Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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September 2002
Schmiergeld
von Dirk-Uwe Becker


Schritte auf dem Flur und das Klirren eines Schlüsselbundes.

„Verdammt, der Hausmeister. Mach die Kippe aus!"

Thomas hörte Mikes leise geflüsterte Warnung durch die dünne Trennwand. Zum Glück stand neben der Toilette ein Eimer. Nichts wie rein mit der Kippe und sich mucksmäuschenstill verhalten.

Die Schritte näherten sich, verhielten, ein Schlüssel knirschte im Schloss, eine Tür wurde aufgezogen, zwei Schritte, dann wurde die Tür wieder zugezogen und die Schritte entfernten sich.

„Puh – noch einmal Glück gehabt. Komm, es hat gerade geläutet. Lass uns von hier verschwinden. Außerdem stinkt der ganze Raum nach frischer Farbe!"

„Bin eh fertig. War meine letzte Zigarette."

Fröhlich pfeifend ging Hans die Strasse entlang. Keine Schule mehr, jedenfalls nicht für heute. In der zweiten Nachmittagsstunde hatte es einen Heidenspektakel gegeben. Die Feuerwehr kam angerast, weil der Hausmeister den roten Alarmknopf gedrückt hatte, vor dem alle Kinder immer gewarnt worden waren. „Die ist nur für den Notfall, wenn es richtig brennt", hatte der Rektor vor der ganzen Klasse gesagt. Jetzt hatte es richtig gebrannt, denn warum hätte sonst der Hausmeister die Warnung des Rektors in den Wind schlagen sollen? Von seinem Platz aus konnte Hans nicht in den Hof blicken, auch nicht, als versuchte, mit dem Stuhl etwas näher ans Fenster zu kippeln. Aber dann war der Rektor höchstpersönlich im Klassenraum erschienen und hatte gesagt: „Wir machen eine kleine Notfallübung. Verlasst bitte mit eurer Lehrerin geordnet zu zweit nebeneinander die Schule und sammelt euch im hinteren Teil des Schulhofes." Das war ein Spaß. Alle stürmten zur Tür, die Jungen zuerst, weil die Mädchen unbedingt noch ihre Taschen mitnehmen mussten. Auf den Fluren herrschte dichtes Gedrängel. In mehr oder weniger geordneter Zweierreihe glitt ein Kinderbandwurm aus dem weit geöffneten Schulportal. Die Lehrer führten die einzelnen Klassen zu den jeweils angewiesenen Sammelplätzen. Hans stutzte. Ein Feuerwehrauto stand in der Nähe des Toilettenhäuschens, und die Männer waren gerade dabei, dicke Schläuche auszurollen. Das war neu an dieser Übung. Durch das Getuschel der anderen Kinder vernahm Hans, dass ein Teil der Toiletten in Flammen standen. Da hatte der Rektor doch gelogen. Traue nie einem Erwachsenen, schon gar nicht einem Lehrer, war der Lieblingsspruch seines Freundes Stefan. In der Liste der besten Lügner aller Zeiten würde Hans dem Rektor den ersten Platz zuerkennen. „Wer hat denn da so ’ne heiße Pisse gehabt?", hörte er einen älteren Schüler belustigt fragen. Hans wusste auch nicht, warum gerade in der Toilette ein Feuer ausbrechen sollte. Da war doch immer alles nass und voll gepinkelt. Schade, dachte er, dass nur die Toiletten brennen und nicht die ganze Schule.

Da seine Mutter nicht vor 17 Uhr mit ihm rechnete, wollte Hans sie auch nicht unnötig erschrecken und beschloss, die freie Zeit gut für einen Besuch der Baumhütte hinter dem Spielplatz zu nutzen. Mit Stefan, seinem Freund aus der Parallelklasse, hatte er sich noch auf dem Schulhof verabredet. Etwa zwei Meter über dem Boden, in die Astgabel einer schrägen Eiche eingekeilt, erhob sich ein windschiefe Verschlag aus alten Palettenbrettern trutzig über das Buschwerk - ihr Versteck. Sie hatten es verlassen vorgefunden und der Finder darf eine Fundsache behalten, wenn sich der Besitzer nicht meldet. So hatte es Hans‘ Vater einmal Hans‘ Mutter erzählt, nachdem er das Geld aus einer auf dem Gehweg liegenden Brieftasche genommen und diese in einen nahebei stehenden Postkasten geworfen hatte. Warum sein Vater die Geldbörse in den Postkarten tat, dazu noch ohne Briefmarke, hatte Hans nicht verstanden. Aber es war gut, dass sein Vater vorher das Geld heraus genommen hatte, denn wer weiß, was damit auf dem Postwege sonst noch alles passiert wäre.

