Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Katja Nathalie Obring IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
September 2002
Die Pforte zum Garten
von Katja Nathalie Obring


Eben als ich den Finger auf den Klingelknopf drücken wollte, öffnete sich die Tür und ein etwa zehnjähriger Junge starrte mich aus großen Augen an. In den Händen hielt er einen braunen Umschlag, der sich knitternd um etwas Flaches und Viereckiges schmiegte.

„Hallo," sagte ich. „Bist du Johannes?"

Der Junge nickte und rannte dann an mir vorbei. Hinter ihm war Frau Hahrmann aufgetaucht, seine Großmutter. Sie führte mich ins Wohnzimmer, wo Friederich Hahrmann, mein Patient, in seinem Rollstuhl vor dem Fenster saß. Ich ging zu ihm hin und betrachtete ihn, sein schlohweißes Haar auf dem leicht zur Seite geneigten Kopf, die verzerrten Gesichtszüge, den Speichel, der ihm aus dem Mundwinkel auf die Schulter des seidenen Morgenmantels troff. Automatisch streckte meine Hand sich nach der Kleenexbox, zog ein Tuch aus dem Karton und wischte über den Mund des Mannes. Er quittierte diese Einmischung mit einem undeutlichen Gebrumm.

„Hallo, Herr Hahrmann." Sogar ich selbst konnte die unnatürliche Heiterkeit in meiner Stimme hören, und sofort schämte ich mich dafür.

„Wollen wir anfangen?"

Das leise Schütteln steigerte sich zu beunruhigenden Zuckungen. Ich drehte den Rollstuhl vom Fenster weg, so dass ich davor einen Hocker plazieren konnte, auf den ich mich setzte. Dann ergriff ich beide Hände des Mannes und begann mit den Übungen. Normalerweise war Friederich Hahrmann ein sehr kooperativer Patient. Er wollte raus aus dem Rollstuhl, und er wusste, dass die Übungen mit mir seine Fahrkarte zurück in ein selbstbestimmtes Leben darstellten. Wir hatten in den letzten Monaten viel erreicht, aber heute schien er nicht bei der Sache zu sein. Während wir seine Arme nach links und rechts, nach oben und nach unten führten, murmelte er die ganze Zeit vor sich hin. Anfangs schenkte ich dem nicht viel Beachtung, aber schließlich fand ich mich gefangen in dem Singsang: „ ... der Junge ... er muss es sein ... Pfarrer Evander!" Die letzten beiden Worte stieß er in dringlichem Ton aus, beinahe wie ein Flehen, oder wie eine Anklage? Ich war mit den Gymnastischen Übungen fertig, nun kam der für mich als Studentin der Psychiatrie interessantere Teil, die kognitiven Übungen, die dazu dienen sollten, neue Verbindungen im Hirn zu erschaffen und so die zerstörten Partien zu umgehen. Aber Herr Hahrmann war äußerst unkonzentriert, geradezu störrisch an jenem Tag. Er lehnte es sogar ab Memory mit mir zu spielen, das ihm sonst eine große Freude war. Als ich begann, ihm Karten mit Piktogrammen vorzuhalten, damit er die Gegenstände identifiziere, schloß er die Augen und weigerte sich, die Karten zu betrachten.

„ ... der Junge ... er muss es sein ... Pfarrer Evander!" Langsam wurde ich ebenfalls unruhig. Ich beschloss, es für diesen Tag dabei zu belassen, denn ohne aktive Teilnahme des Patienten sind die Übungen schlicht Zeitverschwendung, und schob den Rollstuhl vor den Fernseher, da ich wußte, dass Herr Hahrmann gern die Sieben-Uhr-Nachrichten sah, die in wenigen Minuten beginnen würden. Aber er schenkte dem Fernseher keine Beachtung, sondern verdrehte unablässig den Hals in Richtung auf das große Fenster. Frau Hahrmann tauchte in der Wohnzimmertür auf und nickte.

„So ist er das ganze Wochenende schon. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Nur wenn Johannes da ist, unser Enkel, dann ist er ein bisschen ruhiger."

Ich nickte und schüttelte ihr die Hand. Wie immer steckte ein gefalteter Zehn-Euro-Schein darin. „Wir werden sehen, was wir tun können, Frau Hahrmann. Bis morgen dann."

Als ich in das helle Licht der sinkenden Sonne trat war ich froh, dieser Gruft entkommen zu sein. Wieder einmal fragte ich mich, ob ich mich wirklich auf geriatrische Psychiatrie spezialisieren sollte, wie mein Prof mir dauernd riet. Es war zweifelsohne eine sichere Einnahmequelle, denn alte Menschen würde es immer geben, und viele von ihnen brauchten psychiatrische Betreuung, aber wenn ich nicht langsam abhärtete, würde ich die in absehbarer Zeit auch brauchen.

