, ihm das Leben seiner Matrosen wichtiger war als sinnloses Durchhalten. Und am Ende hätten sie ihn auch nur an die Wand gestellt und erschossen. Dem entging er. Er wurde in Buenos Aires in Ehren beigesetzt.

In diesen Tagen erfuhr Frieda von Kurt, einem Marine-Offizier, der gerade auf Fronturlaub im Dorf war, von der Versenkung der „Admiral Graf Spee“. Er verlor jedoch kein Wort über die Besatzung. Was war mit Walter geschehen?

Während sich Frieda Sorgen machte, saß Walter in Buenos Aires und schrieb einen Brief an sie:

„November 1940
Liebe Frieda!

Ich hoffe, dir und deiner Familie geht es gut.
Ich bin jetzt im Internierungslager in Buenos Aires, der Hauptstadt von Argentinien. Dass ich noch am Leben bin, habe ich unserem Kommandanten Langsdorff zu verdanken. Bevor wir die „Admiral Graf Spee“ versenkt haben, hat er befohlen, die Mannschaft in Sicherheit zu bringen. Er hatte eben sehr menschliche Ansichten. Leider hat er sich zwei Tage nach der Versenkung der „Admiral Graf Spee“ erschossen. Er wollte wahrscheinlich nicht als feige gelten. In Buenos Aires gibt es sogar einen deutschen Friedhof. Da haben wir unseren Kapitän beerdigt.
Ich habe hier auch deutsche Autos gesehen. Am Stadtrand von Buenos Aires hat ein Erdbeben furchtbare Spuren hinterlassen. Wir haben eingefallene Häuser gesehen und auf einem VW-Käfer lagen Berge von Steinen und Staub.
Vom Krieg bekommen wir hier aber nicht so viel mit. Wir dürfen das Lager verlassen und können auch abends ausgehen. Die Sperrstunde ist um dreiundzwanzig Uhr. Bis dahin müssen wir dann wieder hier sein. Gemeinsam mit Otto, einem sehr guten Freund, und noch ein paar Kameraden haben wir schon viele Landausflüge gemacht. Es treibt uns dabei immer wieder zur Küstenstraße. Die Landschaft hier ist einfach herrlich. Am meisten beeindrucken mich die riesigen Palmen. Die stehen so selbstverständlich am Straßenrand wie in Deutschland die Linden. Die weitläufigen Steppenfelder landeinwärts sind umrahmt von Vorgebirgsketten der Anden und überall sieht man Pferde, Schafe und Rinder grasen. Es ist ein wunderschönes Land. Otto schwärmt auch sehr von Argentinien. Aber ich glaube, Juanita hat es ihm noch mehr angetan. Sie ist eine schwarzhaarige südländische Schönheit. Es gibt einige Kameraden, die hier schon Familie gegründet haben. Jetzt bewirtschaften sie kleine Farmen am Rande von Buenos Aires. Aber zur Sperrstunde müssen sie wieder im Internierungslager sein.
Im November ist Sommer in Argentinien. Du kannst dir diese Hitze nicht vorstellen. Wir tragen unsere Matrosenuniform in tropischem Weiß. Die Lagerdirektion hat uns die Erlaubnis erteilt, die Hosen und Hemden zu kürzen. In der Mittagszeit halten wir Siesta in unserem Quartier. Draußen hält man es bei den Temperaturen nicht aus. Dann musiziere ich mit einigen anderen Matrosen auf der Mundharmonika oder dem Akkordeon. Im großen Aufenthaltsraum haben wir sogar ein Klavier stehen.
Außerdem habe ich angefangen, Spanisch zu lernen, damit ich mich hier ein wenig verständigen kann. Keiner von uns weiß, wann wir zurückkehren werden. Mit Sport halten wir uns fit. Auf dem Plan stehen Lauftraining und Fußball spielen.
An den Abenden, wenn alle zur Ruhe kommen, verfasse ich kleine Geschichten, die ich in gemütlicher Runde vorlese.
Ich lege dir eine Landkarte von Argentinien in das Päckchen. Einige Routen, die wir uns schon angesehen haben, habe ich für dich darauf eingezeichnet. Mein blaues Uniformhalstuch lege ich dir auch dazu. Es ist uns freigestellt, es zu tragen. Im Sommer sind wir alle froh, wenn wir nicht mehr als nötig am Leibe haben müssen. Ich schenke dir das Tuch zur Erinnerung an mich.

Dein Walter“

Erst als im Jahre 1946 J. D. Peròn zum argentinischen Staatspräsidenten gewählt wurde, kehrten die kriegsinternierten Matrosen in ihre Heimat zurück. Alle waren sie aufgefordert worden, sich in Deutschland zu melden. Walters bester Freund Otto hatte, wie einige andere auch, inzwischen geheiratet. Auch sie mussten sich zuerst melden, bevor sie endgültig in Argentinien bei ihren Familien auf den kleinen Farmen bleiben durften.
Die Wege der beiden Freunde trennten sich hier. Walter blieb in Deutschland. Im Ruhrgebiet arbeitete er in einer Gärtnerei. Die Pflanzen, mit denen er täglich zu tun hatte, erinnerten ihn an die unvergleichliche Vegetation in Argentinien. Walter war mit Leidenschaft bei der Arbeit. Dennoch trieb ihn die Sehnsucht ein Jahr später zurück in die alte Heimat. Wie würde es Frieda gehen? Hatte sie den schlimmen Krieg in Deutschland wohl überlebt? Und sein Heimatdorf; würde er es nach all der Verwüstung noch wiedererkennen?

Frieda lebte. Sie war siebenundzwanzig Jahre alt und eine hübsche junge Frau geworden.
Walter überließ seine Familiengründung nicht dem Schicksal und heiratete das Mädchen, bei dem seine Gedanken all die Zeit gewesen waren. Noch im selben Jahr wurde ihre erste Tochter geboren; eine weitere machte seine Familie komplett.
Wenig später baute er mit Frieda ein kleines Haus, zu dem ein groß angelegter Garten mit Wiese gehörte.
Die beiden Mädchen und später vier Enkel waren sein ganzer Stolz, sein Ein und Alles. Was ihm wichtig war, aber auch, was ihm in seiner Kindheit versagt blieb, das sollte nun in ihnen Wirklichkeit werden: gute Schulbildung und ein Beruf, Lust am Leben und Freude an guter Gemeinschaft. Walter wollte gebraucht werden mit seiner Lebenserfahrung und seinem Wissen, mit seiner Hilfsbereitschaft und seinem Rat.

Ich erinnere mich, wie Großvater Walter mir die Wochentage und Monatsnamen beibrachte, als ich ein kleines Mädchen war. Er übte mit mir Rechnen und erklärte, was eine Quersumme ist. Wir Enkelkinder lauschten gespannt seinen Geschichten aus den fernen Ländern und blätterten stundenlang im Fotoalbum. Nur schwer konnten wir uns damals die Größe des Panzerschiffes vorstellen, von dem Großvater erzählte.

In liebevoller Erinnerung an unsere Großeltern Frieda und Walter stehen heute vier junge Menschen an ihrem Grab: Ein Geschichtslehrer, ein Mathematiklehrer, ein Musiker und eine Autorin.


(c) Anke Modemann

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