„Das kann doch nicht sein!“ Völlig irritiert zeigte ich auf eine Todesanzeige und reichte die Tageszeitung meiner Frau, die gerade vom Frühstückstisch aufstehen wollte.
Helena rückte ihre Brille zurecht und las ganz langsam vor: „In aller Stille wurde er beigesetzt. Es trauern seine Frau Rosa und die Familie.“
„Ist das nicht dein Kollege aus der Nachbarstadt?“ fragte sie erstaunt.
„Ja, natürlich!“ sagte ich. „Ich verstehe das nicht. Vor sechs Wochen haben wir noch auf der Tagung der Bauamtsleiter zusammen gesessen.“
Ich nahm noch einen Schluck Kaffee. „Und jetzt soll er ...“
„bestimmt einen Herzinfarkt bekommen haben“, ergänzte Helena und sah mich nachdenklich an. „Auch Beamte arbeiten manchmal zuviel.“
„Vielleicht.“ Ich nickte.
Als ich mich wenig später von ihr verabschiedete, sagte ich ihr, dass ich im Laufe des Vormittages zu Frau Schmier fahren würde.
Die Familie Schmier besaß ein einfaches Einfamilienhaus am Rande der Stadt.
Als ich klingelte hatte ich das Gefühl, dass es ein sehr bedrückendes Gespräch werden würde. Rosa Schmier war ganz in Schwarz gekleidet und sehr blass. Sie erkannte mich sofort, nahm mit einem Kopfnicken den Blumenstrauß entgegen und sagte dann mit trauriger Stimme: „Kommen Sie rein. Sie wissen ja was passiert ist.“
„Tut mir aufrichtig leid, dass Ihr Mann so plötzlich verstorben ist“, begann ich im Wohnzimmer das Gespräch, als wir uns gegenüber saßen.
„Er ist nicht plötzlich gestorben“, antwortete sie, drehte den Kopf zur Seite und blickte durch das Fenster nach draußen.
Plötzlich sprang sie auf, stürzte zum Fenster, riss es auf, und ich hörte sie schwer atmen.
Nach einer Weile drehte sie sich um und murmelte leise, ohne mich anzusehen: „Fünf Jahre ist er gestorben. Verstehen Sie, was das heißt, einen geliebten Menschen langsam Tag für Tag sterben zu sehen?“
Mit einmal sah sie mich feindselig an.
„Wahrscheinlich haben Sie es ja auch gewusst, was das verdammte Schwein von einem Bauunternehmer mit meinem Mann gemacht hat. Oder etwa nicht?“
„Nein, nein, ich weiß überhaupt nichts ... überhaupt nichts!“ herrschte ich sie an. In diesemAugenblick wurde mir klar, wie sehr ich mich im Ton vergriffen hatte.
„Entschuldigung! Aber ich weiß wirklich nicht wovon Sie reden.“ Ich wusste es tatsächlich nicht und so wartete ich voller Ungeduld, dass sie mir nun endlich sagte, was passiert war.
Frau Schmier musterte mich ungläubig, überlegte kurz und sagte: „Dann wissen Sie nicht, dass mein Mann vor fünf Jahren von diesem Unternehmer als angebliches Dankeschön für einen Auftrag der Stadt ein paar Scheine erhalten hat?“
Ich starrte sie an. „Nein, das habe ich nicht gewusst.“
Mit müder Stimme sagte sie dann: „Mit jedem neuen Auftrag wurden die Beträge immer größer und mein Mann immer abhängiger von diesem Menschen.“
Sie ging ein Paar Schritte auf und ab und blieb dann mit einem unendlich traurigen Blick vor mir stehen und sagte: „Langsam entwickelte sich bei ihm die fixe Idee, dass, wenn die Sache an die Öffentlichkeit kommt, alle Menschen hinter vorgehaltener Hand nur noch von dem >Herrn Schmier-Geld< reden würden.
Sie begann zu weinen, fasste sich aber schnell wieder und flüsterte: „Diese Vorstellung konnte er nicht verkraften ... und ... hat sich erschossen.“
Sie ließ sich erschöpft in einen Sessel fallen.
(c) Karl-Heinz Ganser
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