Janet war allein in ihrer Wohnung - wie so oft in letzter Zeit. Es war bereits zwei Uhr morgens. Sie hatte lediglich eine Kerze angezündet, draußen war es stockfinster, nur ab und zu fuhr mal ein Auto vorbei. Ihr CD-Player spielte ‚Dein Lied’ von Laith Al-Deen, das sie immer und immer wieder von neuem hörte. Sie stand vor einer Entscheidung, musste wählen zwischen einer neuen Liebe und einer ziemlich ungewissen Existenz, oder aber einem zukünftigen Leben ohne Geldsorgen, aber dafür mit einem Partner, der alles andere als der Himmel auf Erden war. Es gab für sie keine andere Alternative und auch keinen Kompromiss.
Die CD war beendet, begann automatisch von vorne und sie versank in ihren Erinnerungen.
Wieder zurück in Dortmund wühlte Janet in ihren Unterlagen, weil sie ihren Terminkalender vermisste. Darin hatte sie ihre Arbeitsstunden notiert, die sie jetzt nach ihrem Urlaub noch abrechnen musste. Er war nicht mehr da. Sie überlegte und rief anschließend in Paris an.
"Ja, der ist hier", bekam sie zur Antwort. "Wenn du ihn wieder haben willst, musst du nach Paris kommen und ihn dir hier abholen." Das waren damals seine Worte und sie nahm ein ironisches Grinsen in seiner Stimme wahr. Wieder nach Paris? Einerseits verlockend, andererseits hatte sie nicht die Absicht, ihren Urlaubsflirt fortzusetzen. Sie führte ihr geregeltes Leben, liebte ihren Job, ihre Freiheit und war ansonsten recht zufrieden mit dem, was sie hatte. Aus! Schluss! Vorbei! Beendet!
Trotzdem fuhr sie am nächsten Wochenende wieder nach Paris – in die Stadt der Liebe.
Die Affäre ging nicht zu Ende. Fast jedes Wochenende verbrachte sie in Paris, wurde von der Familie wie die Tochter des Hauses aufgenommen und fühlte sich wie eine Prinzessin.
'Zusammen leben?', überlegte Janet. Bislang hatte sie sich keine Gedanken darüber gemacht.
"In Deutschland?", fragte sie überrascht.
"Ja, in Deutschland. So, wie ihr beide dies hier handhabt, dass Sie zum Beispiel jedes Wochenende nach Paris kommen, kann es nicht mehr weitergehen. Entweder entscheiden Sie sich dafür, zukünftig mit unserem Sohn eine feste Partnerschaft einzugehen oder aber ihr solltet euch wieder trennen."
Janet blickte aus dem Fenster, sah zum Mond hinauf und hörte erneut ihr Lied. "Ich weiß, dass du irgendwo da draußen bist, wäre es nicht so, wärst Du mir nicht so nah". Ja, sie träumte, sie träumte von Liebe und Glück, das sie schon lange nicht mehr hatte, und grübelte weiter.
"Aber Kindchen, mach dir nichts daraus, es handelt sich doch nur um Geld. Lass den Jungen doch. Er genießt eben sein Leben. In wenigen Jahren wirst du Millionen erben."
Janet war niedergeschmettert. Sie fühlte sich inzwischen auch ihrer persönlichen Freiheit beraubt, abhängig von diesen Millionen, die sie mal irgendwann erben sollte.
Janet bekam kein Verständnis, keine Unterstützung, ab und zu mal Geld zugesteckt und Päckchen mit teuren Accessoires und Parfums aus Paris.
Die Kerze war heruntergebrannt. Sie holte eine neue, setzte sie in den Kerzenständer ein und lauschte erneut dem Lied. "Kenn deine Gedanken, nichts an dir scheint mir fremd zu sein. Es ist, wie wenn ich in den Spiegel schau."
'Ja', dachte sie, 'ich möchte einfach mal in den Arm genommen werden und nicht mehr diese Probleme haben. Einfach nur mal verstanden werden. Ausruhen.' Sie grübelte weiter.
"Schön, dann sind wir ja gerettet", war sein einziger Kommentar und widmete sich weiterhin seinem Nichtstun.
Täglich fuhr sie nun eineinhalb Stunden mit der U-Bahn hin zur Arbeitsstätte und auch die gleiche Strecke wieder zurück, war dabei mehr als zwölf Stunden unterwegs. Erschöpft kam Janet jeden Tag nach Hause und musste sich nebenbei um Kind, Haushalt und Einkauf kümmern. Sie wurde immer müder und ihre Liebe zu Rene ließ spürbar nach.