Als ich am nächsten Tag in die Vorortsiedlung einbog, fuhr ich so schwungvoll um die Ecke, dass ich mit quietschenden Reifen in der Einfahrt zum Stehen kam. Das Schmettern der Autotür scheuchte eine Elster aus der Birke im Vorgarten der Hahrmanns, und Frau Hahrmann, die schon in der Tür wartete, zuckte sichtlich zusammen. Ich lächelte sie entschuldigend an, als ich ihr die Hand entgegen streckte.

„Guten Tag, Fräulein Kintell", begrüßte sie mich. „Gut, dass sie da sind, es wird immer schlimmer mit ihm."

Na Klasse, dachte ich. Ich hatte einen Höllentag an der Uni hinter mir und wollte eigentlich nur noch nach Hause. Dennoch lächelte ich tapfer weiter, ebenso wie die zerbrechliche Frau vor mir. Wir gingen ins Wohnzimmer, wo Herr Hahrmann wieder vor dem Fenster saß.

„Wissen sie," meinte Frau Hahrmann, „mir ist unbegreiflich, warum er neuerdings immer vor dem Fenster sitzen will. Früher hat er es gehasst. Es geht auf den Pfarreigarten hinaus, und mein Mann ist überzeugter Atheist; zumindest seit der Gefangenschaft in Russland behauptet er es, auch wenn ich ...", ihre Worte verloren sich in ein gedankenschweres Schweigen. Dann räusperte sie sich. „Jedenfalls regte er sich schon beim Anblick eines Pfarrers auf, und nun sitzt er da und beobachtet ihn den ganzen Tag. Wenn ich ihn wegdrehen will, fängt er an zu schreien."

Ich nahm die Hand meines Patienten und rieb sie leicht.

„Hallo, Herr Hahrmann, ich drehe sie jetzt um, damit wir mit den Übungen beginnen können, okay?"

„N-nein, n-nein!" Trotz der nuschelnden Aussprache war die Entschlossenheit in seiner Stimme nicht zu überhören.

„Aber wir müssen doch- „

„N-nein!"

Ratlos sah ich Frau Hahrmann an, die in der Tür stand und die Achsel zuckte. Dann verschwand sie und ließ mich allein mit diesem Problem. Herr Hahrmann zitterte in seinem Rollstuhl vor sich hin, den Blick starr aus dem Fenster gerichtet, und murmelte wieder seine Litanei: „ ... der Junge ... er muss es sein ... Pfarrer Evander!"

Also ließ ich ihn erst einmal so sitzen und suchte Frau Hahrmann, die in der Küche am Tisch saß, die Ellbogen auf das Wachstuch gestützt, das Kinn schwer in der Hand. Ich ließ mich auf den Stuhl neben ihr fallen.

„Frau Hahrmann, hat ihr Mann vielleicht etwas beobachtet dort drüben in dem Garten, etwas, das ihn aufgeregt hat?"

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Er redet nicht mit mir."

„Er kann ja auch kaum zusammenhängend reden. Aber er murmelt die ganze Zeit etwas von einem Jungen und dem Pfarrer Evander, der es gewesen sein muss. Wissen sie wirklich nicht, was dahinter steckt?"

Sie schüttelte wieder den Kopf und fuhr mit dem Finger eine Linie auf dem Wachstuch nach. Auf und ab rieb sie den Finger über das Tuch, mit leisem Fiepen. „Ich weiß nichts, nichts weiß ich."

Ich ging zurück in das Wohnzimmer, wo sich mir ein unverändertes Bild bot. Meine Versuche, Herrn Hahrmann eine zusammenhängende Schilderung zu entlocken, brachten keinen größeren Erfolg als dass er einmal „widernatürliche Sünde!" hervorstieß. Plötzlich spannte sich sein Körper, und sein Hals wurde starr. Zunächst befürchtete ich einen weiteren Schlaganfall, aber dann blickte ich zum Fenster hinaus und sah dort hinter der Pforte des Pfarreigartens den Pfarrer und Johannes miteinander reden. Die beiden standen unter einer großen Platane, und der Pfarrer redete eindringlich auf den Jungen ein, der nur immer wieder den Kopf schüttelte. Schließlich griff der Geistliche in seine Soutane und zog den großen, braunen Umschlag hervor, den ich am Vortag in Johannes Händen gesehen hatte. Dessen blonde Locken flogen in wilder Ablehnung um das zarte Köpfchen. Mir schwante Böses. Der Pfarrer packte den Jungen an den Schultern und schüttelte ihn. Dann presste er ihm den Umschlag in die Hand, drehte ihn um und gab ihm einen leichten Schubs, nach dem der Kleine davon rannte. Schließlich blickte der Pfarrer sich noch einmal um und hastete dann durch den Hintereingang der Pfarrei. Neben mir hörte ich stakkatoartig: „ ... der Junge ... er muss es sein ... Pfarrer Evander!"

