Damit fängt es immer an. Schwere Schritte, die Treppe hoch, an ihrer Tür vorbei, am Treppenabsatz ein Schnaufen, dann die letzten zehn Stufen. Jetzt schließt er die Tür auf.
Emmy Wagner beißt die Zähne fest zusammen. Ihre eigenen, mit 87 Jahren hat sie immer noch ihre eigenen Zähne. Bis auf die beiden vorderen Schneidezähne, das sind Kronen. Sie greift nach der Fernbedienung und stellt die Lindenstraße lauter.
„Was gibt’s zu essen?“ Die tiefe Stimme ihres Nachbarn übertönt problemlos die eher zarte Stimme von Frau Beimer. Die Antwort ist nicht zu hören, fällt aber – wie jeden Abend – zum Missfallen ihres Nachbarn aus.
„Was, schon wieder? Hätte ich das gewusst! Hätte ich das vor zehn Jahren gewusst! Und wie es hier wieder aussieht!“
Emmy Wagner stellt noch ein bisschen lauter, das Wasser in der Vase auf ihrem Fernseher vibriert leicht.
„Und mein Herr Sohn, will der seinen Vater nicht begrüßen?
Fe-lix!“
Emmy lässt den Finger auf der Fernbedienung, denn jetzt kommt das Schlimmste. Jeden Abend, außer dienstags, denn da hat ihr Nachbar Skatrunde. Dann ist es ruhig im Haus. Bis auf gelegentliches leises Kinderlachen von oben.
„...was? Was?“ Und dann kommt das Geräusch, das problemlos die Wände durchdringt. Ein Klatschen gefolgt von einem leisen Wimmern.
„...was? Was? Jetzt auch noch frech werden? Pass auf, gleich setzt es mal wirklich was! Dir werd’ ich noch die Flötentöne beibringen!“
Emmy schließt die Augen. Lindenstraße ist schon längst vorbei. Sie denkt an ihre Schwester, an ihren kleinen Bruder Erich, an ihren Vater. Erich ist gestorben. Er sei vom Heuboden gestürzt haben sie früher erzählt. Emmy war dabei, als Erich ‚vom Heuboden gestürzt war’. Der Vater legte sehr großen Wert darauf, dass alle Geschwister etwas lernten, wenn eines verprügelt wurde. Dass diene der Abschreckung, sagte er immer. Sie war damals gerade mal neun, erschreckend dünn und klein für ihr Alter. Erich war fünf. Er war immer ein fröhliches Kind gewesen, trotz der Prügel. Als der Vater auf Erich einschlug biss Emmy die Zähne zusammen. Fest ganz fest. Ihr Mund war ganz trocken und sie fuhr von innen mit der Zunge ihre Zahnreihen entlang, blieb bei der großen Lücke hängen, schmeckte noch ein bisschen Blut. Eigentlich war das ihre Tracht Prügel, sie hatte die Eier ja fallen lassen. Vaters Abendbrot-Eier. Sie dachte, er schlüge sie tot. Als sie die beiden Zähne ausspuckte, dachte sie, dass es eigentlich ganz schön wäre, wenn sie tot wäre. Und dann hörte sie die Kinderstimme ihres Bruders.
„Nich machen. Nich machen!“ Ihr fünfjähriger Bruder versuchte den Arm des Vaters festzuhalten. Der Vater hielt tatsächlich inne und für einen Bruchteil starrten sich Sohn und Vater gegenseitig an. Der Sohn sah nicht den Vater, er sah die kräftigen Oberarme, die großen schwieligen Hände und die geballte Wut in den Augen. Der Vater sah nicht seinen kleinen unterernährten Sohn, er sah einen Jungen aufmüpfig, trotzig. Dann war der Bann gebrochen. Der große kräftige Bauer krempelte die Ärmel hoch: „Dir werd’ ich die Flötentöne noch beibringen, Bürschchen!“
Emmy beißt die Zähne zusammen und stellt ihren Fernseher aus. Dann steht sie auf, streicht ihren Rock glatt und geht zur Tür. Sie greift sich ihren Regenschirm, nicht den kleinen Knirps, den sie immer zum Einkaufen mitnimmt, sondern den großen mit dem Holzgriff. Sie geht die Treppe hoch. Leise Schritte, etwas schlurfend, weil sie Schlappen anhat.
Ihr Herz klopft bis zum Hals - ‚nich machen, nich machen’.
Die Türklingel macht ein seltsam fremdes Geräusch. Sie kann sich nicht daran erinnern, es schon mal gehört zu haben. Sie kann sich aber auch nicht daran erinnern, dass ihre Nachbarn schon mal Besuch hatten.
Sie hört seine Schritte. Er öffnet die Tür und sie starren sich für einen kurzen Augenblick an. Er sieht nur eine kleine zitternde Oma, vermutlich Parkinson. Vermutlich ’ne Verrückte.
Und plötzlich brüllt die Verrückte: „Ichwerde sie anzeigen, sie altes gemeines Aas! Ich werde sie anzeigen wegen Ruhestörung, Hausfriedensbruch und Kindesmissbrauch! Aber bevor ich das tue...“
Die Bewegungen waren erstaunlich schnell und kraftvoll. Der erste Schlag ließ ihn in die Knie gehen, der zweite traf seinen Schädel so gezielt, dass er ohnmächtig zusammenbrach.