Wöchentlich kamen die Anrufe ihrer Schwiegereltern, die ihr wie Kontrollanrufe erschienen. Erwähnte Janet ihre Müdigkeit und Resignation, bekam sie zur Antwort:
"Mach dir nichts draus. Das sind nur alltägliche finanzielle Probleme, die hat jeder. Halte nur durch und bleib bei der Stange."
Aber wie lange noch? Janet wurde immer trauriger.
Die CD war wieder zu Ende und fing von vorn an: 'Wenn es Dich irgendwo gibt - dies ist Dein Lied. Ich hoffe, Du kannst es hören.' Janet stand auf und blickte in die Dunkelheit. Ja, sie wollte es hören. Sie wollte sich endlich einfach mal anlehnen können. Sie war müde, verzweifelt und wollte geliebt werden. Aber wo gab es ihn?
Sie grübelte weiter, ließ die Erinnerungen an sich vorbeiziehen.
Dann trat sie eine kurze Dienstreise an. Einige Zeit darauf bekam sie wieder eine Telefonrechnung über eine enorme Höhe. 0190-Nummern während ihrer Abwesenheit.
"Ach, mach dir nichts draus. Das ist doch nur Geld. Er hat sich eben ein wenig amüsiert, während du nicht da warst. Das ist doch normal. In wenigen Jahren wirst du Millionen erben und dann hast du diese Probleme nicht mehr."
Welche andere Antwort oder gar Unterstützung hatte sie eigentlich erwartet?
Der CD-Player spielte erneut. "Dies ist dein Lied. Ich hoffe du kannst es hör´n." Janet wurde, wie so häufig, nervös, schaute in ihre Handtasche und überlegte, ob sie eine ihrer Beruhigungspillen nehmen sollte. Ließ es aber sein und dachte weiter nach.
In wenigen Jahren? Würde sie diese wenigen Jahre denn noch überstehen? Würde sie diese wenigen Jahre überhaupt überleben? Was halfen ihr die Millionen, wenn sie in einem Grab vermoderte?
Aber dann erwischte es sie. Unvorbereitet und aus heiterem Himmel. Nach all den frustrierenden Jahren verliebte sie sich trotz oder vielleicht gerade wegen all ihrer Probleme. Und auch noch in einem Mann, der keine Millionen hatte, der nur Gefühle für sie aufbrachte, mit dem sie reden konnte und der sie verstand.
Das Lied war zu Ende. Sie ließ den CD-Player erneut laufen. "Bist mir so vertraut, obwohl ich dich nie gesehen hab und was du empfindest, weiß ich ganz genau. Ich weiß das du irgendwo da draußen bist ... Wir werden einander erkennen, wenn es soweit ist."
Und? War es nun soweit?
Jedenfalls war es an der Zeit, sich zu entscheiden zwischen ihrer neuen Liebe und einem ungewissen Dasein oder "irgendwann", falls sie überhaupt die Millionen erben würde, einem Leben ohne Geldsorgen, aber mit einem Partner, der ein Kind geblieben war und sich niemals ändern würde. Und sie würde damit beschäftigt sein, diese verdammten Millionen zu verwalten.
Verzweifelt und um Rat bittend wandte Janet sich erneut an ihre Schwiegermutter.
"Aber Kindchen. Auf diese Art und Weise solltest du das Problem nicht lösen. Jede Liebe vergeht und in wenigen Jahren wirst du Millionen erben. Und nun sei vernünftig und bleibe bei unserem Jungen. Was soll sonst aus ihm und unserem Vermögen werden? Und denke auch mal an mich. Ich würde mir noch im Grabe Sorgen machen und in wenigen Jahren werde ich sterben."
Kein Verständnis, kein Rat. Ihre Gefühle wurden zerrissen und setzten sich in Klumpen in der Magengrube fest.
Aber waren sie und ihre Gefühle letztendlich wirklich käuflich? Sie hatte nun die Wahl - die in Aussicht gestellten, aber bislang nie erhaltenen Millionen oder eine neue Liebe und ein neues Leben. Welche Wahl sollte sie treffen?
Die zweite Kerze war herunter gebrannt. Ihr Lied erklang erneut. Sie versank tief in ihrem Sessel, verkroch sich förmlich, hatte Angst, hörte die letzten Töne des Liedes und traf immer noch keine Entscheidung. Was sollte sie wählen? Die Millionen oder einfach nur Liebe und Leben?
Ihre Entscheidung musste sie nun allein treffen und es würde ihr niemand dabei helfen.
Die letzten Worte des Liedes gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf:
"Ich hoffe, du hörst mich! Ich hoffe, du weißt es! ..."