Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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August 2002
Die Anzeige
von Sonja Viola Senghaus


Heute ist es also soweit. Ich stehe am Briefkasten und halte mit zitternden Fingern das langbefürchtete Strafmandat in der Hand. „Polizeivollzugsstelle Knittelsheim“ ist der Adressat. Seit zwei Monaten warte ich darauf, warten ist zuviel gesagt; eigentlich hoffte ich die letzten Wochen darauf, dass der Strafzettel einfach nicht mehr kommen, dass er vergessen würde in der vorweihnachtlichen Hektik.
Insgeheim hatte ich mir die gute Tat eines auf der Warteliste der Beförderungen stehenden Polizeibeamten vorgestellt, der am Nikolausmorgen seinem Vorgesetzten mit Herz und Verstand einen gut durchdachten Vorschlag unterbreitete. In meiner Fantasie war es ein noch sehr junger, engagierter Beamter, dem dieses Glück der schnellen Beförderung beschieden war, etwas ungewöhnlich zwar in dieser Berufssparte, aber nicht unmöglich.

Ich liebe ungewöhnliche Situationen nicht gerade dann, wenn ich in einer solchen stecke, hinterher aber umso mehr, hat man doch die Lacher mal wieder auf seiner Seite.
Also, der besagte Polizeibeamte, ich will ihn mal Theo nennen, nein, es musste ein modernerer Name sein. Rene, nein, er kann auch nicht Rene heißen, weil ich gerade den Akzent unter „einfügen“ an meinem Computer nicht finden kann. Endlich habe ich den passenden Namen für den jungen, hoffnungsvollen Polizisten gefunden: Stefan! Auch auf die Gefahr hin, dass der Name zu brav, zu bieder erscheinen möge, für mich kommt nur noch Stefan in Frage.
Also, nun kann die Geschichte endlich los gehen: „Mein“ Stefan stürmte an dem schicksalhaften Freitagmorgen in das Zimmer seines Vorgesetzten, nein, er hieß ja Stefan, und der Name bürgt für Ruhe und Gelassenheit: der Jungbeamte Stefan ging bedächtig, aber sicheren Schrittes in das Vorzimmer des Polizeipräsidenten und meldete sich bei der Sekretärin an. Diese schaute kurz auf, bedauerte, dass ihr Chef im Moment keine Zeit für ihn habe, doch Stefan ließ sich von den fadenscheinigen Argumenten der Frau Mackowitz nicht abwimmeln, zeigte ihr die Dringlichkeit seines Anliegens durch sein entschlossenes Weitergehen. An der Tür seines Vorgesetzten angekommen, klopfte er kurz und prägnant, schob aber dabei schon die Tür unter heftigem Protest der Polizeipräsidentenvorzimmerdame auf.
Herr Berger, der Chef von Stefan, sah überrascht, aber nicht unwillig von den vor ihm liegenden Akten auf, bat sodann Stefan, ihm gegenüber Platz zu nehmen. „Gerade wollte ich Sie von Frau Mackowitz zu mir rufen lassen. Dass Sie meinen Anordnungen zuvor kommen, scheint mir fast schon verdächtig“, meinte er schmunzelnd und rückte nun endgültig mit seinem Anliegen heraus: „Ich habe mir gedacht, wir sollten das alte Jahrhundert nicht ausklingen lassen ohne eine gute Tat. Schauen Sie mich nicht so erschrocken an“.
„Es ist nur ...“, stotterte unser Stefan entgeistert, aber Herr Berger ließ ihn nicht ausreden. Er fuhr nun in ernsterem Ton mit seinen Überlegungen fort: „Es soll eine Art Wettbewerb für euch Junge sein. Wer zuerst die beste Idee einbringt, wie man am heutigen Nikolaustag einen Verkehrssünder oder eine Verkehrssünderin ein Nikolausgeschenk bereiten kann, dem soll die Beamtenlaufbahn hierdurch verkürzt werden.
Und Stefan, brachte, wie aus der Pistole geschossen, seinen längst gehegten Wunsch vor: „Man sollte einen Verkehrssünder heute ungestraft bei Rot an der Ampel passieren lassen.“ Genaueres besprachen die beiden Männer bei einem Glas Cognac und einer dicken Zigarre am Besuchertisch, und für unseren Stefan war die Beförderung für nächsten Monat so gut wie perfekt.