Stefan wartete bereits. „Huch, war unsere Lehrerin heute ätzend", keuchte Hans, als er den Baumstamm hinauf geklettert und sich in die Baumhütte gezwängt hatte. „Die ausgefallenen Stunden sollen nachgeholt werden, hat sie uns gesagt, bevor wir das Schulgelände verlassen durften." Stefan pflichtete ihm bei. Er verstand sowieso nicht, warum man mit sechs Jahren schon in die Schule musste, um Schreiben zu lernen, wo es doch Computer gab, die das von alleine konnten. Aber Erwachsene muss man nicht verstehen, hatte ihm mal sein größerer Bruder gesagt, man muss sie nur überleben. Dazu war Hans bereit. Hier in der Baumhütte probten sie das Überleben in einer von Erwachsenen dominierten Welt. Stefan hatte schon vor einiger Zeit etwas Zwieback, Schokokekse und ein paar Äpfel mitgebracht. Hans hatte aus der Küche seiner Mutter eine Packung Spaghetti, eine Dose Pfirsiche und ein Glas Rollmöpse beigesteuert. Allerdings überlegte er schon seit einiger Zeit, was da fehlen könnte. Richtig! Er hatte den Dosenöffner vergessen. Den würde er morgen besorgen. Die Kekse würden heute noch reichen. So zogen sich beide erst einmal in ihre Kuschelecke zurück, die aus einer zerfledderten Wolldecke und ein paar Federn lassenden Kissen bestand. Richtig urgemütlich war es hier, wie sie fanden.

Am liebsten erzählten sich Stefan und Hans Abenteuergeschichten. Einer gab den Titel vor, der andere musste sich dazu eine Geschichte ausdenken. Beide waren so vertieft in ihr Erzählspiel, dass sie nicht merkten, wie es Abend wurde.

Das Hupen eines vorbeifahrenden Autos schreckte Hans hoch. „Du, Stefan, es ist ja fast schon dunkel draußen."

Stefan stand auf und blickte aus dem einzigen Fenster ihrer Burg. „Du hast recht, Hans. Verdammt. Hoffentlich gibt das zu Hause keinen Ärger."

Hans drängte sich neben ihn und sah ebenfalls hinaus. Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden und hatte die Häuser der Stadtrandsiedlung in eine dunkle Wand verwandelt, an der vereinzelt Lichter aufblitzten. „Stefan, sieh mal." Hans zeigte aufgeregt mit der Hand nach rechts. „Da - ein Glühwürmchen."

„Ich sehe nichts", antwortete Stefan, der angestrengt in die Richtung schaute, die Hans ihm gewiesen hatte. Doch – da. Jetzt sah Stefan es auch. Ein schwaches Glimmen, manchmal etwas kräftiger, dann wieder schwächer. „Zwei", sagte er. „Es sind zwei Glühwürmchen."

„Ich habe noch nie Glühwürmchen von nahem gesehen", meinte Hans. „Komm, lass uns runter gehen und sie einfangen."

„Aber womit?"

Beide suchten in der Hütte nach einem passenden Gefäß.

„Hier!" Hans hielt triumphierend ein Glas hoch.

„Wo hast du das denn her?", fragte Stefan. Dann fiel sein Blick auf den von sechs Rollmöpse bedeckten Holzboden. „Igitt", entfuhr es ihm. „Die esse ich aber nicht mehr."

Hans sah ihn belustigt an. „Ich kann neue von zu Hause mitbringen. Meine Mutter merkt das nicht, bestimmt."

„Na gut", meinte Stefan. „dann auf zur Glühwürmchenjagd. Mach aber vorher noch ein paar Luftlöcher in den Deckel und sammle unterwegs etwas Gras ein."

Vorsichtig kletterten sie den Baumstamm hinunter und schlichen sich leise in die Richtung, aus der sie das Glühen wahrgenommen hatten. Hans rupfte unterwegs etwas Gras und tat es ins Glas. „Hier muss es sein", flüsterte Stefan leise in Hans Ohr. Vor ihnen leuchtete es auf einmal wieder dunkelrot auf. Sie schlichen noch näher heran. Dann hörten sie auf einmal Stimmen. „Glühwürmchen können doch gar nicht sprechen", sagte Hans verwundert. „Nein", antwortete Stefan, „nicht wirklich." Dann sahen sie, dass das Glühen immer kurze Kreise beschrieb, in die Höhe ging, hell aufleuchtete und wieder niedersank.

„Bist du sicher, dass uns hier niemand findet?", fragte eine Stimme.

„Klar", antwortete eine andere. „Dieser Platz ist ideal. Die Kinder sind ab 18 Uhr zu Hause und Erwachsene kommen hier nicht her." Das Glühen beschrieb einen Halbbogen in die Höhe und leuchtete grell auf. Ein zweites Glühen schien ihm folgen zu wollen, verhielt aber auf halber Höhe und sank wieder hinab.

Hans konnte jetzt erkennen, dass es sich um Zigaretten handeln musste. Die Gesichter der Raucher waren in der Dämmerung aber nicht genau zu erkennen.

„Und du meinst wirklich, dass uns niemand gesehen hat?", fragte die erste Stimme wieder.