Ich war mir nicht ganz sicher, Zeuge welcher Vorgänge ich da eben geworden war. In dem Umschlag musste etwas stecken, dass Johannes Angst machte, und dem Pfarrer wohl auch. Seit das Kind mit dem Umschlag die Wohnung verlassen hatte, benahm mein Patient sich äusserst merkwürdig. Da musste ein Zusammenhang bestehen. Was murmelte er noch gleich immer? Etwas von „dem Jungen" und „dem Pfarrer" und „Schuld". Musste denn der Umschlag noch immer den selben Inhalt haben wie gestern? Was, wenn Fotos drin gewesen waren, die nun der Pfarrer in seinem Besitz hatte, und was, wenn nun Geld in dem Umschlag wäre? Schweigegeld, damit die Schuld, die der Pfarrer auf sich geladen hatte, nicht ans Tageslicht käme?

Was konnte ich nur tun? Beweise hatte ich nicht wirklich. Frau Hahrmann bot mir noch einen Kaffee an, den ich gerne nahm, aber sie wusste auch nicht mehr als ich. Also verabschiedete ich mich nach einer weiteren Viertelstunde, noch immer unschlüssig, wie ich nun mit dieser Situation umgehen sollte. Da klingelte es an der Haustür. Johannes hatte den Weg vom Pfarrgarten hierher geschafft. In der Hand hielt er den Umschlag, und er starrte mich aus verweinten Augen ängstlich an. Seine Großmutter sagte mir hastig lebewohl und warf mich beinahe aus der Wohnung. Ich war nun sicher, dass hier etwas Schlimmes vorging.

Einige Minuten stand ich unschlüssig vor dem Haus. Dann schellte ich, ein Mal, zwei Mal, schließlich ununterbrochen. Nichts tat sich. Also schlich ich vorsichtig um das Haus herum, durch den Garten auf die Terasse. Dort angekommen, spähte ich durch das offene Fenster ins Wohnzimmer. Herr Hahrmann war in den Raum gedreht und saß vor seinem Enkel, der zusammengesunken auf einem Stuhl kauerte. Auf der Kante des großen Sessels hockte steif Frau Hahrmann, vor ihr auf dem Boden der braune Umschlag. In den Händen hielt sie eine schwarze Kladde, in Leder eingebunden, aus der sie stockend vorlas.

„08. August 1948

Der Hunger wird immer schlimmer. Ich kann an nichts anderes mehr denken als an Fleisch. Fettiges Fleisch. Ein Stück Rindfleisch, Schwein, Huhn, irgendetwas. Es beherrscht meine Gedanken. Wir bekommen jeden Morgen eine Tasse mit heißem Wasser, einen Kanten hartes Schwarzbrot, und am Abend Wassersuppe mit ein wenig Kohl drin. Das ist zuwenig, besonders bei der harten Arbeit, die wir leisten müssen. Der Stift gleitet mir aus den Händen ...

10.August 1948

Sibirien – einst wollte ich mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren, es war ein Jugendtraum. Wer hätte ahnen können, dass Gott, dessen Existenz ich immer mehr bezweifle, mir diesen Wunsch auf so zynische Weise erfüllen würde?

13. August 1948

Wir haben einen Plan. Simon, der Junge des Kompaniepfarrers, ist krank. Er hat sich beim Graben im Bergwerk verletzt, und nun hat er Fieber. Die Entzündung hat bisher nur den Fuß erfasst.

15. August 1948

Simon ist tot. Die Wachen haben nichts bemerkt. Sie zählen uns nicht mehr. Wir haben in unserer Ecke eine Grube ausgehoben und dort ein kleines Feuer entfacht. Angezogen vom Geruch kamen die anderen Häftlinge angekrochen, aber wir haben sie vertrieben. Wir müssen überleben. Wir alle haben Frauen zuhause. Meine Martha ... sie erwartet ein Kind von mir, und nun ... nun, ich werde leben. Ich werde entkommen und zu meiner Familie zurückkehren. Wie auch immer. Ich bin zu allem bereit. Es ist Zeit aufzuhören, es ist Essensausgabe. Martha, ich liebe dich, möge ein Gott, der für mich nicht mehr zuständig sein kann, dich segnen. Ich habe die Pforte zum Garten Eden für mich auf ewig verschlossen."

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
Dieser Text enthält 11686 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.