Ich stellte mir noch vor, dass er sich die Fotos der „Rot“fahrerInnen ansehen würde und zu dem Entschluss kommen musste, dass meine Aufnahme eine der besten war. Den Friseur habe ich einen Tag zuvor noch aufgesucht, meine Stimmung bei der Rückfahrt von Knittelsheim in meinem roten Golf war besser als bei der Hinfahrt: Der Grund hierfür war ein Auftrag, den ich sowohl zu meiner Zufriedenheit als auch der meines Auftraggebers erledigt hatte. Die Scheine in der Tasche, hangelte ich mich singend im Duett mit John Bon Jovi von Ampel zu Ampel bis zu dem wunderbaren Moment, als der Himmel vor mir sich zu einer Kulisse eines herrlichen Naturschauspiels verwandelte. Aus dem Traum erwachte ich jäh, als ein grelles Rot sich in das sonst so harmonische Aquarell einfügte und zweimal aufblitzend die idyllische Landschaft vor mir störte.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt begriff ich, dass mein soeben an Land gezogenes Geld wieder verloren war. Es war ja nicht allein der Verdienst, der flöten ging, noch schlimmer war die Vorgeschichte: Ich hatte eine Zeitungsannonce aufgegeben, in der ich um die Textgestaltung für eine persönliche Grußkarte zu Weihnachten oder zu anderen Gelegenheiten in Gedicht- oder Briefform warb.

Es klang wie der Werbespot einer Agentur, schön im Plural gehalten: „Suchen Sie eine persönliche Grußkarte zu Weihnachten? Fehlen Ihnen oft die passenden Worte? Fällt Ihnen absolut nichts ein? Wir lassen uns etwas für Sie einfallen! Bei uns finden Sie Texte für alle Gelegenheiten in Gedicht- oder Briefform (Glückwünsche für Fest- und Gedenktage, Kondolenzschreiben, Briefe in Herzensangelegenheiten u.v.a.m. Schreiben Sie uns unter Chriffre-Nr. P 228665)“, so lautete meine Botschaft an den interessierten Leser. Nach vorheriger Anfrage bei der Tageszeitung schien die Anzeige für mich erschwinglich zu sein und eine zusätzliche Einnahmequelle zu sichern.
Ich gestaltete den Text sehr künstlerisch mit der ansprechendsten Schriftart, die ich im PC kannte, eingerahmt, und ab die Post. Die Rechnung kam am nächsten Tag: fast 300,-- DM mit Mehrwertsteuer sollte der Spaß kosten. Ich war entsetzt, sah alle Felle davonschwimmen, verbarg die Rechnung vor den Augen meines Ehemannes, der mir schon jeden Monat die Telefonrechnung wie einen Fremdkörper entgegenhielt, der infiziert sein könnte.
Und nun dies! Nachts schlief ich kaum, die Gedanken arbeiteten wie wild! Am nächsten Tag setzte ich mich sofort mit der Lokalredaktion in Verbindung, aber der zuständige Redakteur war nicht da. Also hieß es, noch einen Tag geduldig abzuwarten.
Der nächste Tag bescherte mir ein Telefongespräch mit dem Chef der Tageszeitung und einen Auftrag! Zuerst der Inhalt des Telefonats: Meine Anzeige war zu wuchtig geraten. Die Zeitung druckte sie dreifach so groß ab. Jetzt erinnere ich mich, dass mein Mann sie auf den ersten Blick nicht fand, weil er zunächst unter den Kleinanzeigen suchte. Und dann teilte er mir hocherfreut mit, dass sie schon auf der ersten Seite sei, und in einer nicht übersehbaren Größe. Keiner von uns machte sich Gedanken darüber, welche finanzielle Folgen dieses Riesending für uns haben musste.