Nach einem erneuten tiefen Zug an einer Zigarette kam die Antwort: „Jetzt mach dir bloß nicht in die Hose. Wir waren doch lange raus, bevor der Alarm losging."

„Aber ..." Die erste Stimme klang etwas unsicher.

„Nichts aber. Welches Pferd hat dich geritten, deinen Glimmstängel ausgerechnet in den Mülleimer werfen, als der Hausmeister plötzlich auftauchte?"

„Es musste doch schnell gehen. Konnte ich denn wissen, dass die Kids ihre Brötchentüten in den Eimer entsorgt haben und der daneben stehende Farbbehälter so gut brennt?"

Wieder glomm eine Zigarette auf. „Warum hast du sie nicht einfach die Toilette hinunter gespült? Aber egal. Passiert ist passiert. Hauptsache, uns kann niemand an den Kragen fassen. Sieh bloß zu, dass du dich ja nicht verplapperst!"

Hans beugte sich etwas vor, um besser sehen zu können und brach dabei mit seiner Handfläche einen trockenen Zweig. Das Knacken ließ ihn erstarren. Eine Taschenlampe leuchtete auf und traf ihn blendend ins Gesicht.

„Wen haben wir denn da?", fragte eine Stimme. „Los, aufstehen!"

Hans erhob sich. Stefan stand gleich mit auf, denn er war nahe dran, sich in die Hose zu machen. Im Stehen konnte das Malheur besser sein Bein hinunter laufen, fand er.

„Aha, die Kinder aus der Reihenhaussiedlung", fuhr die andere Stimme fort. „Was macht ihr noch so spät am Abend hier auf dem Gelände?"

„Wir..." Hans stotterte. „Wir dachten, Glühwürmchen gesehen zu haben und wollten sie einfangen", brachte er seinen Satz zu Ende.

„Ha – ha – Glühwürmchen, Thomas, wie originell." Die erste Stimme kicherte vor sich hin.

Stefan und Hans traten näher und konnten jetzt die Personen hinter den beiden Stimmen erkennen. Es waren Thomas und Mike aus der vierten Klasse, die aufgrund ihrer Größe und des Körperumfangs in der Schule als ‚Big Brothers’ bekannt waren.

„Dürft ihr schon rauchen?", fragte Hans verwundert.

„Blöde Frage", entgegnete Mike. „Musst du eigentlich nicht ins Bett?"

Hans schluckte und wagte dann die entscheidende Frage: „Das mit dem Brand im Toilettenhäuschen – das wart ihr?"

„Hey, da haben wir ja einen ganz Schlauen", pfiff Mike durch die Zähne. „Was habt ihr beide alles mit angehört?"

„Oh", Hans trat von einem Bein aufs andere, während Stefan die feuchte Wärme der langsam an seinem linken Bein herab laufenden Flüssigkeit wahrnahm.

„Eigentlich haben wir nicht viel gehört", wiegelte Hans ab. „Nicht wahr, Stefan, wir haben nichts gehört und nichts gesehen.", und dachte: ‚Das geht nicht gut. Die verprügeln uns bestimmt gleich.’

Thomas trat an die beiden heran. „Ihr werdet uns doch wohl nicht verpfeifen oder?"

Hans wurde rot, aber das konnte man zum Glück in der Dunkelheit nicht sehen. „Äh – nein. Bestimmt nicht", hörte er sich wie aus weiter Ferne antworten und schüttelte dazu kräftig den Kopf.

„Hier", Mike griff in seine Jackentasche und holte etwas golden glänzendes heraus. „Für euer Schweigen – Schmiergeld." Dabei lachte er kurz auf und gab Hans und Stefan je einen Beutel Schokoladen-Taler, die in Goldfolie eingewickelt waren. „Und nun seht zu, dass ihr von hier verschwindet und haltet euer Maul, wenn ihr keinen Ärger haben wollt!"

Stefan und Hans ließen sich das nicht zweimal sagen und gaben Fersengeld. So ganz geheuer war ihnen nicht zumute und das mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend legte sich erst, als sie völlig außer Atem die Häuserzeile der Siedlung erreicht hatten.

„Puh", meinte Stefan, „das ging gerade noch einmal gut. Statt uns mit Schokoladen-Talern abzuspeisen, hätten sie uns auch leicht verprügeln können."

Hans nickte. Das Glück war ihnen noch einmal hold gewesen. „Bis morgen dann", rief er Stefan zu, der schon in den Gang zu seinem Wohnblock eingebogen war.

„Alles klar", rief Stefan zurück. „Und gute Nacht."

„Wo kommst du denn jetzt her? Und was ist mit deinem Gesicht passiert?", fragte die Mutter, als sie Hans die Haustür öffnete. „Och, nichts weiter." Hans fuhr sich mit der Hand über den Mund und betrachtete das Ergebnis. „Das ist nur der Rest vom Schmiergeld", meinte er verschmitzt. „Du – in der Schule war einiges los. Lass dir mal erzählen …"



Dirk Becker 2002

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