Beim Lokalredakteur der Zeitung zog ich alle Register der Mitleiderregenden: ich könne auf Grund der hohen Anzeigenkosten nachts nicht mehr schlafen und die Sache auf keinen Fall meinem Mann erzählen. Erschwerend komme noch dazu, dass in diesem Jahr alle Weihnachtsgeschenke gestrichen werden müssten. Herr Fischer zeigte sich daraufhin sehr kooperativ, indem er meinte, er könne die Anzeige ja nächste Woche nochmals in die Zeitung setzen, was ich nicht so gut fand. Ich versuchte, meinem Jammer noch eins draufzusetzen, indem ich ihn in unsere Umbauarbeiten einweihte. Er zeigte sich endlich verständnisvoll meiner schwierigen häuslichen Lage gegenüber und ließ mir schließlich zweihundert Mark nach.

Am nächsten Tag nach der Arbeit hechtete ich gleich zum Briefkasten, um die richtiggestellte Rechnung herauszuangeln. Was dabei zum Vorschein kam, war ein im Briefumschlag zusammengefalteter zweiter Brief. Neugierung besah ich ihn, und zu meiner Überraschung las ich „Chiffre-Nr. P 22865“. Ah ja, nicht schlecht, befand ich, und öffnete ihn äußert vorsichtig, damit nichts von seinem wertvollen Inhalt beim unsanften Öffnen verloren gehen könne. Ein Herr Weinlich wollte ein Gedicht zu einem anstehenden runden Geburtstag verfassen lassen. Er bat mich „diesbezüglich mit ihm in Verbindung treten zu wollen“ und bedankte sich vorab. Oh Gott, vornehm geht die Welt zu Grunde, dachte ich, aber besser als nichts, so rechnete sich auch meine großkotzige Anzeige.
Am späten Nachmittag rief ich den Knaben an, seine taufrische Stimme klang sehr aufgeräumt und wohlwollend. Überzeugt davon, eine Werbeanzeigeprofifrau an der Strippe zu haben – die Anzeige war ja protzig genug – legte er sofort los mit seinem Anliegen. Seine geliebte Ehefrau werde zum Jahresende 60, und er wollte ihr wie an allen runden Geburtstagen ein Gedicht vortragen, in dem all ihre Vorzüge wenigstens alle zehn Jahre einmal gepriesen würden. Er sei in der Chefetage einer Zeitung angesiedelt – auch das noch! – und habe leider keine Zeit zum Dichten, obwohl er das ohne Weiteres auch noch hinkriegen würde. Nach dem Anschreiben zu urteilen, war dieser Typ stocksteif, konservativ und unbeweglich, ich sprach ihm von vorneherein jede künstlerische Ader unbesehen ab. Vor mehr als 10 Jahren habe er schon mal auf eine Anzeige geantwortet und sei damals auch auf eine junge Frau gestoßen, die ihm prompt sechzig Zeilen lieferte. Das Gedicht war für seine Schwiegermutter zum 70. Geburtstag verfasst worden und trug den Titel „Die Frau ohne Beruf“.
Er stelle sich vor, in der Art oder auch etwas ähnliches für seine Gattin zu erhalten. Wir vereinbarten einen Gesprächstermin, da ich, wie ich bemerkte, sowieso einen Auftrag in der von ihm erwähnten Stadt, ganz in der Nähe seines Arbeitsplatzes, an Land gezogen und meine Abschlussbesprechung zufällig auch am gleichen Tag hätte. Herr Weinlich zeigte sich daraufhin sehr erfreut auch darüber, mich kennen zu lernen.

Am besagten Morgen überlegte ich mir lange, wie ich mich anziehen sollte: Solide, so wie er mir am Telefon erschien, oder lieber etwas frecher? Ich entschied mich für etwas frecher, grauer Wollblazer und Hose, knallgrüner Pulli, afrikanischer Ohrring, grellgrüne Baskenmütze. So sah eine Künstlerin aus: modern, extravagant, flippig. Mochte der Weinlich auch der Meinung sein, dass man hinter dem Schreibtisch verstaubt, mausgrau und langweilig aussehen müsste – na, der sollte staunen!
Das tat der nun dann auch, als er mich in der Empfangshalle begrüßte. Ich war zu früh dran, das ist mir ehrlich noch nie passiert, dass ich bei einer Verabredung die Erste war. Die Empfangsdame gab sich alle Mühe, Herrn Weinlich in seinem Büro zu ereichen. Er war nicht an seinem Platz, doch nach wenigen Minuten ging die Drehtür auf, und der Erwartete kam strahlend auf mich zu mit den Worten: „Hoffentlich warten Sie noch nicht so lange auf mich. Kaum hatte ich Sie zu Gesicht bekommen, wusste ich schon, dass Sie das sind.“
Ich drehte mich um, weit und breit war niemand außer mir zu sehen.
Ja, im Gegensatz zu ihm war ich überrascht, als ich meinen Auftraggeber vor mir sah. Der vollen, tiefen Telefonstimme nach zu urteilen, müsste er dreimal so breit und groß sein, wie er war. Nichts von alledem: Vor mir stand ein kleines, dünnes, energiegeladenes Männchen im dezenten grauen Flanellanzug, dicker Brille und einem gewinnenden Lächeln auf den blutleeren Lippen. Nachdem ich mich etwas gefasst hatte, holte ich mein strahlendstes Lächeln heraus, das ich auf Lager hatte, um ihm zu versichern, dass ich keine Sekunde auf ihn habe warten müssen, da ich ebenfalls gerade durch diese Tür gekommen sei.
„Ich möchte auf keinen Fall gestört werden“, machte Herr Weinlich der Empfangsdame im Foyer energisch klar. Die glaubte zu verstehen und winkte mir noch augenzwinkernd zu, bis ich mit ihrem Chef im Fahrstuhl aus ihrem Blickfeld verschwand.
Oben angekommen, war niemand mehr weit und breit in den Büroräumen zu sehen. Dann fiel mir ein, dass am Freitagmittag viele Betriebe nicht mehr so lang arbeiteten. Nur manche Chefs glaubten, unentbehrlich zu sein, und von der Sorte war es einer.
In seinem Zimmer angelangt, das edel ausgestattet war „im feinsten Wurzelholz“, wie Herr Weinlich mir versicherte, nahmen wir auf der Besprechungs-Ledergarnitur Platz. Das Büro mit seinem veralteten Mobiliar verkörperte für mich die fünfziger Jahre: eine alte Adler- Schreibmaschine (auf so einer hatte ich meinen Schreibmaschinenkurs absolviert. Damals lernte ich blind schreiben, indem die Rollläden im Kurssaal am helllichten Tag heruntergelassen wurden. Ich versuchte trotzdem, im Dunkeln die Buchstaben zu erkennen, die gerade gelernt wurden: asdfg hjklö und so fort).
Die wunderbare Maschine stand einsam am einzigen Fenster im Zimmer. Ich vermutete sogleich, dass der Brief an mich auf ihr geschrieben wurde, denn alles auf dem beschriebenen Blatt Papier sprach dafür: die blasse Schrift - da müsste das Farbband dringend ausgewechselt werden -, ein paar hochstehende Großbuchstaben verrieten den schnellen Schreiber. Die alte, ehrwürdige Briefform hatte die Siebziger nicht mehr erreicht.
Der Schreibtisch, ebenfalls in Nussbaumholz, mit eleganter, traditioneller Schreibgarnitur versehen, erinnerte mich an den meines letzten Chefs vor dreißig Jahren. Das einzige Utensil, das auf dem riesigen Schreibtisch stand, war eine mechanische Rechenmaschine, Marke Nachkriegsmodell.

Kaum hatten wir in den dicken Sesseln Platz genommen, klopfte es an die Tür. Der Postbote entschuldigte sich für die Verspätung der Morgenpost.
Herr Weinlich, mit einem bedeutungsvollen Blick auf mich, reagierte etwas unwirsch auf die Störung: „Wie Sie sehen, habe ich Damenbesuch. Lassen Sie uns bitte allein.“ Der ältere Mann mit dem Schnurrbart lächelte verständnisinnig und schloss leise wieder die Tür hinter sich.

Bevor wir zu den lobenswerten Charaktereigenschaften von Frau Weinlich vordringen konnten, wurden wir noch einmal unterbrochen. Dieses Mal war das schrille Klingeln des roten Oldtimer-Telefons von Herrn Weinlich der unangenehme Störenfried. Stirnrunzelnd, eine Entschuldigungsfloskel murmelnd, nahm Herr Weinlich etwas unwillig den Hörer von der Gabel. Doch in Sekundenschnelle änderte sich sein Gesichtsausdruck. In die Augen trat ein Glanz, die Brust schwoll förmlich an unter seiner zu engen Anzugsjacke, bis er plötzlich sogar „stramm“ stand vor diesem besonderen Anrufer: “Ich kannte bereits Ihren Herrn Vater,“ konstatierte er mit vor Stolz angehobener Augenbraue, „aber Sie entschuldigen meine Unpässlichkeit im Augenblick? Ich habe Besuch von einer jungen Dame, Sie verstehen? Ein andermal nehme ich mir wieder mehr Zeit, mit Ihnen zu plaudern. Grüßen Sie Ihre Frau Mutter von mir. Auf Wiederhören.“
‚Na’, dachte ich, ‚der hat doch Stil, der Herr Weinlich, der wird sich sicher nicht lumpen lassen mit dem Honorar.
Schon saß er mir wieder gegenüber, mir versichernd, dass er nichts gegen mich habe, aber seine Frau alle anderen weiblichen Wesen ins Aus stellen könnte. ‚Na ja“, dachte ich` ‚von mir aus, wenn er nur mal zum Punkt kommt und nicht geizig ist.’ Es kam schlimmer, als ich dachte. Frau Weinlich war die absolute Traumfrau: Heimchen am Herd, perfekte Ehefrau und Mutter. „Alles in allem, könne es noch hundert Jahre so weitergehen“, meinte Herr Weinlich, der zu Hause in keiner Weise gefordert war und dies sichtlich genoss. Langsam tat mir diese Frau Leid, und ich beschloss, auf den Auftrag zu verzichten und mich aus dem Staub zu machen. Aber es kam noch dicker: Alle Kinder konnten Akkordeon spielen lernen, weil diese tolle Frau auf einen Beruf verzichtete. Und seit die Schwiegermutter gestorben war, hatte sie nur ein Hobby: den Garten bestellen. Nie musste je eine Blume gekauft werden – diese Frau war der helle Wahnsinn. Zur Rückenlockerung ginge sie regelmäßig in die Gymnastikgruppe des Turnvereins, bemerkte der begeisterte Ehemann.

Mit so viel Stoff für mein Reimgedicht hatte ich wirklich nicht gerechnet. Ich war einfach überwältigt von dieser Familie. Bevor der Traum zu meinem Albtraum wurde, verabschiedete ich mich hastig von Herrn Weinlich, nicht ohne zu fragen, was ihm das Gedicht wert sei. „Ein Hunderter ist schon drin“, versicherte er mir voller Inbrunst. Ich versprach, das Beste daraus zu machen und das Ergebnis nächste Woche bei ihm abzuliefern.

Zu Hause angekommen, stürzte ich mich sofort in die Arbeit. In der Küche, dachte ich, kommen mir bestimmt die besten Ideen zu dieser tüchtigen Frau. Und die Überraschung für meinen Mann wäre heute mal gelungen, denn er bekäme ausnahmsweise mal pünktlich etwas zu essen. Meine Zettel, auf den Küchenzeilen vor mir ausgebreitet, füllten sich zu den von Herrn Weinlich gewünschten Sechszeilern.
Auf „So eine Frau wie Monika“ reimte sich gewaltig viel. Die Feier fand immer am Silvesterabend statt, dazu fiel mir dann auch prompt „Diner for one“ ein, das ich in „Diner for all“ umwandelte. Es war das reinste Vergnügen, eine Fülle von Reimworten für diese perfekte Frau zu finden. Sie quollen förmlich aus der Soße heraus, beim Rühren entstanden halbe Sätze, die nur an der richtigen Stelle eingesetzt werden mussten. So leicht hatte ich mir noch nie mein Geld verdient. Morgen schon konnte ich Herrn Weinlich mein Ergebnis per Fax präsentieren, dann nur noch auf Büttenpapier schreiben, fertig!

Eine Empfehlung hatte ich noch für den Vater dreier so musikalischer Kinder: Der Text ließe sich gut vertonen auf die Melodie von „Veronika, der Lenz ist da“, schrieb ich ihm als Nachsatz unter das Gedicht.
Die Antwort kam prompt per Telefon! Herr Weinlich fand das Gedicht gut, außer einer Kleinigkeit, die er zu beanstanden habe: Seine Frau sei nicht in der Silvesternacht, sondern am Morgen des zu Ende gehenden Jahres geboren. Ob es mir etwas ausmache, diese so wichtige Kleinigkeit zu ändern, aber es sei nun mal nicht richtig so. Außerdem solle ich den Nachsatz weglassen. Er habe nicht vor, zu singen, sondern trage grundsätzlich das Gedicht auswendig vor. Schließlich habe er berufshalber schon mehrere Carnegie-Kurse besucht, wenn ich wisse, was das sei. Nach diesem großen Vorbild sei es für ich ein Leichtes, das Gedicht in diesem „erlauchten Kreis“ frei vorzutragen. Der Bruder von ihm sei zwar der einzige Akademiker in der Familie, doch hätten sich alle anderen männlichen Gäste des Silvesterabends – so wie er selbst – „hochgearbeitet“ und sämtliche bekleideten heute hohe Posten in Wirtschaft und Verwaltung. Ich lobte ihn ob des Erreichten und überlegte dabei, ob die anderen Erfolgstypen auch so mickrig aussähen wie Her Weinlich und dennoch über ein solches Stimmvolumen verfügten.

Unsere letzte Verabredung brachte das erwünschte Honorar – ich pokerte hoch und gewann! Herr Weinlich sicherte mir einen Anschlussauftrag zu, falls seine Schwiegermutter im Frühjahr die Neunzig erreiche. Ich wünschte ihr noch ein paar Zehnerzahlen, ebenso wie seiner Frau.

Danach passierte das Dilemma an der Ampel, und heute halte ich den Gebührenbescheid in der Hand. „Stefan“, schreit es in mir, „Stefan, steh mir bei! Es ist Nikolausabend, und Deine Beförderung steht an“, aber Stefan, der hilfreiche Polizist verblasste immer mehr, wurde Traum, und die Wirklichkeit nahm immer mehr Gestalt an. Ich öffnete unter Tränen den Umschlag und konnte es nicht fassen: Es war eine Verwarnung mit folgendem Inhalt:
„Ihnen, als Führerin des PKW VW-Busses, NL-FS 286, wird zur Last gelegt, am 08.01.2001, um 8.56 Uhr in Knittelsheim, Entenweg 89, folgende Ordnungswidrigkeit nach $ 24 STVG begangen zu haben: Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h. Die gemessene Geschwindigkeit betrug abzüglich der Toleranz 44 km/h. Dies ergibt eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 14 km/h. § 41 Abs.2, § 49 STVO und ein Verwarnungsgeld von 50 DM. “
Ich war niemals zu einem so frühen Zeitpunkt in Knittelsheim, und schon gar nicht in einem VW-Bus. Außerdem lautete der Bescheid auf meinen Ehemann, und der fuhr auch nur einen PKW. Als ich mir die Kfz-Nummer näher betrachtete, fiel mir auf, dass es sich hierbei um kein eigenständiges Fahrzeug handelte, sondern um unseren Wohnwagen. Und wie soll der bei abgeschlossener Garagentür einfach so davon rollen. Die Sache ließ sich schnell aufklären, es handelte sich um einen Zahlendreher, und der VW-Bus-Halter ließ sich auffinden.

Wenn auch alles so logisch klingen mag, warum habe ich bis heute keinen Zahlbefehl bekommen? Ich halte nach wie vor daran fest, dass ich die auserwählte Verkehrssünderin von Stefan, dem zur Beförderung anstehenden Polizeibeamten, war. Und ich freue mich mit ihm über die gerechtfertigte Auszeichnung, denn gute Ideen, das musste selbst der in Ehren ergraute Polizeikommissar Berger zugeben, sind heutzutage äußerst selten geworden.

(c) Sonja Viola Senghaus

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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